Angelika Vitanza-Lima

Das Kastanienblatt

Ein grauer Morgen - der Herbst zeigt seine dunkle Seite. Schwere Nebelschwaden ziehen durch den Park, halten alles Leben davon ab, ihn aufzusuchen. Es wollte sich wehren, doch die niederdrückende Feuchte hat ihm den Rest gegeben. Wie gerne wäre es noch an dem Zweig dieser mächtigen Kastanie verblieben! Doch alles geht irgendwann vorüber, und nun ist die Zeit des Abschiednehmens gekommen. Noch erstrahlt es im herrlichsten Grün-Gelb-Rot, selbst jetzt in dieser Dämmerung. Wie sehnt es sich zurück an diesen Ort, von wo aus man die Welt beobachten kann, obgleich es sich ja nur um einen kleinen Teil dieser Welt handeln muss. Nicht groß in geometrischem Umfang, doch groß an Volumen. Was hat sich hier nicht alles zugetragen! Welch großes Maß an Leben findet hier statt, auf dieser Bank unter dem prächtigen Kastanienbaum. Wie sehr wird es dieses Leben vermissen!

Den einsamen Obdachlosen, den mit den vielen Plastiktüten, in denen er immer sein gesamtes Hab und Gut mit sich trägt. Sein Gesicht ist gerötet und aufgedunsen, sein Haar verfilzt, sein Körper ausgemergelt. Seine zitternde Hand führt stets mit scheinbar letzter Kraft die Flasche zum noch mehr zitternden Mund. Er hat ihnen viel erzählt, dieser Obdachlose. Von seiner Frau, die ihn betrogen und verlassen, von den Kindern, die sie ihm genommen hat. Was zählt da das schöne Haus, in dem sie gelebt haben? Was der schicke Wagen? Er konnte seinen Beruf nicht mehr ausüben, wurde zum Versager, von der Gesellschaft verbannt. Seine einzige Freude, diese Bank unter der Kastanie, wo er nach seinem ziellosen Herumirren stets auszuruhen pflegt und immer wieder sein Leben herunterschluckt. Oft gesellen sich weitere Kumpels zu ihm, und sie teilen, was sie gerade besitzen.

Auch die schwarzgekleidete Frau, die jeden Sonntagmorgen nach dem Kirchgang, hierher kommt, wird ihm fehlen. Ihre wunderschönen Geschichten über das Leben mit ihrem verstorbenen Mann, mit dem sie wohl früher oft hier gesessen und das bunte Treiben im Park beobachtet hat. Wie sehr hatten sie sich ein Kind gewünscht, eines, das genauso munter nach Kastanien suchen würde, wie die Kinder, die es hier alljährlich tun. Doch dieser Wunsch blieb ihnen verwehrt. So saßen sie beieinander, ohne ein Wort zu sprechen und sich doch verstehend, und schauten den spielenden Kindern zu. Und nach einer Weile waren sie immer glücklich, Hand in Hand, nach Hause gegangen. Auch jetzt geht sie immer glücklich nach Hause, wenn sie eine zeitlang hier gesessen hat. Wenn auch der Weg sie nun allein zurückführt.

Einmal hatte sich eine junge Frau hier hingesetzt. Stundenlang rührte sie sich nicht vom Fleck. Hin und wieder hörte man ein leises Schluchzen. Sie musste viele Tränen geweint haben, sie benutzte nicht einmal ein Taschentuch, schien es nicht zu bemerken, dass ihr Gesicht ganz nass war. Irgendwann kam ein junger Mann daher, Erleichterung stand ihm im Gesicht geschrieben. Er sprach sie an, sie reagierte erst nicht, wohl von Tränen blind, aus lauter Herzeleid taub. Als sie ihn erkannte, stand sie endlich auf. Er breitete die Arme aus, und der letzte Rest von Kummer schien aus ihr herauszubrechen. Er hielt sie ganz fest umschlungen, weinte ein bisschen mit ihr. Dann küssten sie sich und gingen gemeinsam fort, schweigend, aber scheinbar von einer großen Last befreit.

Auch wird es den Anblick des kleinen Jungen nicht vergessen. Er hatte Kastanien gesammelt und dabei auf seine Mutter, die zuvor noch in seiner Nähe gewesen war, nicht mehr geachtet. Nun konnte er sie nirgendwo mehr sehen. Er lief hin und her, geriet in Panik. Die Kastanien hatte er längst achtlos zu Boden fallen lassen. Er begann, jämmerlich zu weinen, wusste sich nicht mehr zu helfen. Setzte sich völlig verzweifelt auf die Bank. Seine Welt war zusammengebrochen. Wo war sie nur, seine geliebte Mama, der ständige Schatten, der beschützend hinter ihm zu sein pflegte? Sein Weinen wurde immer kläglicher, vorübergehende Leute schauten in seine Richtung. Doch eher verärgert als mitleidig. Niemand kümmerte sich um das verzweifelte Kind. Endlich entdeckte es seine verloren geglaubte Mutter, und diese drückte ihren kleinen Jungen zärtlich an ihre Brust. Die Welt war wieder in Ordnung! Wozu brauchte man da noch Kastanien?

Am traurigsten war der Tag, an dem das ungleiche Paar auf der Bank Platz genommen hatte. Sie, viel jünger als er, flehte ihn an, ihr etwas zu geben. Er ließ sie zappeln, weidete sich an ihrer Jämmerlichkeit, ließ sie sich noch mehr erniedrigen. Er schien nicht genug davon zu bekommen. Als er sie soweit hatte, wie er sie haben wollte, rückte er mit dem heraus, worum sie gebettelt hatte. Ein winziges Tütchen mit weißem Pulver. Gierig streckte sie ihre Hand danach aus, doch er stellte ihr noch eine Bedingung. Sie nickte, und er händigte ihr das für sie so begehrenswerte Etwas aus. Willenlos ließ sie sich von ihm fortzerren, zum in der Nähe parkenden Auto, in dem er sie in eine unheil-volle Welt verschleppte.

So vieles hat es erlebt, das nun am Boden liegende Kastanienblatt. Bald werden seine Farben in ein hässliches Braun übergehen. Vielleicht hat jemand Erbarmen, erfreut sich an seinem noch so wunderschönen Anblick?

Es hat Glück! Die Kirche ist zu Ende. Die Frau in Schwarz besucht wieder ihren Lieblingsplatz, sieht das herrliche Blatt, hebt es auf und nimmt es mit nach Hause. Dort legt sie es in ihr geliebtes Buch, das Buch, das ihr Mann ihr im Laufe ihrer gemeinsamen Jahre geschrieben hatte...

Ein grauer Herbsttag ist nicht mehr grau!


© Angelika Vitanza-Lima – 2000-10-15

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