Luki K

Natasha

 


Er hatte noch nie so intensiv geliebt.

Tom bog in die Seestrasse ein. Das leichte Rot, welches hinter dem Moosberg zu versinken begann, liess ihn schmunzeln. Wie sentimental er doch war.

Die letzten Sonnenstrahlen des warmen Apriltages trafen auf seinen silbernen Wagen, einen fast zwanzigjährigen Mercedes. Er griff mit der rechten Hand zur Sonnenbrille, die im unteren Handschuhfach lag, während er das Lenkrad mit der linken Hand weiterhin umgriff. Souverän klappte er den Sonnenschutz auf und setzte sich die Ray-Ban auf die Nase. Tom fuhr westwärts, dem still vor sich hin ruhenden Untertalersee entlang. Nach Hause.

Noch bevor er das Schild 'Ende der Fünfzigerzone' passiert hatte, erhöhte er das Tempo - kräftig drückte er auf das Gaspedal. Er liebt die Geschwindigkeit und das schnelle Tempo. Tom betätigte flink den Knopf links am Türgriff, damit sich die Scheibe auf seiner Seite automatisch senkte. Frische Luft strömte in das Auto. Er roch kürzlich gemähtes Gras und erfreute sich daran. Lässig strich er danach einige Haare vom Sonnenbrillenglas weg, welche sich dorthin verirrt hatten.

Es war eine herrliche Woche gewesen. Täglich zeigte das Thermometer 20 Grad und mehr an und auch für das bevorstehende Wochenende versprach der Wetterbericht Frühlingstemperaturen. Tom zupfte kurz den Kragen seines weiss-grün karierten Hemdes zurecht.

Sogleich roch er sie erneut. Urplötzlich war Natashas Duft wiederum in seine Nase gestiegen. In Gedanken war Tom bereits die ganze Fahrt über bei ihr gewesen und nun kam auch noch der sanfte Duft von Rosenblüten und Kokosnuss hinzu, der immer noch an ihm haftete. Das Potpourri der Düfte und Gedanken liessen ihn für einen kurzen Augenblick in Erinnerung an den heutigen Nachmittag schwelgen.

Ja, er war verliebt. Definitiv, unwiderruflich und hemmungslos. Noch immer. Und jeden Tag noch intensiver und immer wieder auf eine andere, spannende Art und Weise. Während er rassig dem Untertalersee entlang fuhr und den romantischen Donnerstagnachmittag Revue passieren liess, fühlte er sich entfesselt. Wenn er seinen Kumpel von Natasha vorschwärmte, konnte er schlicht weg nicht mit Worten beschreiben, was ihm mit dieser bezaubernden Frau widerfahren ist. Tom hatte sich noch nie so schwerelos gefühlt, so lebendig und rundum glücklich. Er hatte schon viele Beziehungen gehabt, doch alle zerbrachen nach kurzer Dauer. Was nun zwischen ihm und Natasha geschehen ist und immer noch täglich aufs Neue geschieht, war einfach etwas Besonderes. Heute vor einem Jahr waren sie zusammengekommen.

Er war nicht immer so glücklich. Tom wurde seit gut fünf Jahren von Migräneanfällen geplagt. Die ätzenden Schmerzen, die immer mit einem Zucken an seiner Schläfe begannen, trieben ihn jedes Mal fast zur Weissglut und belasteten ihn stark. Erstaunlicherweise waren die monotonen Kopfschmerzen, je länger er Natasha kannte, immer seltener geworden. Und genau seit jenem Tag vor einem Jahr, als sie sich zum ersten Mal geküsst hatten, verschwand die Migräne gänzlich und bereitete ihm seit jeher keine Schmerzen mehr. Yannik, sein bester Freund und im fünften Semester als Arzt studierend, konnte sich dieses Verschwinden der Kopfschmerzen aufgrund einer Frau zwar nicht erklären, meinte Tom gegenüber aber, dass es halt effektiv nichts geben würde, was es nicht gäbe.

Nebst dem Grund, dass Natasha seine Kopfschmerzen weggezaubert hatte, waren da natürlich noch all die anderen Besonderheiten, warum er sie so liebte: Ihr stets verträumt wirkendes Lächeln, die neckischen Albereien, Natashas Lieblingsparfum, ihre Klugheit und die abgewogene Portion Skepsis, ihr Bami Goreng…

Seine Lieblingskurve auf dieser Strecke passierte Tom heute noch schwungvoller. Er dachte während der Weiterfahrt an ihre Hüfte, den warmen Busen und ihre kleine, fast nicht vorhandene Zahnlücke. An Rosenblüten und Kokosnuss. An ihren wolligen, leicht geöffneten Mund, als sie heute auf seinem Schoss gesessen hatte und er sie berührte. Ich will sie für immer halten, dachte er.

Sie ist das gescheite Mädchen, von dem seine Mutter als Schwiegertochter immer geträumt hatte. Das humorvolle, feenhafte Wesen, das sein Vater sofort ins Herz geschlossen hatte, damals, an seinem 57. Geburtstag, als Tom ihm seine neue Freundin vorgestellt hatte. Sie ist die Bombe, die sich mit ihrer offenen Art einen festen Platz in den Herzen seiner Freunde erobert hatte. Sie ist… perfekt.

Der nächste Titel, welcher von seinem iPod gespielt wurde - Tom hatte die Zufallswiedergabe angewählt - war New York New York und wurde vom Plug-In-Stecker direkt zu der Lautsprecheranlage des Wagens weitergeleitet. Tom lachte laut auf. Erst gerade vor vier Tagen haben Natasha und er beschlossen, im kommenden Herbst für zwei Wochen nach Amerika zu fliegen. Er sang laut mit und fühlte sich gut.

Als er an der Moosbrücke vorbeifuhr und Frank Sinatra zum letzten Refrain ansetzte, geschah es. Und Tom verstand das leicht entschuldigende Lächeln von Natashabeim heutigen Verabschieden. Zum ersten Mal seit zwölf Monaten begann das altbekannte Zucken an seiner linken Schläfe.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.06.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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