Hans Werner

Der träumende Johannes



Erzählung von
Hans Werner




Johannes Reimer, so wollen wir ihn einmal nennen, ging gemächlichen Schrittes über die blankgeputzten Fliesen des Schulkorridors, grüßte nach links und rechts, wenn höfliche Schüler mit lieblichem Augenaufschlag ihm Guten Morgen sagten, und spürte das milde Sonnenlicht, das durch die übermannshohen Scheiben hereindrang, als angenehme atmosphärische Berieselung. Sein Name erscheint mir passend, denn schon immer war es sein Ziel gewesen, zu versöhnen, zu beschwichtigen, begütigend Konflikte zu lösen, Ungereimtes zu reimen, mit dem sanften Wohlklang der Harmonie da zu heilen, wo schrille Gegensätze aufein­an­derprall­ten, selbst wenn er dabei Gefahr lief, Dinge zu verharmlosen, Probleme zu vernebeln. Sein Leben verlief in klar abgegrenzten Zirkeln, war sozusagen vorgeplant, eingeteilt, geordnet, die Zukunft war vorgezeichnet, im voraus registriert, versichert gegen eventuelle Ausgriffe ins Unwägbare, Unsichere, Unbotmäßige. Er war das Haupt einer ansehnlichen Familie und wurzelte mit all seinen Gliedern fest in dieser menschlichen Gruppe. Gleichmäßig verteilte er die Zärtlichkeiten, deren er fähig, und die Wohltaten, die er sich leistete, an die Seinen und fühlte sich geborgen in dem zärtlichen Umsorgtsein, in dem er mit seinem eigenem Leben nistete. So war es mit ihm bestellt, und man hätte ihn als einen literarisch ganz und gar uninteressanten Fall abtun können, würde nicht in seiner Seele zuweilen eine wilde Hoffnung wuchern nach heißen Glücksregungen, so wie auf einem hochgezüchteten, künstlich gedüngten Acker plötzlich wieder Unkraut in den buntesten Farben aufschießen kann, spottend aller agronomischen Vorsicht.

Johannes Reimer, sagten wir, ging durch den Schulkorridor, da überholte ihn einer seiner Kollegen, nein, es war eine Kollegin, um genau zu sein, ein junges, graziles Ding, das mit munterem Schritt, das Gesicht halb rückwärts ihm zugewandt, vorbeiging und ihn grüßte, in einer Art und Weise grüßte, mit fröhlichem Lächeln um Mund und Augen, so dass es ihm einen kleinen inneren Stich versetzte. Über diese ungewohnte Reaktion seines Inneren war er halb verwundert und lauschte angestrengt auf die Schläge seines sensiblen, reizbaren Herzens, horchte auf die Stimme seiner Seele, und schließlich überkam ihn der Verdacht, dass von diesem jungen Wesen, das eben an ihm vorbeigegangen war, eine Kraft ausging, eine unsichtbare, unmerkliche, unaufdringliche Kraft, die aber bis in die tiefsten Zonen seiner Seele vordrang und dort neues Glück stiftete. Johannes Reimer war zutiefst ergriffen, schon lange war ihm eine solche Erfahrung nicht mehr zuteil geworden.

Er fasste den Entschluss, sich näher mit diesem Menschen zu beschäftigen. In der Pause, wenn er auf seinem Stuhl saß, umgeben von einer brüten, gähnenden Leere, stellte er das Objektiv seiner Sehorgane so ein, dass die anmutige Gestalt profilscharf im Zentrum seiner Beobachtung stand. Er registrierte jede Einzelheit ihres Gesichts, die lockigen braunen Haare, das weiche Kinn, das in himmlische Sphären weisende Näschen, die beiden großen Perlen offen blickender Augen, auf denen diese Dame, eigentlich wollte er lieber sagen, dieses Mädchen, ja, dieses Kind, die Wahrheit unverstellt zur Schau zu tragen schien. Und er lauschte auf den Klang ihrer Stimme, einer Stimme, in der sich sonnige Freundlichkeit mit verständnisvollem Ernst vermischte. Eine Stimme, dachte er bei sich, die ich im Alt wohl gut brauchen könnte. Ob sie wohl Alt sang? Und er beschloss, mit diesem Menschenwesen, koste es, was es wolle, bekannt und vertraut zu werden.

Die Frage war, welchen Weg er dazu wählen konnte. Und es kam ihm zum Bewusstsein, wie die Wege größtenteils um ihn herum verbaut waren. Wie beneidete er den ungebundenem jungen Mann, der mir nichts dir nichts auf eine Dame hintreten und sie zu einer unverbindlichen Kaffeestunde einladen konnte. Was hätte er darum gegeben, die üblichen Wege beschreiten zu können! Aber da war seine Ehre, und übrigens auch die Ehre der Dame, die es zu wahren galt. Denn Johannes Reimer war so geartet, dass ihm altmodische Begriffe, wie Ehre und Stolz, durchaus noch etwas galten, wenngleich er natürlich nicht bereit gewesen wäre, sich wegen irgendeiner Ohrfeige zu duellieren. Aber da war die Treue, das Wissen um die geradherzige und zuverlässige Zuneigung seiner Gemahlin, und das war wohl der gewichtigste Aspekt, der ihn zu vor­sichtigem Zögern bewog. Wie viel Vertrauenskapital, das sich über viele Jahre gebildet hat, kann durch eine Dummheit schnell und leicht­sinnig verspielt werden! Johannes Reimer schwindelte bei diesem Ge­danken. Aber dann spürte er wieder den kleinen, feinen Stich in der Herzgegend, und er sehnte sich danach, mit der Zunge tief zu küssen, er sehnte sich nach der Berührung von Frauenhänden, die sich hinter seinem Nacken verriegeln. Danach sehnte er sich, mit einer brausenden Urgewalt, wie sie sich ein Mensch, der in beständiger Glückserfüllung lebt, gar nicht vorstellen kann. Und er begriff diesen feinen, kleinen Stich im Herzen als Schicksal, dem er sich stellen müsse. Denn, so sagte er sich, wer ängstlich und feige ist, darf sich nicht verlieben. Und er gewann Stärke und Festigkeit aus diesem Gedanken.

In dem Maße nun, wie sich sein Blick schärfte, gewahrte er auch manche Einzelheiten im Gruppenverhalten all der Kollegen, die, gleich einem Bienenschwarm, seine Dame umsurrten und umflogen. Er glaubte, deren eifersüchtiges Wachen und Sorgen zu bemerken, irgendein Unbefugter könne ihr zu nahe kommen. Hier muss man ein­schieben, dass Johannes Reimer auf dem diskreten Kanal des Telefons bereits verschiedentlich mit der Dame kommuniziert hatte, über belanglose Dinge, aus reiner Freude daran, ihre Stimme aus intimer Nähe zu vernehmen. Seine Dame, wie wollen wir sie nennen, vielleicht Vera Jument, denn sie schien ihm aus französischer blauer Ferne zu stammen - ihr Vorfahr war ein emigrierter hugenottischer Adliger und Oberstallmeister an der Spanischen Reitschule in Wien - nun Vera Jument hatte ihm mitgeteilt, dass sie als Hobby sich in einem Segelflugzeug von den Winden in die Höhe treiben lasse und dabei ein ihr gemäßes Glücksempfinden habe. Kein Wunder, dachte er sich, ist sie nicht ein hauchdünnes, engelgleiches Wesen, derlei muss ja fliegen. Eine Freundin, die auf diesem Sektor bereits nationale Lorbeeren errungen hatte, war ihre eifrige Lehrmeisterin im Segelflug. Ob diese Freundin etwas zu ahnen schien? Seltsam, wie sich ihre Augen im Gruß verfinsterten und verdunkelten. Eifersucht! Welch eine dumme Erfindung des menschlichen Herzens! Wie recht hatte doch Max Frisch, wenn er schrieb "Eifersucht ist Angst vor dem Ver­gleich.“ Johannes Reimer schwor sich, in seinem Innern nie Eifersucht aufkommen zu lassen. Wo das Herz in Empfindungen klingt und schwingt, sind Gelassenheit und Ruhe angebracht. Der gefühlsreiche Mensch hat allen Anlass, sich seiner selbst sicher zu sein und braucht keinen Vergleich zu scheuen. Merkwürdig war auch, wie sehr es Vera Jument verstand, sorgsam auf die sie umgebende Gruppe Rücksicht zu nehmen, wie sie ihre Augen von Reimer abwandte, wenn sie sich von ihren Paladinen beobachtet fühlte. Es war ein belustigendes Schauspiel, Reimer erheiterte sich und bewunderte gleichzeitig die anmutige Delikatesse einer Vera, die ihr eigenes Zufallsverhalten so unbewusst richtig komponierte, wie wohl Mozart seine genialen Gedanken in Noten fasste, ohne sich im mindesten anstrengen zu müssen. Das Menschliche ist ein wunderbares Panoptikum, ein Paradies der Seltsamkeiten, würdig jeglichen liebenden Interesses. Johannes Reimer wünschte mit aller Macht seiner Gedanken Vera Glück. Er glaubte fest daran, dass sich Gedanken materialisieren, wenn man sie nur oft genug denkt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.07.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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