Hans Werner

Der Weg ins Grenzenlose

Erzählung von
Hans Werner

An trüben, regnerischen Tagen kleben Tropfen an den Fensterscheiben und verschleiern den Blick. Wie Regentropfen mindern auch Tränen die Sehfähigkeit. Beide haben sie eine reinigende Wirkung. Der Tau des Himmels verklärt die Farben und gibt ihnen ihre ursprüngliche Leuchtkraft zurück. So ist das Wasser der Wolken mit einem Naturbad vergleichbar, welches von Pflanzen, Tieren und Menschen den Sonnenstaub abwäscht. Die Tränen, der Tau der Seele, geben den Augen ihre Leuchtkraft zurück, obgleich sie die Sehfähigkeit mindern. Allen Seelenkummer schwemmen Sie aus dem Menschen heraus, den dieser in Zeiten großer Aktivität und schmerzlicher Konflikte in sich angestaut hat. -
Jochen weinte. Seine weichen, braunen Augen schimmerten im Glanz der Tränen. Im roten Clubsessel saß er vor mir und schaute zu mir auf, sein schmales Haupt in seine große, gepflegte Hand gestützt. Jochen war mein Freund, und ich erinnere mich noch gut an die Anmut seiner Bewegungen, an seine sanfte belegte Stimme, seine ruhige Art, mit der er mir und allen Menschen begegnete. Er saß vor mir im roten Clubsessel und sagte mit seiner sanften, weichen Stimme, die überhaupt nicht männlich wirkte:
"Sie hat mich verlassen!"
"Warum?" fragte ich.
"Weil sie mir nicht folgen konnte."
"Wohin wolltest du denn mit ihr gehen?"
"Ins Unermessliche, ins Grenzenlose!"
Ich verstand Jochen nicht. Was meinte er mit dem "Unermesslichen", dem "Grenzenlosen"? War es sein geistiges Streben, sein Verlangen nach Er¬kenntnis? War es jenes Bemühen um neue und bessere Gedanken, das ich so gut an ihm kannte? War es der Wunsch, sich kein Ziel zu setzen, um sich alle Ziele offen zu halten? War es sein Drang nach Freiheit, nach Ungebundenheit, der Wunsch, alles im Bereich des Vorläufigen zu belassen, um sich alle Mittel verfügbar zu halten für eine große Aufgabe, für eine prophetische Mission, für eine herausragende und einmalige Sendung?
Ich fragte ihn: "Jochen, was willst du?"
Bedächtig wiegte er sein schmales Haupt hin und her, als ob das Gewicht der Frage schwer auf ihm lastete, darauf sagte er:
"Ich will die Pforten meiner Persönlichkeit aufreißen, will die Grenzen meines Ichs sprengen, ich will mehr sein als nur "ich". Ich will über mein vereinzeltes Schicksal hinauswachsen, will mir Seele, Phantasie und Geist so heranbilden, dass sie ahnungsweise an allem Leid und aller Freude der ganzen Menschheit teilhaben können."
Jochen hatte langsam gesprochen, zögernd und bedächtig, als ob er sich an die Worte herantasten müsste. Ich ließ seine Gedanken auf mich einwirken, sie eher physisch nachempfindend, gefühlsmäßig auskostend, als logisch sie zu zergliedern. Schließlich stellte ich ihm, jedes Wort betonend, die alles entscheidende Frage:
"Liebst du Verena?"
"Wie keinen anderen Menschen!" antwortete Jochen und weinte dabei leise in sich hinein.
"Und warum liebst du sie?"
"Weil sie schön ist und an allem Anteil nimmt, was mich bewegt."
"Aber Jochen, dann müsste sie dir doch auch folgen auf deinem Weg ins Unermessliche, ins Grenzenlose?"
Es entstand eine Stille. Anscheinend hatte ich mit dieser Frage den Brennpunkt und Siedepunkt seines seelischen Schmerzes berührt, denn in gesteigertem Tone und nun plötzlich leidenschaftlich werdend fuhr er fort:
"Das ist es ja! Sie liebt mich so sehr, dass sie mich auf diese meine Person, wie ich mich ihr augenblicklich darstelle, fixieren, ja festnageln möchte. Sie beteuert mir oft, wie schön und gut sie mich findet, wie sie meinen Gedanken nachschwärmt, wie sie meinen Gang belauscht, um den Rhythmus meiner Schritte nachzuempfinden. Alles, was ich mache und tue, findet sie gut, schön und erhebend. Sie bietet mir die völlige Anerkennung meiner jetzigen Person.
Und---.»
Jochen brach ab und schwieg. Er fuhr sich mit der Hand über die tränenfeuchten Augen, dann durchschüttelte es ihn mit neuer Pein, schließlich begann sein Mund wieder Worte zu formen:
" - - - und dabei fühle ich doch so sehr meine Unvollkommenheit, meine Unfertigkeit. Ich spüre, dass ich mich von mir weg entwickeln muss, um meine Phantasie zu stärken und geschmeidig zu machen. Wenn ich länger bei Verena bleibe, dann werde ich zum Egoisten, dann muss ich erstarren in unfruchtbarer Selbstvergötterung."
"Aber Jochen, dann bist doch du es, der Verena verlassen hat, oder nicht?" fragte ich.
„Nein, ich wollte bei ihr bleiben, denn ich liebe sie wie keinen anderen Menschen. Aber gestern habe ich selbst, ohne es zu wollen, nur aus der Wahrhaftigkeit der Liebe heraus, eine Szene heraufbe¬schworen, die sie nicht verkraften konnte, die ihre Seele so stark verletzte, dass sie mir plötzlich gellend zurief, sie könne mich nicht mehr lieben. Wie ein getroffenes Tier rannte sie panisch und aufheulend durchs Zimmer, bis sie dann schließlich die Türöffnung fand und ins Freie entwich. 'Auf Wiedersehn‘ sagte sie nicht.“
Nicht ohne Erregung konnte ich die Worte meines jungen Freundes anhören, denn ich fühlte ganz stark, wie sein Schmerz auch mich ergriff und innerlich aufwühlte.
"Was hast du denn eigentlich zu ihr gesagt?"
"Ich sagte ihr", fuhr Jochen fort - er war nun ganz in Eifer geraten - "ich sagte ihr, sie solle mir helfen, meine Fehler zu finden, und mich auf all das aufmerksam machen, was an mir nicht gut ist. Sie solle mich nicht so lieben, wie ich jetzt gerade bin, sondern wie ich später einmal sein könnte, vielleicht einmal sein müsste. Als ich dieses alles zu ihr sagte, merkte ich schon, wie sie bei jedem meiner Worte schmerzlich zusammenzuckte, und als ich ihr dann die Abgründe meines Innern auftat, ihr von den Verirrungen meiner Seele, von den wahnsinnigen Zerrbildern meiner Phantasie erzählte, als ich ihr begreiflich zu machen versuchte, dass ich aus Mitleid mit dem Leid der Menschheit jedwede denkbare Seelenpest in mir aufge¬häuft hätte, um den Abgrund des Menschlichen auszukosten und durch¬zustehen, da war es wohl so, dass ich ihr einen liebgewordenen Schatz raubte, dass ich sozusagen das Heiligtum ihrer Liebe schändete, dass ich im Begriff war, ihr einen Glauben zu nehmen, den sie in ihrer schlichten Naivität um meine Person herum aufgebaut hatte.
Sie schrie mich an: 'Du bist gut, du willst es nur nicht wahrhaben, du willst nicht so sein, wie die Natur, die große Mutter, dich geschaffen hat. Du willst das sichere Land deiner Anlagen verlassen und dich emporschwingen in die eisige Kälte deiner grenzenlosen Menschheitsliebe. Und dabei spürst du gar nicht, wie lieblos du dabei wirst‘.
Ich versuchte, ihr zu erklären, dass meine Gedanken mein eigenes Ich verlassen müssten, um die finstersten Triebregungen gemeiner Menschen in mich aufzunehmen. Ich müsse Christus nachfolgen, der mit Dirnen und Zöllnern, dem Abschaum der Gesellschaft, getafelt habe. Ich müsse das grenzenlose Leiden der geplagten Triebmenschen mitfühlen, um teilzuhaben an deren Geschick. Soweit sei mein Weg in die Tiefe. Aber, fuhr ich fort, es gebe auch einen Weg in die Höhe. Ich müsse mir den Schmerz all jener Menschen aufladen, die um ihrer Ideale willen leiden, geplagt und gefoltert werden. Denn gerade jene Heroen des Geistes, die sich ganz von Geld, Gut und Bindung freimachten, seien wahrhaft richtungsweisend für meinen Weg nach oben. Mein Weg müsse durch alle Höhen und Tiefen der Lebens¬läufe gehen, nur dann habe mein eigenes Ich die Chance und Gelegenheit, sich zur vollen Blüte zu entfalten."
Eine geraume Zeit schwieg Jochen, allmählich sprach er weiter:
"Nachdem ich das alles gesagt hatte, kam jene Panik über sie, von der ich vorhin gesprochen habe. Sie warf mir vor, heulend, schluchzend, röchelnd: 'Du kannst nicht lieben, du bist ein eiskalter Egoist. Du bist ein Vollkommenheitsfanatiker, ein radikaler Ge¬nussmensch des Lebens, du frisst die Gefühle in dich hinein wie die Mahlzeiten, die ich dir immer zubereitete und welche du dir in aller Behaglichkeit schmecken ließest. Du bist abscheulich, ich kann dich nicht mehr lieben‘! Dann verließ sie mich.
Die Stille, welche nun eintrat, war vergleichbar mit einer musikalischen Generalpause, es war wie ein Atemholen des Herzens, eine Moment der geistigen Bewusstwerdung, eine intellektuelle Bilanz, die darauf hinauslief, dass sich in diesem Augenblick des Schweigens und der emsigen gedanklichen Tätigkeit Ideal und Wirklichkeit einander begegneten, sich erbitterten Kampf ansagten, um sich wohlweislich am Ende wieder gütlich zu versöhnen. Es war eine Stille des Wartens und der Entscheidung. Das Reden war an mir. Ich mochte Jochen gut leiden, denn ich hatte ihn in seiner ganzen Art, so wie ich ihn bisher kannte, von Herzen liebgewonnen. Aber ich war dennoch er¬schrocken über den vulkanartigen Ausbruch seiner Empfindungen, und noch mehr über die vermessene Ziellosigkeit seiner Absichten, über die amoralischen Tendenzen seines Gemüts und über diesen radikalen Willen, seine eigene Entwicklung konsequent zu verfolgen. Und dabei war doch das Ursprüngliche, die Grundabsicht meines Freundes, gut und edel. Der Zorn und der Eifer seiner Worte hatten zwar die anfänglichen Tränen etwas hinweggefegt, aber war da nicht ehrliches Leid, ehrlicher Kummer, ehrliche Seelennot, weil das geliebte Kind, die arglose Verena, an dieser gigantischen Seele erschrecken und an ihrer Liebe irre werden musste!?
Ich fasste Jochen behutsam bei der Hand. Als er meine Berührung spürte, hob er den Kopf, den er gedankenversunken hatte sinken lassen, und sein erwartungsvoller Blick traf mich ins Innerste.
"Mein lieber, über alles lieber Mensch, du guter Junge, den Weg ins Grenzenlose findet man nicht durch gewaltsame Zerstörung der Grenzen. Die wahren Lebensreichtümer sind gute vollbrachte Leistungen, sind die Werke, mit denen wir die Menschheit um uns ernähren und speisen. Nicht das Gedachte und Geplante zählt am Ende, sondern das Erreichte, das Vollbrachte. Nimm dich und deine Grenzen an, genüge dir in deiner Beschränktheit, umzäune den Garten deines Ichs, stecke das Feld deines Wesens ab, sichte das Terrain deiner Persönlichkeit. Und dann pflanze Blumen der Liebe, gestalte deinen Garten mit Sorgfalt und Hingabe. Pflücke und ernte und verteile mit vollen Händen, was die Natur dir schenkt.
Man muss das Leid nicht gewaltsam herbeisehnen, wir werden früh genug in die harte Lebensschule genommen, in der uns nichts erspart bleiben wird. Wir müssen aber, bevor die Lebens¬schule beginnt, gelernt haben, uns zu freuen. Denn nur mit der Freude besiegen wir die widrigen Schicksalsmächte, den Kummer und Verdruss. Pflücke in deinem Garten einen bunten Blumenstrauß und geh und eile und säume nicht und bringe Verena diesen Strauß. Und bringe dich selbst mit, mit all deinen guten Seiten, deinen Anlagen, deinen charakterlichen Besonderheiten, denn dieses Ganze, die Gesamtschau all deiner Wesenszüge, ist in Wahrheit der Garten, von dem ich sprach. Und dieser Garten verharrt nicht in starrem Sein. Alles, was du an dir findest, ist vergleichbar mit hundertfältigem Samen, der sich in launischer Vielfalt entwickeln wird, und dann der liebenden Pflege bedarf. Und mit einem will ich schließen", sagte ich, indem ich bedeutungsvoll absetzte und Jochen in die Augen sah, „das Leben ist manchmal sehr knauserig mit den Angeboten der Liebe. Entscheidend aber ist die Kraft deines Gefühls. Lieben ist mehr, ist viel mehr als nur Geliebtwerden. Selbst wenn wir bei niemandem Gegenliebe finden würden, aber dabei alle aus unversiegbarer Herzens¬quelle lieben könnten, dann wären wir glücklicher und besser dran als jener verwunschene Märchenprinz, der von der unfreiwilligen Liebe aller verwöhnt und verdorben wurde. Pflege die Kraft deines Gefühls, aber bleibe bei dir selbst, dann findest du am schnellsten zum Nächsten."

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.08.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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