Tanja Bernsau

Niemals zu spät

Dunkelheit umschloss sie, als sie sich auf den Weg machte. Es war noch nicht Mitternacht, als sie das Haus verlassen hatte, in der Hand eine kleine Tasche mit den nötigsten Erinnerungen, auf die sie nicht verzichten wollte. Im Kopf eine Menge an Erinnerungen, auf die sie gerne verzichtet hätte. Lange hat sie gebraucht, bis sie diese Tür hinter sich zuziehen konnte. Viel zu lange.
Der Wind zerrte an ihren langen dunklen Haaren und wehte sie ihr ins Gesicht. Die Temperatur lag kaum über dem Gefrierpunkt und ihr Mantel war zu dünn für diese Witterung. Sie hatte sich keinen schlechteren Tag für hierfür aussuchen können. Der Gedanke an das "wohin" war ihr noch fern, zu sehr war sie noch mit dem "wovon weg" beschäftigt. All die Jahre. Es schien ihr erst gestern gewesen zu sein, als die Welt noch in Ordnung war, die Zukunft ein offenes Feld der Möglichkeiten, alles hatte seinen Platz und seine Ordnung. Und dann kam er. Stürmische Verliebtheit, die Gewissheit, dass er ihre Zukunft war. Und damit das offene Feld der Möglichkeiten für immer schloss. Was sie natürlich zunächst nicht ahnen konnte, in der rosaroten Welt, in der sie lebte, als er um sie warb. Sie war geschmeichelt, wer hätte das gedacht, dass dieser umwerfende Mann, dieser intelligente, gut aussehende, sich für sie, für sie! interessieren konnte. Nein, nicht nur interessieren, er wollte mehr. Er führte sie aus ins Restaurant, ins Kino, sie lernte seine Eltern kennen, er lernte ihre Eltern kennen, er holte sie ab vom Büro – sie hatte gerade ihre erste Schritte in den Beruf nach dem Studium gemacht. Und als er sie dann fragte, ob sie ihn heiraten will, war das Leben perfekt.
Zwanzig Jahre waren seitdem vergangen. Zwanzig Jahre. Fast die Hälfte ihres Lebens hatte sie mit ihm verbracht. Sie seufzte leise und zögerte ein wenig. Zwanzig Jahre. Sie erinnerte sich, als sie zwanzig Jahre alt war. Eine junge Studentin an der Universität. Sie war nie eine besonders gute Schülerin gewesen, ihren Abschluss hat sie mit mittelmäßigem, mit ausreichendem Ergebnis gemacht. Aber dennoch hatte sie sich entschieden zu studieren. Sie wollte etwas aus ihrem Leben machen. Sie wollte nicht wie ihre eigene Mutter enden, die ihr Leben lang sich nur um Mann und Kinder gekümmert hat. Nicht das das schlecht wäre, aber da muss es doch noch mehr geben, hat sie sich gedacht. Ihre Mutter schien derselben Auffassung gewesen zu sein, denn sie hatte ihre Tochter immer unterstützt, sich auf ihre Seite gestellt, als der Vater beschlossen hatte, sie in seiner Firma als Bürohilfe einzustellen. Insgeheim war sie wohl neidisch auf ihre Tochter, die sich dann jeden Morgen mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf den Weg an die Uni machte. Aber für sie selbst war es zu spät gewesen. Sie hatte jung geheiratet, keine Ausbildung, keine Qualifikationen vorzuweisen, nie gearbeitet – wer hätte die Mittvierzigerin den einstellen sollen?
Sie lief weiter, der Wind wurde nun immer stärker. Zu allem Überfluss hat es nun auch noch begonnen zu regnen. Kleine feine Tropfen fielen auf ihren grauen Mantel , rannen über das lange Haar, das sie schon für die Nacht gelöst hatte und fanden ihren Weg unter dem Kragen vorbei ihren Nacken herunter. Ihr schaudert. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, mitten in der Nacht aufzubrechen. Sie hätte warten können bis zum nächsten Tag. Die Tasche stand ja nun schon lange gepackt auf dem Dachboden. Sie hätte noch warten können. Seufzend setzte sie ihre Schritte fort.
Mutter war im Herbst gestorben. Sie hatte einen Großteil ihres Lebens damit verbracht, ihre Familie zu versorgen. Drei Kinder und ein Mann, die bekocht und mit frischer Wäsche versorgt werden wollten. Ihre Mutter hatte sich nie beklagt, dass sie keine andere Wahl gehabt hätte. Aber Sarah hatte diese Wahl gehabt, sie wollte Möglichkeiten haben, ihr Leben selbst zu gestalten, nicht von einem Mann abhängig zu sein. Ihr eigenes Geld verdienen, eigene Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Sich nicht sagen lassen zu müssen, wann sie wo zu sein hatte, mit wem sie sich befasste, wofür sie ihr Geld ausgab. Das war der Plan.
Der Wind fuhr ihr von hinten in den viel zu dünnen Mantel. Sie war nun an der erleuchteten Bushaltestelle angelangt. Ängstlich sah sie sich um. War er aufgewacht? Hatte er gesehen, dass sie nicht mehr neben ihm lag? War er aufgestanden, die Treppe hinuntergestiegen auf der Suche nach ihr? Hatte er auf der Küche ihren Zettel gefunden? Sie klappte den Kragen hoch, um sich vor den hinein rinnenden Regentropfen zu schützen. Warum musste ausgerechnet diese Bushaltestelle keine Überdachung haben? Sie hätte wirklich bis zum morgen warten können. Auf die wenigen Stunden kam es doch nun wirklich nicht an. Zwanzig Jahre. Oder bis zum Sommer. Im Sommer wäre ein Regen wenigstens nicht so kalt gewesen.
Ihr Hochzeitstag war der glücklichste Tag in ihrem Leben gewesen. Bis dahin. Die Geburten der Kinder, die ein Jahr und drei Jahre nach der Hochzeit kamen, übertrafen dieses Ereignis noch. Oh, wie sie ihre Kinder liebte. Die ältere Tochter, die ihr selbst so sehr glich und der zwei Jahre jüngere Sohn, waren ihr ganzer Stolz. Sie ging völlig in ihrer Mutterrolle auf. Sie war glücklich, dass sie zwei gesunde und schöne Kinder auf die Welt gebracht hatte und diese bekochen und mit frischer Wäsche versorgen konnte. Das waren wahrhafte Glücksmomente in ihrem Leben, die ihr auch jetzt ein Lächeln ins Gesicht zauberten. Ihre Stelle in dem Büro, die sie nach ihrem Universitätsabschluss angetreten hatte, hatte sie natürlich nach der Hochzeit gekündigt. Das Geld brauchen wir nicht, erklärte ihr ihr frisch angetrauter Ehemann. Er war der Ernährer der Familie und als solcher für das Geldverdienen zuständig. Die Rollenverteilung war gleich von Anfang an klar gewesen.
Mit den zwei kleinen Kindern war sie damit auch völlig einverstanden. Es war ihr eine reine Freude, sich um die kleinen Mäuse zu kümmern und das Haus zu versorgen. Ihr Mann konnte ihr ja dabei nicht helfen. Der Job erfordert seine volle Konzentration und viele Überstunden. Als die Tochter in die Schule kam, wurde er erstmals befördert. Er verdiente mehr, bekam ein größeres Büro, einen Firmenwagen und eine Assistentin. Wie dumm von ihr anzunehmen, er könnte dann mehr Zeit mir seiner Familie verbringen.
Wirklich dumm war sie. Aber auch sehr beschäftigt. Sie wollte eine gute Mutter sein, eine gute Hausfrau. Was hätte sie auch anderes mit ihrer Zeit anfangen sollen. Also widmete sie ihre ganze Energie auf ihre Kinder, brachte sie zu Sportveranstaltungen, nähte Kostüme für Schulaufführungen, half bei Schulaufgaben und tröstete bei kleineren und größeren Schmerzen. Den Vater sahen die Kinder fast nur am Wochenende. Unter der Woche blieb es bei den vielen Überstunden, oder er war geschäftlich unterwegs. Über Nacht. Am Wochenende. Die Familie gewöhnte sich daran. Er war der Ernährer der Familie. Sie war zuhause. Die Kinder wurden groß.
Sie dreht sich um und blickte zurück in die Straße, in der sie die letzten zwanzig Jahre gewohnt hatte. Der Wind blies ihr nun direkt ins Gesicht. Dort stand das Haus, dass solange ihr zuhause gewesen ist. Sie zögerte, die Tasche fest mit beiden Händen umklammert. Als die Kinder größer wurden, brauchten sie sie immer weniger. Sie konnten auf eigenen Füssen stehen. Und mit einem Mal war sie überflüssig geworden. Sie hatte keine Aufgabe, keine Verantwortung, nichts zu tun. In der Bibliothek hätte sie eine Teilzeitstellung annehmen können. Ausreichend qualifiziert sei sie ja, sagte der Bibliotheksleiter. Wenn denn ihr Mann auch einverstanden wäre? Er war geschäftlich unterwegs, diesmal die ganze Woche. Sie versuchte es auf seinem Mobiltelefon, auf dem sie bei einem Notfall erreichen konnte und dass er immer bei sich trug. Es meldete sich seine Assistentin, die mit ihm auf Geschäftsreise war. Sie werde es aufrichten, sagte sie, er ruft sie gleich zurück. Sie war sich sicher, er würde es ihr nicht erlauben.
Nein, kein Zurück mehr. Es war Zeit, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Die Kinder brauchten sie nicht mehr, sie hatte ihre Arbeit gut gemacht. Um das Haus konnte sich auch die Assistentin kümmern. Es bedeutete ihr nichts mehr. Sie hatte ihre schönen Erinnerungen eingepackt und mitgenommen, die hässlichen konnten da bleiben. So war es leichter.

Sie drehte sich um, als sie den Bus heranfahren hörte. Der Wind fuhr ihr von hinten durch die Haare und wehte sie förmlich dem Bus entgegen. Während sie einstieg, dachte sie, dass sie sich als erstes einen wärmeren Mantel kaufen müsse.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.07.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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