Elfie Böttger-Bohlen

Bis dass der Tod uns scheidet

Marga öffnete die Haustür. Ihre leicht schrägstehenden, grünen Augen richteten sich prüfend auf die große, schlanke Gestalt der Krankenschwester. Was sie sah gefiel ihr. Auch wenn sie sich die Frau, welche ihr bei der Pflege ihres Mannes helfen sollte, ein wenig anders vorgestellt hatte. Wie genau, konnte sie nicht einmal sagen. Auf jeden Fall nicht in Jeans und Turnschuhen. Vielleicht eher in der Tracht einer Diakonisse. Mit weißer Haube und schwarzen Schnürstiefeln. Eifrig auf einem Fahrrad durch die Straßen eilend. Aber wahrscheinlich waren ihre Vorstellungen in dieser Beziehung doch ein wenig veraltert. Heutzutage arbeiteten freie Schwestern in der Gemeinde. Und sie kamen mit dem Auto. Die Zeit der Diakonissen war lange vorbei.
„Hallo", sagte die Schwester freundlich, „hallo, da bin ich!"
Eine warme, kräftige Hand streckte sich Marga entgegen. „Ich bin Schwester Eva, sind sie Frau......"
„Marga", antwortete Marga schnell, und ergriff die ausgestreckte Hand, „nennen sie mich einfach Marga!"
„Gut, Marga, darf ich hereinkommen? Oder wollen sie meine Hilfe nicht mehr?"
„Doch, doch, ja sicher", antwortete Marga ein wenig verlegen, „kommen sie doch bitte herein."
Eva betrat den geräumigen, hellen Flur. Dort blieb sie zögernd stehen.
„Wo geht's denn hin?" wandte sich an Marga, welche, immer noch ein wenig verlegen, hinter ihr stand.
„Gehen wir in die Küche, dort können wir alles erst einmal in Ruhe besprechen. Ich habe uns Kaffee gekocht."
Mit einer leichten Handbewegung wies Marga der Schwester den Weg.
Die Küche des Hauses war freundlich und modern eingerichtet. Ein kleiner, runder Marmortisch stand unter dem Fenster. Darauf eine Schale mit frischem Obst. Zwei schwarze Bistrostühle rundeten das Bild von Gemütlichkeit ab. Überrascht schaute Eva sich um. Diese Küche passte so gar nicht zu dem Einrichtungsstil, welchen sie von älteren Menschen gewohnt war. Und da sie die Atmosphäre in Wohnungen immer im engen Zusammenhang mit dem Lebensstil der Bewohner sah, machte sie sich auf weitere Überraschungen gefasst. „Mein Mann ist schwerkrank" , begann Marga das Gespräch, „er leidet unter einem bösartigen Gehirntumor. Spezialisten im In- und Ausland haben wie konsultiert. Alle gaben sie die gleiche Prognose. Auch die durchgeführte Operation hat nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Im Gegenteil. Der Tumor wächst weiter. Es geht meinem Mann von Woche zu Woche schlechter. An manchen Tagen ist er kaum noch in der Lage, das Bett zu verlassen. Er ist so kraftlos geworden. Und auch sein Lebensmut wird weniger. Er kennt seine Erkrankung und weiß über alles Bescheid. Wir machen uns da nichts vor. Ich helfe ihm so gut ich kann, aber alleine schaffe ich seine Pflege nicht mehr."
Eva nickte verständnisvoll. Sie wusste, was da auf Marga und ihren Mann zukam.
„Hat er starke Schmerzen?", fragte sie Marga.
„Nein, er hat keine Schmerzen", antwortete diese und schüttelte langsam den Kopf.
„Gar keine?", fragte Eva ungläubig und schaute Marga direkt in ihre schrägstehenden, grünen Augen.
„Nein. Gar keine!"
„Welche Schmerzmittel geben sie ihm? Bekommt er Morphium?"
„Nein. Ich gebe ihm kein Morphium. Er bekommt überhaupt keine Medikamente", sagte Marga schlicht. „Und jetzt kommen sie, ich zeige ihnen meinen Mann."
Die Frauen stiegen die Treppe hinauf in die obere Etage. Dort befand sich das Schlafzimmer des Ehepaares. Marga trat an das Bett ihres Mannes, und bedeutete Eva näher zu kommen.
„Adrian", sagte sie leise zu dem Kranken, „Adrian, ich möchte dir die Schwester vorstellen. Sie wird dich heute waschen."
Adrians Blick heftete sich ergeben auf seine Frau. Er lächelte. Dann drehte er den Kopf und betrachtete Eva.
„Gut", sagte er mit dunkler Stimme, „es ist gut. Bleib aber bitte in der Nähe Marga, vielleicht brauchen wir dich."
Mit geübten Griffen half Eva dem Kranken aufzustehen. Sie schlang den Arm um seinen Körper und führte ihn so, vorsichtig stützend, ins Bad. Dort begann sie ihn zu waschen. Jahrelange Routine sprach aus jeder ihrer Bewegungen. Als Marga sah, dass Adrian in guten Händen war, zog sie sich leise zurück. In der Küche wartete sie auf Eva.
„Sagen sie Marga, wie kommt es, dass ihr Mann bei diesem Krankheitsbild keinerlei Medikamente braucht?" Eva stand aufbruchbereit in der Tür. Aber ihre Neugierde war zu groß, als dass sie, ohne diese Frage gestellt zu haben, das Haus verlassen konnte.
„Alle Ärzte wundern sich darüber", antwortete Marga, „und niemand will es glauben. Dabei ist es ganz einfach. Mein Mann und ich, wir haben ein bestimmtes Ritual. Das wiederholen wir tagtäglich."
„Was für ein Ritual ist das? Verraten sie es mir?"
Eva hoffte, mit dieser Frage kein Tabu verletzt zu haben.
„Wenn ihr Denken nicht ausschließlich durch die Schulmedizin geprägt ist, dann werden sie es verstehen." Bedeutungsvoll sah Marga die Schwester an.
„Ich glaube, dass es da noch jede Menge mehr gibt", entgegnete ihr Eva.
„Gut, dann werde ich ihnen unser Geheimnis verraten. Jeden Abend setzte ich mich an das Bett meines Mannes. Ich nehme seine Hände in meine, schaue ihm fest in die Augen und sage ihm immer wieder den selben Satz. Ich sage: "Du wirst jetzt einschlafen, du wirst die ganze Nacht schlafen, und Morgen wirst du aufwachen. Du wirst keine Schmerzen haben, den ganzen Tag lang wirst du keine Schmerzen haben, solange ich es dir sage....."
Das ist das ganze Geheimnis, und wie sie selber sehen können, wirkt es."
„Dann haben sie wahrlich eine ganz besondere Gabe." Kopfschüttelnd öffnete Eva die Haustür.
„Ja", lächelte Marga, „ja, die habe ich. Bis Morgen Eva, und fahren sie vorsichtig. Die Straßen sind glatt."
Immer noch lächelnd schloss sie hinter der Schwester die Tür.
Am nächsten Tag war Eva wieder pünktlich zur Stelle, versorgte Adrian und ging anschließend zu Marga in die Küche. Wieder stand ein frischer Kaffee auf dem kleinen, runden Marmortisch und Marga lud sie herzlich dazu ein.
„Sagen sie, Eva", begann Marga das Gespräch, „sie sprachen gestern von meiner besonderen Gabe. War das ihr Ernst?"
„Ja Marga, das war mein voller Ernst!"
„Dann möchte ich ihnen noch etwas erzählen. Interessiert es sie?"
„Es interessiert mich sehr, Marga. Was ist es?"
„Wissen sie, in letzter Zeit passieren mir so seltsame Dinge. Nicht, dass ich sie provoziere, sie passieren einfach. Das war früher nicht so. Angefangen hat es eigentlich mit der Erkrankung meines Mannes. Ich wollte mich damit nicht abfinden und habe viel nachgedacht. Eines Tages hörte ich im Radio einen Beitrag über Gehirntumoren. Er lief auf einem Sender, den ich normalerweise niemals höre. Ich hatte ihn auch nicht eingestellt. Wie dem auch sei. Man sprach über die Grenzen der Schulmedizin und über alternative Heilungsmethoden. Es wurde auf Literatur hingewiesen. Ich habe mir diese Literatur besorgt und ausführlich gelesen. Dabei ist es dann zum ersten Mal passiert. Jetzt bin ich mir selber unheimlich. Ich glaube ich kann etwas, was ich selber nicht verstehe, und auch nicht steuern kann."
Verständnislos schaute Eva Marga an.
„Da müssen sie schon etwas genauer werden", antwortete sie, „so sagt mir das nicht viel."
Marga zögerte ein wenig. Dann stand sie auf, öffnete die Tür der Vitrine und holte eine Tasse hervor. Triumphierend hielt sie sie Eva entgegen. Dabei zeigte sie auf die Stelle, an der der Henkel fehlte.
„Das meine ich. Sehen sie" , begann sie ihre Erklärung. „Ich saß am Küchentisch, dort wo sie gerade sitzen. Vor mir stand diese Tasse Kaffee. In Gedanken versunken starrte ich auf den Henkel. Ich dachte an meinen Mann, und wie das alles weiter gehen sollte. Plötzlich hörte ich klack, und der Henkel der Tasse sprang ab!"
Ungläubig zog Eva die Augenbrauen zusammen. Sie nahm die Tasse in die Hand und betrachtete sie von allen Seiten.
„Vielleicht hatte der Henkel schon einen Sprung, und der heiße Kaffee hat ihm den Rest gegeben", suchte sie nach einer Erklärung.
„Ja, vielleicht", spöttelte Marga, „und was sagen sie dazu"?
Ihre grünen Augen richteten sich auf die Obstschale, die immer noch mitten auf dem Tisch stand. Mit starrem Blick fixierte sie einen Pfirsich, welcher zu oberst auf dem dekorativ aufgeschichteten Obstberg lag. Evas Blicke folgte ihr. Fassungslos beobachtete sie ein paar Augenblicke später, wie sich die Frucht in Bewegung setzte. Mit einem dumpfen Geräusch fiel sie auf die Marmorplatte, rollte über den Rand des Tisches hinweg, fiel auf den Küchenfußboden, und blieb dort in einer kleinen Pfütze aus Saft liegen.
An diesem Tag verließ Eva das Haus eher fluchtartig, als das sie sich ordnungsgemäß von Marga verabschiedete.
„Oh Gott", murmelte sie, als sie in ihrem Wagen saß, „oh Gott, bewahre mich vor so etwas!"
Am nächsten Morgen war sie sich sicher, die Ereignisse des Vortages nur geträumt zu haben. Pflichtgetreu fuhr sie zum Haus von Marga und Adrian. Sie versorgte den Kranken und ging anschließend hinunter in die Küche.
„Heute geht es ihrem Mann sehr schlecht" , berichtete sie Marga, und setzte sich an den Küchentisch.
„Ja, Eva, ich weiß."
Ein Blick in Margas grüne Augen genügte und sie wusste, dass sie nichts geträumt hatte.
Eine seltsame Faszination ergriff sie. Unfähig, sich dem Blick dieser Augen zu entziehen, starrte sie Marga an. Sollte es wirklich wahr sein, dass es Menschen gab, die übernatürliche Fähigkeiten besaßen?
„Sagen sie Marga", begann Eva und räusperte sich, „können sie noch mehr solcher.... nun sagen wir mal.... Kunststücke?"
Marga nickte wortlos. Ein paar Atemzüge lang schien sie zu überlegen. Dann verließ sie den Raum. Kurz darauf kam sie mit einem weißen Blatt Papier, und einem Stift in der Hand zurück. Beides legte sie vor Eva auf den Marmortisch.
„Schauen sie mich an und schreiben sie!"
„Ich verstehe nicht", antwortete Eva.
„Nehmen sie den Stift in die Hand, setzen sie ihn aufs Papier, und schauen sie mich an. Denken sie dabei an gar nichts!"
Eva tat was Marga verlangte. Sie setzte den Stift an, grad so als wollte sie schreiben. Ihren Blick heftete sie fest auf Marga. Als ihre Hand zu schreiben begann, war sie versucht ihren Blick nach unten zu richten. Aber Margas Augen hielten sie fest. Beide Frauen sprachen kein Wort.
Mit ruhigen, gleichmäßigen Zügen glitt der Stift über das Papier. Eva tat nichts dazu, außer das sie den Stift hielt. Ihr Herz klopfte heftig. Gedanken hatte sie nicht.
Es erschien ihr eine Ewigkeit vergangen zu sein, als sie erwachte. Auf dem Blatt vor ihr stand ein einziger Satz.
Pass auf Adrian auf, er braucht dich!
Die Schrift war klar und deutlich. Allerdings entsprach sie nicht dem Schriftbild, welches sie üblicherweise hatte. Marga nickte bedeutungsvoll.
„Dieses Ergebnis hatte ich erwartet."
Sie griff in die Tasche ihres Kleides und zog ein zusammen gefaltetes Blatt Papier hervor. „Lesen sie das."
Zögernd nahm Eva das Blatt entgegen. Sie faltete es auseinander und las.
Pass auf Adrian auf, er braucht dich! stand auch dort.
„Diesen Satz habe ich „geschrieben". Heute Früh, bevor sie kamen."
„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Marga. Bedeutet das, dass sie mir, nun sagen wir mal, den Satz in die Feder diktiert haben?"
„Wer weiß" , lächelte Marga bedeutungsvoll. „Ich glaube, ich sollte jetzt nach Adrian schaun. Adieu, Eva. Und fahren sie vorsichtig. Die Straßen sind glatt."
„Ja, danke Marga, bis Morgen."
Müde stieg Marga die Treppe hoch in die obere Etage. Leise betrat sie das eheliche Schlafzimmer und setzte sich zu ihrem Mann ans Bett.
„Adrian, mein Liebling, gib mir deine Hand."
Adrian drehte den Kopf und schaute sie ergeben an.
„Ja?", flüsterte er.
"Du wirst jetzt einschlafen mein Liebster. Und Morgen wirst du nicht aufwachen........."

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.10.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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