In der Woche der Dicken klebten an allen Litfaßsäulen und Stellwänden, auf denen sonst der Platz für Mitteilungen von Partei und Regierung reserviert war, bunte Plakate mit so einleuchtenden und markanten Schlagzeilen wie “Dick ist häßlich!”, “Dick macht krank!” und “Dick ist doof!”. Presse und Rundfunk sendeten täglich Schreckensmeldungen über die unverhältnismäßig hohen Belastungen des Etats des Gesundheitsministers durch zu viele fettleibige Mitbürger, und das staatliche Fernsehen strahlte Appelle wie “Schlank ist gesund!”, “Schlank hält fit” und “Dicke sind dumm” aus. Das Parlament diskutierte in dieser Woche in dritter Lesung einen Gesetzentwurf über die Bestrafung fettleibiger Mitbürger durch eine höhere Besteuerung.
Es bestand aufgrund der Mehrheitsverhältnisse kein Zweifel, daß der Gesetzentwurf ab dem 1. Januar des kommenden Jahres Gesetzeskraft erlangen würde, und die Bundesdruckerei hatte schon erste Instruktionen für die Gestaltung der neuen Einkommensteuererklärungsvordrucke erhalten. Die wesentliche Neuerung bestand darin, daß eine neue Rubrik mit der Überschrift “Angaben zum persönlichen Gewicht” eingeführt werden würde, in der der Steuerpflichtige sein Gewicht am 31. Dezember des abgelaufenen Jahres anzugeben hatte. Außerdem war vorgesehen, daß er als Nachweis für die Richtigkeit der diesbezüglichen Angaben seiner Steuererklärung einen Wägezettel einer öffentlichen oder einer solchen gleichgestellten Waage beifügte. Fehlende Angaben zum Gewicht des Steuerpflichtigen sollten zu einer Vorladung durch das zuständige Finanzamt führen, mit der Aufforderung sich auf der bei diesem installierten Waage wiegen zu lassen. Meßlatte für die Festlegung von Steuerzuschlägen war das sogenannte Idealgewicht zuzüglich einer Freigrenze von
Die Regierung pries ihren Gesetzentwurf als bahnbrechend. Sie zeigte sich davon überzeugt, daß dieses Gesetz einen substantiellen Beitrag zur Verbesserung der Volksgesundheit leisten würde, wie der Gesundheitsminister es bei seiner Rede auf einem Ärztekongreß ausdrückte.
Wir mußten in dieser Woche einen Aufsatz über die “Vielfältigen Formen der Versuchung” schreiben. Die meisten hatten die Versuchung richtig geortet: Im übermäßigen Verzehr flüssiger und fester Speisen. Er führte, wie hinlänglich bekannt, zu Übergewicht und Fettleibigkeit, deren negative Folgen für die Gesundheit den Etat des Gesundheitsministeriums immer stärker belasteten, und damit schloß sich der Kreis wieder. Nur Thomas hatte dieser vorgezeichneten Spur nicht folgen wollen. Er schrieb statt dessen ein Loblied auf die Dicken, und zitierte zur Unterstützung seines Urteils Shakespeare, der Cäsar sagen läßt: “Laßt dicke Männer um mich sein ...”
Für Herrn Johannes, unseren Deutschlehrer, war Thomas Aufsatz eine Provokation. Nicht nur, daß er mit steiler Schrift und roter Tinte auf den Heftrand schrieb “Thema verfehlt” und Thomas Leistung mit “ungenügend” benotete. Nur gutes Zureden des Direktors konnte ihn davon abhalten, dieses “Machwerk eines deviativen Geistes, der gebrochen werden muß”, an die vorgesetzte Behörde weiterzuleiten. Allerdings verwunderte es niemanden, daß das Verhältnis zwischen Herrn Johannes und seinem gegen den Stachel löckenden Schüler von diesem Zeitpunkt an gestört war, um für die Gegensätzlichkeit ihrer Standpunkte einen milden Ausdruck zu gebrauchen.
Die Woche der Dünnen stand ganz im Zeichen der “diätetischen Ernährung zur Förderung der Volksgesundheit”, wie in einer Pressemitteilung des Gesundheitsministeriums zu lesen war.
Das Fernsehen verkündete jeden Abend eine neue Diät für alle Lebenslagen, Geschlechter und Altersgruppen; Mauern, die Fassaden von Gebäuden und die Karosserie von Bussen und Bahnen wurden zugedeckt mit Plakaten, Spruchbändern und Graffiti von “FDH” über “Dünn ist in” bis zu Behauptungen wie “Nur ein dünnes Volk ist ein gesundes Volk”.
Besonders in dieser Woche versuchten sich alle Dicken “dünne” zu machen. Entweder verließen sie das Haus nicht, wagten sich nur im Schutze der Dunkelheit auf die Straße oder nahmen bei öffentlichen Auftritten Zuflucht zu Umstandskleidern oder verbargen ihre Fülle unter eng geschnürten Korsetts. In vielen Lokalen hing im Fenster ein Schild mit der Aufschrift “Dicke unerwünscht!”, um so größeren Zuspruch hatten daher die Etablissements, die durch einen Aushang oder ein Plakat darauf hinwiesen, daß auch Dicke zu ihnen Zutritt hatten. Doch diese Lokale waren in der Minderzahl.
Doch in der Innenstadt wurde meine Suche belohnt. Ich entdeckte ein Restaurant mit einem kleinen Schild, auf dem in schwarzer Frakturschrift stand “Hier werden auch Dicke bedient.”
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.07.2011.
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