Marion Redzich

Erste Liebe

                                         
 

Seit einem knappen dreiviertel Jahr fahre ich fast jeden Morgen mit dem Bus zu meiner neuen Arbeitsstelle. Und Du bist mir schon am ersten Tag aufgefallen! Du siehst ihm so ähnlich!

Ich kenne Dich nicht, hab mich nie getraut, Dich anzusprechen. Da ich auch nicht weiß wie Du heißt, nenn ich Dich einfach Timo. Der Name passt zu Dir.

 

Timo… wie lange ist das jetzt her? Wir waren fast ein Jahr lang ein Paar. Du warst der hübscheste Junge im Dorf. Damals hab ich mich oft gefragt, wieso gerade ich? Du hättest doch jede haben können. Und von einigen meiner damaligen Freundinnen weiß ich auch, dass sie nicht abgeneigt gewesen wären. Aber Du wolltest mich! Und Du warst für mich alles. Mein Seelengefährte, meine Zukunft, mein Leben. Ich hätte alles für Dich getan, ich glaube ich wäre damals sogar mit Freuden für Dich gestorben!

Heute bin ich froh, dass es dazu nie gekommen ist. Ich hätte zu viel versäumt im Leben!

Du hattest so wundervolle liebe braune Augen und ein Lächeln, das mich einfach umgehauen hat. Deine Haare waren fast schwarz und manchmal hab ich sogar gedacht, Du stammst von irgendwelchen Indianern ab. Wir waren beide fünfzehn. Du ein knappes halbes Jahr älter als ich. Wir waren fast jeden Tag nach der Schule heimlich verabredet. Heimlich, weil meine Eltern nichts davon wissen durften. Das hätte nur Stress gegeben. Und Stress hat man mit fünfzehn ja schon so genug! Zum Glück gab es da Tessy, unsere Hündin. Komisch, dass es niemandem aus meiner Familie aufgefallen war, dass ich seit jenem Sommer auffällig oft mit Tessy spazieren ging. Und das auch noch freiwillig! Viel Auslauf hatte der arme Hund in dieser Zeit allerdings nicht. Am Spielplatz, unserem heimlichen Treffpunkt angekommen ,musste sie immer mindestens eine Stunde lang angeleint sitzen bleiben. In dieser Zeit konnten wir ausgiebig knutschen, quatschen und uns eine gemeinsame Zukunft in den schönsten Farben ausmalen. Endlich hatte ich einen Menschen, der mir zuhört ohne mich zu gängeln. Einen Menschen, der mich mag so wie ich bin, bei dem ich mich nicht verstellen muss.

Einen Freund, einen Partner, einen Seelenverwandten. Es war mit die schönste Zeit meines Lebens! Mehr als ein halbes Jahr lang merkte niemand etwas von unserer Freundschaft.

Doch irgendwann kam meine Mutter dahinter und stellte mich zur Rede. Ich sagte ihr, wie wichtig mir die Freundschaft mit Timo sei. Aber ich hatte nicht das Gefühl, das sie das besonders ernst nahm. „Du musst viele Frösche küssen, bis Du den Richtigen gefunden hast“. Solche und ähnliche Sprüche konnte ich mir von da an täglich anhören.

Weder hatte ich vor, jemals einen Frosch zu küssen, noch wollte ich auf den Richtigen warten. Ich hatte ihn ja schon gefunden! Timo!!!

Und da hatten meine Eltern die geniale Idee, Timo zu einem Gespräch „von Mann zu Mann“ zu uns nach Hause einzuladen. Mein Vater wollte sich mit ihm unterhalten. Worüber, war uns beiden rätselhaft. Also ging Timo ganz gelassen in die Arena. Als er herauskam, konnte er sich kaum beherrschen. Er grinste über das ganze Gesicht. Wir gingen spazieren und er erzählte mir von der Unterhaltung mit meinem Vater. Dieser hatte ihm mehr oder weniger verboten, mit mir zu schlafen. Ich wäre viel zu jung blablabla. Timo schüttete sich aus vor Lachen. Bis jetzt waren wir ja noch gar nicht auf diese Idee gekommen. Unsere Freundschaft hatte bis dahin etwas völlig platonisches. Händchenhalten war das Höchste der Gefühle.

Doch wie das nun so ist mit Verboten. Sie regen zum Nachdenken an. Etwas, das Verboten ist, muss ja etwas ganz Besonders sein. So dachten wir. Zufällig waren wir in der Nähe von Timos Wohnung, die er sich mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder Kai teilte.

Und zufällig war niemand zuhause. Also, was lag näher??

Für uns beide war es das erste Mal. Ein zaghaftes Küssen, eine vorsichtige Berührung, die Kleider zogen sich beinahe von alleine aus und flogen durch die Gegend. Wir wussten beide mehr oder weniger nur aus der Bravo, wie’s geht und waren entsprechend aufgeregt.

Natürlich waren wir aufgeklärt, aber die richtige Aufklärung, die kann nur das Leben geben!

Vor lauter Aufregung hatten wir an so was Banales wie Verhütung natürlich nicht gedacht.

Im Gegenteil! Wäre ich jetzt schwanger geworden, wäre mein Glück perfekt gewesen. 

Keinen fertigen Schulabschluss? Egal! Kein Geld zum Leben? Egal! Selber noch Kinder? Egal! Alles war unwichtig geworden in diesem Augenblick. Es gab nur noch ihn und mich.

Ein schöneres Erstes Mal hätte ich mir niemals vorstellen können!

Beseelt von dem Gedanken, nun eine richtige Frau zu sein, ging ich zwei Stunden später beschwingt nach Hause. Kaum dort angekommen, empfing mich meine Mutter mit einer schallenden Ohrfeige. „Wie konntest Du nur?!!“ schrie sie mich an. Dann verstand ich nur noch was wie „Vertrauensbruch“, „das Versprechen, das Timo meinem Vater gegeben hatte“, „Hausarrest für die nächsten vier Wochen“. 4 Wochen??? Schockiert rannte ich in mein Zimmer, verriegelte die Tür und heulte. Nicht, weil ich irgendetwas des heutigen Nachmittags bereute, sondern  wegen der Ohrfeige und der damit verbundenen Demütigung.

Ich würde einen Weg finden, Timo weiterhin zu treffen, da war ich mir sicher! Unsere Liebe war so groß, die würde alles überstehen! Am Abend rief ich heimlich Timo an. Er erzählte mir, dass auch er mächtig Ärger bekommen hatte mit seinen Eltern. Sein kleiner Bruder, der wohl an diesem Nachmittag zu hause war und den wir vor lauter Vorfreude gar nicht bemerkt haben,  hatte uns offensichtlich durchs Schlüsselloch beobachtet und sofort alles seinen Eltern erzählt. Und die riefen gleich meine Eltern an. Wie peinlich!

Während der kommenden 4 Wochen konnte ich Timo tatsächlich nur kurz in den Schulpausen sehen. Meine Eltern achteten akribisch darauf, dass ich sofort nach der Schule nach Hause kam und ließen mich nicht mehr aus den Augen. Aber wir schrieben uns Briefe, die wir uns in den Pausen heimlich zusteckten. Die Briefe versteckte ich in meinem Zimmer, wo ich sie wieder und wieder las. So oft, dass ich die meisten schon auswendig konnte.

Als ich kurz darauf meine Tage bekam, war ich fast ein wenig enttäuscht. Ich hatte mir schon ausgemalt, zusammen mit Timo und unserem Baby in einer gemütlichen kleinen Wohnung zu sitzen. Nur wir drei.

Endlich, endlich waren die 4 Wochen vorbei und ich durfte wieder Freunde besuchen. Das Versprechen, Timo nie mehr wieder zu treffen, gab ich meinen Eltern mit hinter dem Rücken verkreuzten Fingern. Und natürlich sah ich ihn wieder! Allerdings nicht bei ihm zu Hause. Denn auch seine Eltern fanden, dass er zu jung für eine Mädchenfreundschaft sei. Spießer!

Also ging ich wieder öfter mit Tessy spazieren. So ein Hund braucht eben viel Auslauf!

Ich glaube, meine Eltern waren froh, dass ich so viel an der frischen Luft war und weitere lästige Fragen und Vorschriften blieben aus.

Doch nach und nach veränderte sich das Verhältnis zu Timo. Er war oft genervt, wenn ich zu spät zum Treffpunkt kam, weil ich nicht pünktlich von zu Hause loskam. Wir fingen an, uns wegen Kleinigkeiten zu streiten. Irgendwie schienen unsere Schmetterlinge davongeflogen zu sein, ohne dass wir es bemerkt hatten. Knappe drei Wochen später trennten wir uns.

Wir gingen beide getrennte Wege und lebten getrennte Leben. Erst viele Jahre später, als ich ihn zufällig in einem Biergarten im Arm einer wasserstoffsuperoxydgefärbten Blondine wieder sah, war ich froh, dass ich damals nicht schwanger geworden war. Timo sah genau so aus wie sein Vater. Nur eine jüngere Version davon. Ich erinnerte mich an eine Unterhaltung mit dem Timo von damals, der mir schwor, niemals so zu werden wie sein Alter.

Ein leises Lächeln konnte ich mir nicht verkneifen.

 

Geschafft, gerade noch den Bus erwischt! Gleich seh ich Dich wieder! Timo! Allein schon die Art, wie Du Dein Haar trägst. Voll, kinnlang, im Trend der Zeit über die Augen gefönt.  

Ich schätze Dich auf 15. Fast alle in Deinem Alter haben so eine „Pudel-Föhnfrisur“, bei der man die Augen nicht sieht. Aber ich weiß, dass Deine braun sind. Ich weiß es einfach!

Und ich werde Dich nicht ansprechen! Was sollte ich Dir auch sagen? Du bist glatte 35 Jahre jünger als ich! Aber ich danke Dir für die schönen Erinnerungen, die Du in mir wachgerufen hast! Ich freu mich auf morgen!


 

                                                                                                                           E N D E          
                                                      

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.07.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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