René Porschen

Kellerkind

Während des mittäglichen Zenits, der sein goldgelbes Licht zwischen die barocken, teils vergilbten Häuserschluchten einer stark befahrenen Hauptstraße warf, würden nur wenige auf die Idee kommen, sich eingehender mit den Kleinigkeiten zu befassen, die die alten Häuser zu bieten haben.. Wohlhabende Männer in schwarzen Anzügen, die fransige Sonnenschirme über üppige Damen hielten, damit sich diese nicht die zarte Haut verbrennen, liefen die Wege entlang und grüßten einander mit einer angedeuteten Verbeugung und dem Ziehen ihrer Melonen. Die schönen Damen erzählten belangloses Zeug und lachten vergnügt über ihre eigenen, nicht bös gemeinten, aber dennoch lästerhaften Anekdoten die auch den Gentlemen ein anerkennendes Schmunzeln abgewinnen konnten. Drahtige Karossen, mehr motoriosierte Kutschen als wirkliche Automobile ratterten über den schwarzen Asphalt der Straßen, vorbei an blinkenden Ampeln und gestikulierenden Verkehrslotsen. Man braucht nicht allzu genau hinschauen um noch die letzten Überbleibsel einer Antiquierten Fortbewegungsweise zu erspähen denn tatsächlich saßen noch viele auf dem Rücken eines Pferdes von dem aus sie das Treiben beobachteten. Auf dem Mittelstreifen bimmelte eine sonnengelbe und überfüllte Straßenbahn vorbei und auf der gegenüberliegenden Straßenseite schüttelte eine alte Frau den Schlaf aus vergilbten Bettlaken. Von all diesen Menschen achtet niemand auf das abgebröckelte Fundament eines baufälligen Wohnblocks das sich langsam an den Häuserwänden zu millimeterhohen Hügeln auftürmt denn für jeden war sein Anblick schon normal. Eines der Häuser, die zu renovieren niemand das Geld investieren würde und das abzureißen sich niemand überwinden würde. In seinem Schatten wühlte eine kleine Kinderhand in dem trockenem Schutt aus abgeblättertem Putz und durch Erosion zerstampfte Backsteine und wurde alsbald fündig als sie einen unförmigen Kiesel herausklaubte und zu einem Haufen uniform unübersichtlicher Steinchen legt.
„Es kann losgehen!“ piepste eine Stimme aufgeregt und kurz darauf bezogen die Kiesel ihre Startpositionen zwischen Finger und Daumen eines halben Dutzends Kinderhände.
„Auf die Plätze, fertig, und los!“ rief die Stimme erneut und alle Steinchen schnellten gleichzeitig der unüberwindlich hohen Mauer entgegen. Ziel des Spieles war es, mit seinem Stein die Mauer zu treffen und dann so dicht wie möglich an ihr zur Ruhe zu kommen, und während die Kinder noch den Sieger ermittelten, darüber diskutierten, wessen Stein nun dieser eine ist, der da ganz knapp am Sims lag, hüpfte einer, aus den Händen seines Spielers geglitten, ins Abseits und einem vergittertem Kellerfenster entgegen wo die kindlichen Knopfaugen ihm bis knapp hinter das rostige Tor aus scharfen Eisenstangen folgten. Der Stein verschwand in der endlosen Leere wo nichts mehr weiter von seinem Aufprall kündet, als ein gedämpftes, kaum hörbares Plitschen das aus einer brackigen Abwasserpfütze kam über der Staubfusseln und –körner im Schein eines schwachen Lichtkegels tanzten. Kaum wahrnehmbar für die flüchtigen Geister der Oberflächenbewohner, die dem Abstieg des Kiesels in die urbane Unterwelt schon längst keine Aufmerksamkeit mehr widmeten, tastete sich doch ein prustendes Echo nach einiger Zeit vom Ufer der Pfütze blindlings in die unendlichen Weiten eines vergessenen Korridors, bahnte sich trunkend vom Sturz und im Schwindel taumelnd seinen Weg durch zufällig errichtete Barrikaden aus Schutt und Unrat, prallte von den bröckeligen Wänden des vermoderten Gemäuers ab und verhallt irgendwo in den horizontalen Mörtelschluchten – und wurde von einem erbostem Quäken beantwortet.
Als hätte der Kiesel eine, seit Jahrtausenden stillstehende Ereigniskette in Bewegung gebracht, begannen sich urplötzlich von weither beunruhigende Geräusche ihren Weg durch das Backsteinlabyrinth zu bahnen und eine Orgie unbeholfener Laute stolperte durch die Finsternis als hätte es ein Rudel verkrüppelter Raubtiere aufgeschreckt. Hastiges Scharren verriet die Gangart des Neuankömmlings, der sich wie eine Eidechse auf allen Vieren durch den Dreck zog und dabei immer wieder über die Scherben einer herabgefallenen Glühbirne oder eines zerschmetterten Regals schliff. Wie ein Blinder tastete er sich beidhändig vorwärts, dabei größere Holzscheite und verrostete Rohrsegmente beiseite schleudernd, die seinen Handrücken mit entstellenden Schnitten, Schürfwunden und eingebohrten Splittern überzogen. Es kannte nur noch ein einziges Ziel, nachzusehen, was da in sein Reich gekommen ist, und ignorierte dabei die leisen Proteste seines Körpers, weder die zahlreichen, sich bald entzündenden Wunden kümmerten ihn, noch das dumpfe Knacken, das seine rechte Schulter von sich gab als es schnell in einen anderen Gang einbog und hart gegen die Wand schlug. Es schlingerte kurz zur Seite wie ein gerammter LKW, fing sich aber sehr schnell wieder. Eine Ewigkeit verging in der sich das, was auch immer erwacht ist, wie ein Schwerverwundeter durch die dreckigen Gänge zog, dass man glauben könnte, es hätte sich verlaufen, bis sein geneigter Kopf endlich über eine brüchige Ecke lugte und mit leuchtenden Augen in die Finsternis spähte. Das es schnell erkannte, dass noch immer, wohl schon seit Monaten, alles so war, wie es war, als es den Korridor zum letztem Mal betrat, traute es sich, die Beine angewinkelt und den Vorderkörper gleich einem Menschenaffen auf die Arme gestützt, mit einem schnellem Satz aus der Ecke hervor. Im schwächlichem Zwielicht der vergilbten Kellerfenster hätte sich dann jemandem die geschändete und abgemagerte Silouhette einer, vielleicht einst menschlichen Kreatur offenbart, die sich langsam auf den Ursprung des Geräusches hinschleppte und die sich ausbreitenden, konzentrischen Ringe beobachtete, die die Oberfläche der Pfütze beunruhigten. Doch niemand interessiert sich für das, was in den untersten Stockwerken alter Gebäude vor sich geht, und so bewegte sich das Wesen sicher in seinem Revier. Zitternd, scheinbar am Rande seiner Kräfte angelangt, hob es seinen von schlecht verheilten Schnitt- und Schürfwunden übersäten Oberkörper auf spindeldürren Ärmchen in eine annähernd aufrechte Hocke um nutzlos in der abgestandenen Luft zu wittern, wie sie es bei den Ratten gesehen hatte. Ein Netzwerk angeschwollener, blauer Adern schillerte durch das farblos-glasige Fleisch der Kreatur in dessen nässenden Falten es vor geröteten Pilzinfektionen und blutsaugenden Zecken nur so wimmelte. Ihr gekrümmter Rücken, den ein winziger Kamm abgewetzter Wirbelknochen säumte, drückte sich mit einer Reihe krankhafter Knacklaute durch als sie ihren haarigen Kopf in den Nacken warf und eine Reihe, einer primitiven Sprache angedeuteten Laute runterbetete die den ersten Worten eines Säuglings erschreckend ähnlich waren.
Als es sich der, im fahlen Lichtschein funkelnden, Wasserpfütze langsam näherte, plumpste es auf seinen Hintern und scharrte wie eine Hyäne im Schlamm wobei sie den Kopf neugierig vorstreckte. Doch nichts sonderbares oder gar neues hatte sich ihr offenbart und der Stein war eindeutig nicht bedeutend genug als dass sie ihn bemerkt hätte und so schielte es lange und sehnsüchtig in den Lichtkegel der durch das rostige Kellerfenster sickerte als wolle es darum bitten, noch eine Chance zu erhalten etwas wertvolles zugeworfen zu bekommen. Die Welt dahinter war für die Kreatur schon immer ein Mysterium gewesen, eine Art ideales Himmelreich, so weit außerhalb seiner Reichweite und formlos in ihrer monochromen Fassade sodass seine karge Fantasie ihr eine Form geben konnte. Von den wenigen Krumen Realität, die zu ihm herabfielen, konnte er sich nur ein vaages Bild dieser Welt machen, doch dies war herrlich genug, dass er nichts mehr wünschte, als einmal diese Welt betreten zu können…so sehr er das, was ihn erwarten sollte, auch fürchtete.
Seinen stummen Bitten kam nach langer Zeit dennoch niemand nach und so wandte er sich enttäuscht von dem glühendem Portal ab, schlug brutal auf seinem krummen Rücken dass es ihm die Luft aus den Lungen presste und wandt sich nach einigen Sekunden betäubter Starre wie ein Wurm zurück auf seinen Bauch. Auf allen vieren und mit hängendem Kopf kroch er zurück in die triefende Finsternis.
 
Es war ein schöner Traum, beinahe hätte es die Außenwelt gesehen, doch heute war es ihm vergönnt. Die Kreatur rollte sich in ihrem Nest aus verrotteten Zeitungspapier und Exkrementen zusammen, schlang die Arme um seine langen Beine und zählte die Wassertropfen, die auf seinen Rücken niederfielen. Langsam schaukelte es sich in den Schlaf und wartete auf die nächste Botschaft.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (René Porschen).
Der Beitrag wurde von René Porschen auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.07.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  René Porschen als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Am Ende oder am Anfang? von Anke Treinis



Eine gescheiterte Affäre, die eigentliche Ehe in Gefahr? Es gibt keinen Ausweg mehr? Das Ende oder gibt es einen Neuanfang?

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Absurd" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von René Porschen

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die Sage von den Kolossen von René Porschen (Spirituelles)
Absurder Dialog von Klaus-D. Heid (Absurd)
DIE GLÜCKSBRINGER von Christine Wolny (Zauberhafte Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen