Hans Werner

In der Wolfsschlucht

Lieber Leser, auch diese Geschichte habe ich etwa vor vierzig Jahren geschrieben. Nun ist sie mir wieder unter die Hände gekommen. Und ich möchte sie hier einstellen, unverändert, so wie sie damals entstanden ist. Irgendwie kommt mir vor, als ob ich mich selbst nach der Identität zurücksehnen wollte, die ich damals war. Wir Menschen werden uns selber ein Rätsel.

In der Wolfsschlucht
Erzählung von
Hans Werner



Ich soll Dir etwas erzählen, gütiger Leser? Nun, vielleicht möchtest Du heute mit einer Episode aus meinem eigenen Leben vorliebnehmen. Weißt Du, man sagt oft, der Dichter müsse erfinden können, um ein wahrer Dichter zu sein. Aber "Erfinden" ist oft nichts anderes als ein "Auffinden", ein bewussteres "Finden", und schöpft aus der Wirk¬lichkeit. Wahrheit ist mehr als nur das, was man gerade vor Augen hat. Wirklichkeit ist mehr, als was man sieht. Das Märchen verkündet uns eine Wahrheit, eine Wirklichkeit, die verborgen liegt, die aber in unser aller Seelen lebendig ist. Der Glaube ist Wahrheit, und wenn er Wirklichkeit wird, ist der Mensch glücklich. Mein eigenes Leben wäre nicht das, wenn nicht die schöpferische Kraft meiner Phantasie es ausgeschmückt hätte. Nur der weiß zu leben, der ein bisschen Phantasie hat. Wenn ich mich also anschicke, etwas aus meinem Leben zu erzählen, so ist es gleichzeitig Märchen, Bericht, und Erzählung. Geneigter Leser, es steht in Deinem Ermessen, wie Du diese Schrift aufnimmst, in Deiner Nachschöpfung erleben meine Gedanken neue Gestalt.
Ich war noch jung, hatte vielleicht 25 Jahre auf meinem Buckel. Ich hatte mich mit einem Mädchen getroffen, das ich auf eine nicht alltägliche Weise kennengelernt hatte. Herta hieß sie mit Namen. Sie war nicht groß, schlank gewachsen, hatte dichtes dunkles Haar, braune Augen, die sehr lieb schauen konnten, einen üppigen breiten Mund, mit vollen Lippen, die Nase war edel gebildet und das ganze Gesicht bot eine harmonische, edle Formung. Von Gestalt hatte sie nichts Aufreizendes an sich. Sie war auf eine natürliche und unauffällige Art schön. Sie war nicht wie jene Mädchen, die allein durch ihre Erscheinung den armen Mann zum Sich-Verlieben zwingen. Man wurde durch Herta keineswegs seelisch vergewaltigt. Sie war ein¬fach, natürlich, gut und herzlich. Aber das sind alles nur gewöhnliche Worte, und ich weiß nicht, wie ich beschreiben soll, wie viel Gefühl sie aufbringen konnte für einen Menschen, den sie gern hatte. Sie war auf ihre Art ein unerschöpflicher Brunnen, ein unversiegbarer Quell von Liebe; aber man musste ihn entdecken. Nur wer sucht, der findet. Nirgendwo ist Geduld so notwendig wie in der Liebe, oder zunächst in dem "Sich-Verlieben". Und, lieber Leser, eines darf ich Dir sicher sagen, Schönheit ohne Herzensgüte zerrinnt und ist nicht von Dauer. Aber, wenn Du ein Menschenwesen langsam lieben lernst, wenn Du an Dir selbst erfahren darfst, wie gut dieser Mensch ist, dann findest Du ihn schön , bezaubernd, hinreißend, umwerfend, dann ist er dein Ein und Alles.
Von eben solcher Art war das Mädchen, mit welchem ich mich getroffen hatte. Wir befanden uns in einer mittleren Stadt Süddeutschlands. Es war Sonntag, wir hatten soeben das Mittagsmahl eingenommen und danach ein oder zwei angenehme Stündchen verbracht, zu Hause, gemein¬sam auf dem Sofa (kannst Du Dir vorstellen, was es bedeutet, mit einem Mädchen, das einem lieb geworden ist, auf dem Sofa zu sitzen!?), und beschlossen nun, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, um uns auszulüften.
Weit dehnte sich die modern angelegte Straße vor uns. Die Sonne schien uns entgegen, und, umflutet von diesem Sonnenlicht, waren wir sicher wahrzunehmen wie zwei Schattenbilder, die sich am Horizont einer blendenden Landschaft bewegten. Herta hielt meine Hand gefasst, und meiner Hand war wohl in der ihren. Sie war auf eine neue, mir ungewohnte Art bekleidet: dunkelbraune Hosen mit angenehmer Formung verliehen ihren Beinen einen klassischen Schnitt. Eine adrett geschnittene Bluse machte aus ihrer Figur ein durchaus begehrenswertes Mädchen, das man unter allen Umständen umarmen wollte. Darüber schmiegte sich ein weicher roter Mantel ihre Figur eng an, und alles ward gekrönt vom Haupt, einem Mädchenantlitz, um welches sich das braune Haar lose gruppierte. Wie wir so gingen, kamen seltsame Empfindungen in mein Herz. Ich spürte, wie dieses Mädchen an meiner Seite immer mehr in mein Wesen einging. Fast hatte ich das Gefühl einer Bluttransfusion. Manchmal dachte ich schon so wie Herta, und dann wunderten wir uns immer, wenn wir dasselbe dachten, ohne uns vorher abgesprochen zu haben. Aber auch meinte ich manchmal, als ob meine Hand mit der ihren zusammenwüchse, als ob wir uns anschickten, auch eine körperliche Einheit zu bilden. Oder war das alles nur Vorstellung, Blendwerk meiner Phantasie? Oder war es Ahnung, Vorahnung? Ich vermag diese Frage nicht zu beantworten.
Plötzlich sahen wir einen umgefallenen Baum, der in voller Blüte stand. Leben und Tod begegneten sich in diesem Bild. Leben und Tod beherrschten die ganze Szene: wir gingen auf einem Friedhof, der in Vorbereitung war. Wir gingen, umflutet vom Sonnenlicht, und sahen vor uns das pulsierende Leben sonntäglicher Spaziergänger. Während mich der Doppelsinn dieser Situation seltsam berührte, ging meine Freundin zu diesem umgefallenen Baum, schnitt ein paar Zweige ab und kam mit einem wunderschönen Blütenstrauß zurück. Lassen sich Leben und Tod verbinden im Erlebnis der Schönheit, der Ästhetik? Ich weiß es nicht. Herta lebte mir diesen Gedanken vor.
Diese Szene berührte mich tief. Ich sah Herta vor mir, wie sie durch ihr einfaches Tun das Leben interpretierte, und sah den Wald im Hintergrund, das geheimnisvolle Dunkel der Stämme, die keinen Horizont sichtbar werden ließen, und ich fühlte mich hineingezogen in jene Landschaft des Ungewissen, des prickelnd Neuen, und fasste meine Freundin bei der Hand, und beherzt übersprangen wir den Graben, der uns vom Wald trennte.
Damit schien es mir, als ob wir in einen ganz anderen Bereich ein¬getreten wären. Der Graben war die Trennungslinie von der prosaischen Wirklichkeit, und indem wir ihn übersprungen hatten, traten wir ein in eine neue Welt der Poesie, der Schönheit und der Liebe. Guter Leser, mit welchen Worten soll ich Dir beschreiben, wie geheim¬nisvoll sich der Wald vor uns auftat!? Der Weg verlor sich im Inneren, mehrere Wege zweigten ab, und auf einmal brach vor uns der Boden in unermessliche Strahlen durchs Geäst, und zitternd sah mich meine Freundin an, als wollte sie fragen: "Sollen wir uns da hineinwagen?"
Doch ich war beseelt von seltsamen Empfindungen und geheimnisvollen Erwartungen. Schnell entschlossen fasste ich Herta kräftiger bei der Hand und wir gingen auf einem gefährlichen Pfad am Rande des Abgrunds entlang. Mir gingen plötzlich Melodien aus dem „Freischütz“ im Kopf herum, Herta sah mich an, mit aufgerissenen Augen, und sagte "Da unten ist die Wolfsschlucht." Ich antwortete mit einem leichten Händedruck und half ihr, eine schlecht begehbare Stelle zu passieren. Der Weg weitete sich auf einmal. Danach fühlten wir uns in einer neuen Gegend, von der Umwelt auf seltsame Art abgeschlossen. Irgendwie fühlten wir, dass niemand kommen werde. Schon allein der schwierige Weg machte uns sicher in unserer Annahme.
Wir blieben stehen. Ich umfasste Herta, denn ganz plötzlich schoss mir ein heißer Blutstrom durch den ganzen Körper: war ich nicht allein mit einem schönen, lieben und guten Mädchen, und regte sich in mir nicht auf einmal jene Urempfindung, die in jeden jungen Menschen wach wird, wenn er mit einem schönen jungen Menschengeschöpf beisammen ist und zum ersten Mal blitzartig erkennt, dass es ein Mädchen ist. Ich ließ meine Hände in ihren Mantel gleiten, schob sie unter die lose Bluse, und hatte nackte Haut zwischen meinen Fingern. Da begann sich alles in mir zu elektrisieren, meine Hände kamen in Fahrt, sie entglitten meiner Bewusstseinskontrolle, der Körper Hertas begann sich auf seltsame Art zu bewegen und an mich zu schmiegen. Es war eine Symphonie junger Liebe, die scheu hervorkeimen wollte.
Und dann auf einmal schoss mir ein Strahl heißer Lust durch den Leib: Herta hatte mich angefasst, hinten, wo sich meine Beine ver¬einigten. Wer hat diesem Mädchen gesagt, wie man einen Mann hochkitzeln kann? Vielleicht macht die unschuldige Natur alles spontan richtig, ohne konkretes Vorwissen. Und so ergänzten wir uns in Zärtlichkeit, wir gaben und nahmen, und die Freude war gegenseitig. Wir standen wohl eine ganze Stunde, wenn nicht länger, und waren versunken in uns selbst. Und als wir uns in die Augen sahen und einander viele kleine Küsse auf den Mund drückten, da waren unsere Augen voller Liebe und Dankbarkeit.
Als ich das erste Wort sprach, kam mir meine Stimme verändert vor, auch Herta kam mir verändert vor. Es war, als wären wir beide völlig neu geboren, als würden wir mit anderen Augen in die Welt blicken. Als sie mich umfasste, war alles viel schöner, als es jemals gewesen war. Sie erschien mir zum ersten Mal unendlich schön, und Ihre Stimme war mir himmlischer Wohlklang. Ich hatte sie vorher so noch nie empfunden. Irgendetwas musste in uns vor¬gegangen sein, in der Wolfsschlucht. Vielleicht ist Eros, der griechische Liebesgott, durch die Wälder geflogen und hat Pfeile nach uns abgesandt? Wer weiß?!
Alles war schön, den ganzen Abend blieb es schön, und wir waren glücklich, Herta und ich. Sieh, gütiger Leser, ich schreibe aus der Erinnerung. Aber die Erinnerung belebt mich immer wieder so, als ob ich die Szene ganz neu erleben würde. Nun muss ich einige Tage warten, bis ich meine Freundin wiedersehen darf, aber die Kraft des Erlebnisses, die Wucht der Erinnerung, stärkt meine Vorfreude und gibt mir Geduld, viel Geduld. Lieber Leser, hat Dir meine Geschichte gefallen?

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.06.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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