Claas Clemens

Joussuf

Endlich Urlaub, alle täglichen beruflichen Sorgen konnten weggeschoben werden! Ich wollte auch diesen Tag bewusst mit allen Sinnen genießen, ließ meine Freunde im Hotel zurück und wanderte durch Agadir. Die mir fremde Flora erinnerte mich immer wieder daran: Urlaub.
Etwas strich meinen Arm, es streichelte, ich schaute zur Seite. Ein Kind hielt den Arm nun fest, da es meine Aufmerksamkeit gespürt hatte. "Einen Dirham, mein Herr!" "Einen Dirham", bettelte es. Schon wieder eins dieser Kinder, die uns Mitteleuropäer außer Fassung zu setzen vermögen. Wie sollte ich seinem Drängen begegnen? Würde ich ihm mit einem Dirham (etwa 10 Cent) helfen, oder würde ich gerade durch den Dirham das Kind darin bestärken, weiter zu betteln? Bisher hatte ich mich gegen all diese Versuche von Bettelei innerlich abgeschottet.
Eine Geschichte von Rilke kam mir in den Sinn. Sie handelt von einer Bettlerin, die an ihrem Platz steht und jedes Almosen, das ihr zugesteckt wird, ohne körperliche Regung vereinnahmt, bis jemand ihr eine Rose in die bettelnde Hand legt und sie zu einer neuen Reaktion zwingt.
"Was willst Du mit dem Geld?" fragte ich den Jungen mit ein paar Brocken meiner Französischkenntnisse. -"Ich habe Hunger." Kurz entschlossen nahm ich den Jungen bei der Hand und zog ihn zum nächsten Restaurant. Nein, ich könne solche verwahrlosten Kinder nicht auf die Terrasse führen, um ihnen zu essen zu geben, wurde mir beschieden. Ich solle ihnen nur ja auch kein Geld geben, sie würden nur Klebstoffe dafür kaufen und schnüffeln. Erneut zog ich das Kind am Arm, diesmal zu einem Kiosk, an dem ich kurz vor der Begegnung vorbeispaziert war. Dort wurden Sandwichs angeboten. Ich bestellte, während das Kind mir fassungslos zuschaute, erhielt eine lange Baguettestange aufs Vielfältigste gefüllt und überreichte sie die angeblich Hungrigen. "Danke, mein Herr, vielen Dank." Sagte die Stimme neben mir, der Junge drückte meine Hand fest und schaute mir in die Augen. Ich drehte mich und versuchte meine Urlaubsgedanken zurückzugewinnen. Aber der Blick schien mich noch jetzt festzuhalten.
Der Weg zurück ins Hotel genügte allerdings, um mich wieder auf normale Touristengefühle umzuprogrammieren.
Abends promenierte unsere lockere Urlaubsgemeinschaft die Strandpromenade hinab. Plötzlich stand das Kind wieder vor uns. "Einen Dirham, bitte, einen Dirham!" Es ging von Gruppenmitglied zu Gruppenmitglied, blieb dann vor mir stehen, seine Augen leuchteten im Moment des Widererkennens, und es grüßte mich. Wir gingen alle vorbei, ohne auf das Betteln einzugehen. Doch der Blick des Kindes beeindruckte mich aufs Neue so sehr, dass ich den Ärger vergaß, dass das zum Preis von vielen Dirham gesättigte Kind mich erneut anbettelte.
An den nächsten Tagen wanderten meine Gedanken häufiger zu der Stelle, an der ich das Kind zweimal getroffen hatte. Meine Füße begannen hinter den Gedanken herzuwandern, wenn ich allein promenierte. Die Stelle unseres Treffens blieb jedoch verwaist. Erst einige Tage später war es das Kind, das mich diesmal freudig begrüßte, nicht ohne mich erneut anzubetteln. Ich hatte einige Tage zuvor einen McDonalds ähnlichen Laden entdeckt. Dorthin zog ich das Kind mit. Unterwegs erfragte ich seinen Namen. Es stellte sich als Joussuf vor, sei 8 Jahre alt, seine Eltern lebten in der Vorstadt, es lebe hier von Betteleien.
Joussuf genoss es sichtlich, in diesem "Jackson Burger" Gast zu sein. Er freute sich sichtlich über das Kinderarrangement des Gedeckes mit dem kleinen Geschenk, einem Plastikfigürchen. Welcher Kontrast lag zwischen dieser kindlichen Freude und der erwachsenengleichen Sorge um Fristung seines Lebensunterhaltes. Joussuf verschwand vor Einnahme seiner Mahlzeit zum Händewaschen und sammelte damit bei mir einen weiteren Pluspunkt. Das Essen schaffte er nicht ganz, packte aber die Reste sorgfältig in eine Serviette, was mich zuletzt von der Ernsthaftigkeit seines Hungers überzeugte. Wir schieden nicht voneinander ohne seinen tiefen Blick und das von ihm eigenartig betonte "Merci, Monsieur!"
Am folgenden Tag saß unser Freundeskreis gemeinsam auf einer Terrasse der Strandpromenade, wir palaverten, lauschten einem karibischen Sänger. Die letzten Ausgaben hatten meine Prognose überschritten. Also verabschiedete ich mich in Richtung Geldautomat. Unterwegs bettelte sich Joussuf wieder an mich heran. Der Geldautomat stand in einträchtiger Nachbarschaft des Jackson Burger und bei meinen Ausgaben kam es nicht auf einen zusätzlichen Hamburger an. Ich spendierte das Abendessen, eilte aber sogleich zu der Terrasse mit dem karibischen Sänger zurück, froh, dass ich nun meine Getränke ohne Pump bezahlen konnte. Wenig später stieß mich meine Nachbarin an. "Schau dir den tanzenden Jungen an!"
Joussuf tanzte mit geschmeidigen Drehungen, eine Vorstellung, die bühnenreif war. Diese Anmut, diese Dynamik stand in solchem Kontrast zu der Mimik des bettelnden Jungen, dass ich einen Moment die Fassung verlor. Ich war sicher, dass Joussuf, der zwischen seinen Schritten und Sprüngen die Hand zum Gruß erhob, für mich tanzte. Ich freute mich sehr, erschauerte aber in gleichem Maße über die Situation. Hier saßen wir Europäer vor Getränken, von denen eines mehr kostete als Joussuf durch sein Mühen am Tag einnahm. Hinter der Absperrung tanzte Joussuf, dem der Zugang zu der Terrasse im eigenen Land verwehrt war.
Nach seiner Galavorstellung wechselte der Junge auf die andere Straßenseite, verbarg sich zwischen den Büschen und einer Mauer, um plötzlich wie weiland bei mir neben seiner "Kundschaft" aufzutauchen und seinen täglichen Schnitt zu erreichen. In den Pausen setzte er sich auf die Mauer an der Seite der Straße, lauschte dem karibischen Sänger. Als er sah, dass meine Schultern sich im Rhythmus mitbewegten, begannen auch seine Schultern wieder mitzutanzen. Unsere Schultern bewegten sich im gleichen Takt. Meine tanzten auf der Sonnenseite in Joussufs Land, seine auf der armen Seite jenseits der Auspuffgase der katalysatorlosen Wagen. Seine tanzten in einem Lande, das ihm den Zugang zu dem Restaurant verwehrte, das Ausländern vorbehalten blieb. Wir tanzten nach gleichem Rhythmus, doch eine tiefe, fast unüberbrückbare Schlucht trennte uns.
Ich spürte die große Kluft tiefer Freude und großen Bedauerns. Ob das Kind sie ebenso bewusst erlebte?
Inzwischen hatten auch meine Freunde die außergewöhnliche Brücke zu dem Jungen wahrgenommen. Ich erzählte von unseren Begegnungen. Einer aus der Gruppe war selbst Marokkaner, besaß im Ruhrgebiet eine Diskothek. Es lohne sich nicht, sich mit dem Schicksal dieser Kinder zu befassen, dazu gebe es in Marokko zu viele, meinte er. Ich bat ihn dennoch, Joussuf einmal in arabischer Sprache zu befragen. Wenngleich ich mich mit einem Franzosen gut verständigen konnte, mochten doch zwischen dem Sprachvermögen eines marokkanischen Kindes und meinen Französischkenntnissen Barrieren herrschen.
In den nächsten Tagen war Joussuf leider nicht zu finden.
Meine Frau hatte mir aufgezwungen, mich endlich von einigen T-Shirts und anderen Kleidungsstücken zu trennen, die mehr als ein Jahrzehnt in Benutzung standen. Als ich den marokkanischen Jungen nach einigen Tagen wieder sah, fragte ich, ob er alte Kleidung gebrauchen könne. Sein spontanes Ja erleichterte meine Trennung von den lieb gewonnenen Shirts und Shorts. Ich ging erfreut zu unserem Hotel, nahm den aufgestapelten Beutel alter Wäsche und fand darunter einen von der Fluggesellschaft gesponserten aufblasbaren Wasserball. Der würde Joussuf garantiert freuen. Also kam er zu der Wäsche in die Tüte. Ich eilte vor das Hotel, wo der Junge schon auf mich wartete. Freudig nahm er die Tüte entgegen überflog, was ich eingepackt hatte und was schon längst dem Aufräumen meiner Frau zum Opfer gefallen wäre, hätte ich es nicht verteidigt. "Unten drin ist noch ein Ball."
In unserem Zimmer angekommen freute ich mich ein weiteres Mal, dass wir das allerhöchste Zimmer des Hotels gewählt hatten. Die gute Rundumsicht erlaubte mir, Joussuf zu beobachten. Er kramte in der Tasche umher, zog den Ball heraus, blies ihn auf. Dann begann er zwischen den Beeten des Hotelvorplatzes den Ball auf seinem Fuß tanzen zu lassen, schoss ihn gegen eine Bank, jonglierte wieder. Joussuf wurde zu einem Kind, wie man es überall auf der Welt finden kann, wenn man einen Ball hergibt.
Es war mir, als habe ich das Kind in Joussuf wieder hervorgeholt. Doch mein Stolz darüber währte nur solange, bis ich zu grübeln begann, ob er sich denn diese Spielereien leisten könne. War das nicht genau die Stunde, in der er bei den Touristen das meiste Geld verdienen konnte. Hatte ich mit meiner Gabe seinen Tagesverdienst erheblich geschmälert, weil das Kind über den Ball die Zeit vergaß?
Zwei Tage später hatte ich endlich die Gelegenheit Joussuf durch den in Deutschland lebenden marokkanischen Diskobesitzer zu befragen. Tatsächlich ließ man sich in unserer Bar, die wir nur wegen des guten Sängers frequentierten, dazu herab, den Jungen an unserem Tisch auf der Terrasse sitzen zu lassen. Joussuf erzählte unserem Freund, der übersetzte uns. Joussuf war wohl doch schon 11 Jahre alt, lebte in den Slams, wo sein Vater als Wasserträger arbeitete. Die Schule hatte er abgebrochen. Während des Sommers lebte er in Agadir, bettelte, suchte ein- bis zweihundert Dirham zu verdienen, die er im Herbst dann seinen Eltern mitbringen musste. Im Winter blieb er zuhause. In Agadir schliefe er in der Strandbar eines großen Hotels, wo ein Nachtwächter gegen ein geringes Entgelt Kartons als Betten und einige Zeitungen als Decken zur Verfügung stellte. Der Nachtwächter, sowie andere "einflussreiche" Personen wie der Parkwächter an dem Straßenabschnitt, an dem Joussuf arbeitete (bettelte), profitierten also von Joussufs Bettelei.
Die Kleidungsstücke, die ich ausrangiert hatte, wollte Joussuf seinem älteren Bruder mitbringen.
Zuletzt sammelten wir für Joussuf etwas Kleingeld. Mit welchem Glück der Junge davonging! Es muss wie ein Weihnachtstag für ihn gewesen sein. Aber meine Urlaubsbekanntschaften waren auch von dem kindlichen Erwachsenen beeindruckt. "Ich schwöre", meinte Joussufs Landsmann, der nun die Diskothek in Deutschland führte, "jeden Monat 50 Euro zu geben, wenn ich wüsste, dass dieser Junge irgendwo unterkommen könne."
Meine Frau hatte der Geruch des Jungen gestört. Am nächsten Nachmittag, unserem letzten vor der Abfahrt, wollte sie ihm unser Hotelzimmer zur Verfügung stellen, wo er in Ruhe hätte duschen können, während sie seine Sachen waschen konnte. Doch im Hotel gab es für den kleinen Marokkaner keinen Eintritt. So sammelten wir zuletzt unsere Shampoo- und Seifenreste und andere Utensilien, die wir nicht unbedingt zurück nach Deutschland nehmen wollten. Eine Frau wollte sich von zwei Paar Schuhen trennen. Sie legte sie in eine Plastiktüte und der Diskobesitzer vertraute sie dem Parkwächter an, bat ihn, sie Joussuf weiterzugeben. Dies erfuhr ich, als wir uns am letzten Abend in der Bar mit dem karibischen Sänger trafen. Ich wartete gespannt auf die Ankunft von Joussuf und teilte ihm sofort die Neuigkeit mit. Er eilte sofort zum Parkwächter. Doch der Parkwächter wollte die Schuhe nicht herausrücken, hatte sie als seine Provision vereinnahmt.
Vielleicht konnte Joussuf nun etwas länger an seiner Bettelstelle stehen. Schließlich hatten wir ihm gemeinsam wieder ein Paar für Joussuf abgerungen. Doch während des Abends, der für uns im Zeichen der Trennung und des Urlaubendes stand, bedrohte der Parkwächter mehrfach Joussuf von seinem Platz auszuschließen, wenn er ihm nicht die Schuhe zu einem von ihm bestimmten Spottpreis verkaufen würde.
Dieser Abschiedsabend stimmte in doppelter Weise traurig. Joussuf standen beim Abschied Tränen in den Augen, auch bei einigen von uns schimmerte es feucht.
Ich nahm mir vor, von zuhause etwas für das Kind zu tun. Dort angekommen schrieb ich einen Brief an die Stadtverwaltung von Agadir, in dem ich anbot, für eine Unterbringung des Kindes an einem Ort der Wahl der Stadtverwaltung aufzukommen.
Ich erhielt leider keine Antwort.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.02.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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