Marina Schulze

Der eitlen Lieb vernebelt Aug

Viktor Lang, von seinen Freunden wegen seiner unbändigen Leidenschaft zum Wein, von dem er sich täglich mehrere Liter genehmigte, nur Graf Bordeaux genannt, waren die zarten, empfindsamen Gefühlsanwandlungen der Liebe nur all zu gut bekannt. Jeden Tag, wenn er sein Gesicht im Spiegel sah, überkamen sie ihn aufs neue. Und das nicht ganz grundlos: Er hatte ein angenehmes, adrettes Äußeres, auf dass er Stolz sein konnte und in das er einiges an Zeit und Geld investierte. Er ließ sich jede Woche einen neuen Anzug schneidern, um nur ja immer nach der neuesten Mode gekleidet zu sein und war auch stets nach der allerneusten Mode frisiert. Ja, Viktor wusste nur allzu gut von der Liebe. Doch er hätte sich nie vorstellen können, jemals einem anderen menschlichen Wesen solche Gefühle entgegenzubringen. Bis er eines schicksalhaften Tages auf eine kleine Tänzerin namens Marie traf. Marie Claire war die Tochter eines reichen Kaufmanns, der sie nach strich und faden verwöhnte, dagegen ihre jüngere Schwester ignorierte. Er tat dies nicht aus Böswilligkeit. Seine damalige Frau pflegte jahrelang mit seinen verschiedenen Lehrlingen und Gesellen einen allzu vertrauten Umgang. Doch selbst als das Kind geboren wurde hätte er nichts davon gewusst, wenn nicht der leibliche Vater, ein schlaksiges, blasses Bürschchen, stammelnd und mit der Mütze in der Hand, ans Kindbett gekommen wäre. Er jagte sie fort, behielt aber aus Mitleid das Kind. Von all dem wusste Marie nichts. Daher fühlte sie sich ihrer kleinen Schwester gegenüber immer überlegen. Als sie acht Jahre alt war, starb ihr Vater. Doch auch diesmal war ihr Fortuna hold. Eine jüngere Cousine ihres Vaters leitete eine angesehene Ballettschule. Sie bemerkte bei ihr eine gewisse Veranlagung fürs Tanzen und nahm sie bei sich auf. Ihre kleine Schwester jedoch wurde auf ihren Landsitz untergebracht, wo sie von einer Schar Gouvernanten aufgezogen wurde. Zum ersten Mal musste sie sich in ihrem Leben die Aufmerksamkeit anderer Leute verdienen. Doch da sie im Tanzen Talent bewies, machte es ihr nichts aus. Mit der Zeit wuchs bei ihr das Gefühl, etwas besonderes zu sein. Einige Jahre später war sie der gefeierte Star des Balletts. Ihre Technik war nicht ganz so gut wie die der anderen Mädchen, doch glich sie das durch Leidenschaft wieder aus. Sie liebte das Tanzen. Wenn sie tanzte, steifte sie alles irdische ab, wurde zu einer filigranen Nymphe, die durch die Wälder hüpfte. Das Publikum war von ihr immer wieder aufs neue begeistert. Je berühmter sie wurde, desto mehr Verehrer bekam sie. Ihre Verehrer waren alle meist alt, reich und wohlhabend, oder jung und mittellos. Zuerst fühlte sie sich geschmeichelt, ließ sich von ihnen in luxuriöse Restaurants entführen und lauschte gebannt ihren Sonetten, wurde aber ihrer bald überdrüssig. Niemand von ihnen war es wirklich wert, von ihr geliebt zu werden. Auch heute, auf dem Ball von Mademoiselle Charlotte, einer reichen, entzückend kapriziösen Dame von Welt, war sie von einem Tross Bewunderer umringt. Sie machte sich von ihnen los, um sich ein Glas Wein zu holen, als ihr Blick an einen jungen, gut aussehenden  Mann hängen blieb. Er hatte schwarzes, welliges Haar, ein bleiches Gesicht und seine Augen waren von einem tiefen Glanz erfüllt, der ein Wesen mit Intelligenz versprach. Außerdem war er sehr geschmackvoll gekleidet, eine Seltenheit bei jungen, vermögenden Männern. Sie war von ihm recht angetan, doch wie sie merkte, nicht nur von seinem Äußerem. Junge, gut aussehende Männer traf man wie Sand am Meer. Nein, da war noch etwas anderes, was ihr Interesse weckte, auch wenn sie es nicht genau benennen konnte. Sie hatte das dunkle Gefühl, unter all den niederen Wesen endlich auf einen gleich gestellten getroffen zu sein. Und sie würde ihn sich nicht mehr wegnehmen lassen. Sie trank ihren Wein, trat auf ihn zu und bat ihn zum Tanz.
An diesem Abend verliebten sie sich ineinander. Und mit all der Leidenschaft, die Menschen besitzen, die immer geliebt wurden, jedoch nie selbst geliebt haben, kosteten sie dieses Gefühl voll und ganz aus. Sie wurden das Gesprächsthema der ganzen Stadt. Viktor und Marie traf man auf jedem noch so kleinen Ball oder Fest an, wobei sie es verstanden, jeden einzelnen Gast auf das fabelhafteste zu unterhalten, auch wenn sie selbst mal nicht die Gastgeber waren. Ihre Feste waren überall berühmt, man stritt sich regelrecht um die begehrten Einladungen. War jemand in den Besitz solch einer gekommen, konnte er sich fast einen Monat lang der Bewunderung und Eifersucht seiner Nachbarn sicher sein. Auch noch Monate nach diesen Festen wurden die Eingeladenen immer gern gesehen. Man lud sie zu Kaffe und Kuchen ein, wo man andächtig den Erzählungen über Langusten, Crepes und Bergen voll von exotischen, kaum bekannten Früchten lauschte. Es gab nur wenige Leute, die Viktor und Marie nicht ihre Ehrerbietung zollten, alte, konservative Gouvernanten und Greise, Relikte aus einer anderen Zeit, die Ihnen eine lose Moral vorwarfen und sich an den Umstand stießen, das die beiden nicht verheiratet waren, was den Rest der Gesellschaft nur um so mehr in ihren Bann zog. Alles, was sie sich nur in ihren sehnsüchtigsten Träumen erlauben würden, taten Viktor und Marie, offen und ohne Scham und die Leute liebten sie dafür. Doch es gab etwas an ihnen, was sie nicht kannten, etwas dunkles, gefährliches... . „Komm schon Viktor, wir werden erwartet!“, seufzte Marie genervt. Viktor stand vor dem Spiegel, überprüfte seine Erscheinung und warf nur einen flüchtigen Blick auf das Gesicht, dass sich hinter ihn spiegelte. „Wenn ich gewusst hätte, das sich mein Mann länger zurechtmacht als ich, hätte ich mir ein Weib gesucht!“, stöhnte sie wütend. Doch Viktor ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Meine Liebe, wirf mir doch meine Vorsicht nicht vor!“, sagte er. „Gutes braucht halt seine Zeit. Oder denkst du etwa, mein Aussehen bedarf keinerlei Anstrengung?“ Er drehte sich zu ihr um, maß sie mit kritischen Blick. „Dir könnte etwas mehr Sorgfalt auch nicht schaden.“, sagte er mit einem spöttischen Lächeln. Sie sah an sich hinunter, trat vor den Spiegel und steckte sich eine lose Haarsträhne fest. „Du hast keinen Grund, so gehässig zu sein, mein Lieber.“, sprach sie, nun mit etwas sanfterer Stimme. „Noch bist du recht ansehnlich, doch schon bald wirst du älter, dein Gesicht werden tiefe Furchen zieren, deine Muskeln erschlaffen und dein Bauch wird dicker. Dann werden andere besser aussehen als du während ich, noch eine ganze Zeit lang von meiner Schönheit profitieren kann.“, sagte sie gehässig. Auf einmal wurde Viktors Blick kalt. „Sei still!“, sagte er wütend. „Sag so was nicht! Du hast kein recht dazu!“ Er trat auf sie zu, so wütend, dass sie Angst bekam und zurückwich. Doch dann brach er vor ihren Füßen zusammen. „Bitte, bitte sag so etwas nie wieder.“, sagte er mit tränenerstickter Stimme. Ganz langsam ging sie zu ihm, legte ihre Hand auf seinen Kopf und streichelte sein Haar. „Ist ja schon gut.“, sagte sie sanft. „Das hätte ich nicht sagen sollen. Wie kindisch von mir. Nie wieder kommen diese Worte über meine Lippen, ich verspreche es dir.“ Er hörte auf zu weinen und sah zu ihr auf, wie ein Hund, der von seinem Herrchen geprügelt wurde. „Danke“, flüsterte er, nahm ihre Hand und küsste sie. „Nun sollten wir aber wirklich gehen.“ Der Abend verlief wie immer großartig. Victor und Marie waren die Glanzlichter des Abends. Mit ihrem charmantem Lächeln überstrahlten sie selbst den riesigen Kristalllüster, der extra für diesen Abend aus Paris importiert wurde. Niemand ahnte, das mit ihnen etwas nicht stimmte.
Marie beobachtete ihn mit Argusaugen. Victor benahm sich wie immer. Die Krise schien vorüber. Sie war gerade im Gespräch mit der reichen Mrs. Simmons vertieft, als Victor zu ihnen herüberkam. „Entschuldigen Sie das ich unterbrechen muss meine Damen, doch durch den Umstand, das ich heute noch nicht mit meiner bezaubernden Marie getanzt habe, scheint mir dies doch mehr als gerechtfertigt zu sein.“, sagte er, verabschiedete sich mit einer eleganten Verbeugung von der schmachtenden Mrs. Simmons und führte Marie zur Tanzfläche. „Danke.“, flüsterte sie. „Du hast mir das Leben gerettet. Hätte ich ihren erquicklichen Ergüssen über ihren ach so gescheiten Enkel und seinen musikalischen Greueltaten noch weiter zuhören müssen, so hätte ich sie sicherlich erwürgt. Und  ob wir dann noch zu weiteren Veranstaltungen eingeladen würden, wäre gewiss fraglich gewesen.“ Victor lachte: „Wahrscheinlich wären sie uns eher dankbar dafür, dass dieses schreckliche Frauenzimmer sie nicht mehr belästigte.“ Er beugte sich vertraulich zu ihr hinunter. „Weist du, was ich über sie herausgefunden hab?“ Marie schüttelte den Kopf. „Nun, ihr gesellschaftlicher Einstieg verlief nicht ganz so reibungslos wie sie uns immer weismachen wollte. Als sie eine kleine Debütantin von kaum siebzehn Jahren war, hatte sie ihre Kammerzopfe nicht richtig geschnürt. Es kam, wie es kommen musste. Sie beugte sich kurz hinunter um ihren Schuh neu zu schnüren, als sich ein meterlanger Riss auf ihrem Kleide ausbreitete. Deshalb trägt sie ja jetzt auch immer mehrere Korsette übereinander, um ihre üppigen Massen zu bändigen.“ Marie kicherte. Dann wurde sie etwas ruhiger. „Du, das heute Abend... . „Vergiss es einfach.“, sagte er schnell. „Ich war einfach schlecht drauf.“ Marie nickte. Sie verstand ihn. Er war wie sie, eitel, herrisch und unberechenbar. Sie hätte wahrscheinlich genauso reagiert, wenn er jemals so etwas schreckliches zu ihr gesagt hätte. Alles in allem war es ein schöner Abend. Sie tanzten, lachten und tranken viel zu viel. Der Abend neigte sich dem Ende zu und Victor und Marie wollten aufbrechen. Sie waren erst ein paar Schritte gegangen, da blieb Marie stehen. „Kommst du?“, fragte Victor mit bangem Blick. Marie lächelte. „Ich hab noch was zu erledigen.“, sagte sie mit übertriebener Fröhlichkeit. „Geh du schon mal vor, ich komm dann nach.“ Victor zuckte zusammen, als sich der gewohnte Stachel der Eifersucht tief in sein Herz bohrte. Wenn alle Welt sich fragte, warum sie denn noch immer nicht verheiratet waren, sagten sie immer, sie hätten nun mal ihre Prinzipien. Doch das war nicht der wahre Grund. Marie wollte sich einfach ihre kleinen Freiheiten bewahren. Das war an sich ganz okay, doch Victor konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, das ihr irgendein anderer Mann wichtiger war als er. Er war es gewohnt, im Mittelpunkt der allgemeinen Bewunderung zu stehen, daher war es für ihn um so schmerzvoller, das sie ihm nicht genügend Beachtung entgegenbrachte. Daher tat er etwas für ihm ganz untypisches: Er ging ihr nach. Sie bog in die nächste Straße ab, ging an dem Pub vorbei und in Richtung Park. Dort wurde sie schon erwartet. Ein kleiner, dicklicher Kerl kam ihr mit einem riesigen Blumenstrauß entgegen. Victor trat aus dem Busch, hinter dem er sich versteckt hatte, hervor. Marie erbleichte. „Victor, was für eine Überraschung!“, sagte sie mit deutlichem Entsetzen in der Stimme. „Was machst du denn hier?“ Victor sah sie nur an, kalt und abweisend. „Ich erwarte dich zu Hause.“, sagte er schroff. Dann nickte er dem Mann höflich zu und verschwand. Gegen Mitternacht kam sie zu ihm. Still und leise, ja fast reumütig, kam sie zur Tür geschlichen. Victor erwartete sie im Salon. „Bitte setz dich.“, sagte er und schob ihr einen Sessel hin. „Bedeute ich dir wirklich so wenig, das du mich mit so einem hintergehen musst?“ Marie schluckte. „Victor das ist ungerecht. Du weist ganz genau, dass dem nicht so ist.“, begann sie schüchtern. „Ach, ist das so?, schnaubte er. „Woher soll ich das denn wissen? Hast du mir denn je irgendwie deine Liebe gezeigt? Hast du mir denn je mehr entgegengebracht als eine Art schwesterliche Zuneigung?“ „Also jetzt übertreibst du!“, schrie sie ihn an. „Ich liebe dich doch du mieser Scheißkerl!“ „Wirklich?“, flüsterte er und sackte auf den Diwan zusammen. „Wieso sind wir dann immer noch nicht verheiratet?“ Marie stöhnte. „Du weist doch, was ich von der Ehe halte.“, sagte sie. „Und was sollte das überhaupt bringen? Die meisten Eheleute, die wir kennen, sind ganz und gar unglücklich.“ „Aber irgendein Versprechen musst du mir geben!“, schrie er. „Sonst gehe ich!“ Er packte seine Jacke und wandte sich der Tür zu. „Victor, bitte warte doch!“, schrie sie, geradezu panisch vor Angst. „Du weist doch wie viel du mir bedeutest! Alle anderen bedeuten mir nichts. Ich würde sie alle gegen dich austauschen!“ Gleich nachdem sie das gesagt hatte, wusste sie, dass das nicht stimmte. Sie liebte ihn, genauso wie sie sich selbst liebte. Doch er brachte ihr nicht die besondere Hochachtung entgegen, deren sie so bedurfte. Er liebte sie, dass war nicht zu leugnen. Aber er liebte sie so, wie ein König seine Königin liebt und achtete sie wie eine Gleichrangige. Sie brauchte ihren Hofstaat an sabbernden Trotteln, die ihr mehr Achtung entgegenbrachten als sich selbst und für sie alles tun würden. Doch eine Königin war nun mal nichts ohne ihren König, daher hielt sie tapfer stand. „Wirklich?“, fragte Victor und drehte sich zu ihr um. Marie nickte. „Ich brauche dich doch Victor.“, sagte sie und fiel in seine Arme. Eine zeitlang herrschte Frieden zwischen den beiden. Sie verbrachten fast jede Minute miteinander, tanzten, lachten und amüsierten sich blendend. Dennoch konnte Victor dem ganzen nicht trauen. Obwohl es nur eine Sekunde gedauert hatte, hatte er das Zögern bemerkt, bevor sie ihm ihr Versprechen gegeben hatte. Seitdem sah er in jedem Seufzen, Stöhnen und Räuspern ein Zeichen darin, dass sie am liebsten ganz woanders wäre. Er konnte diese nagende Eifersucht einfach nicht abschütteln. Wenn sie weggingen, beobachtete er sie jede Sekunde und bei ihrem Lachen, ihrem Gang und ihren Blicken überkam ihn eine schier unfassbare Wut, wenn es einem anderen galt. So groß wie seine Liebe zu ihr, so groß war nun sein Hass ihr gegenüber. Dieses verwöhnte Luder. Was bildete die sich eigentlich ein? Sie spielte doch nur mit ihm. Er war ihr kleiner Schoßhund, der um einen Knochen bettelte, den sie ihm nicht gab. Oder weshalb wollte sie ihn nicht heiraten? Er wollte ihr wehtun, ihr in ihr kleines, hübsches Gesichtchen schlagen, bis es ganz entstellt wäre, wollte sehen, wie ihr die Tränchen über die gebrochenen Wangenknochen kullerten und ihr höhnisch ins Gesicht lachen. Doch dann wollte er sich auch in ihre Arme werfen, sie mit küssen überschütten, ihre Hand halten und ihr stammelnd seine unsterbliche Liebe erklären. Verdammt, er liebte sie doch! Gott, wie sehr er sie liebte! Daher hielt er sich zurück. Er versuchte ja, der Harmonie zu trauen, wollte glauben, dass sie es ernst meinte, sie ihn liebte, als einzigen liebte. Sein Leben wäre so viel einfacher, wenn er es könnte. Doch er konnte nicht. Er traute ihr nicht über den Weg, wollte ihr aber dennoch nicht weiter hinterher spionieren. Deshalb ließ er sie beschatten. Er hatte genügend Kontakte zu einigen recht dubiosen Kerlen, die ihm alle noch was schuldeten. Seitdem wusste er immer, wo sie hinging, mit wem und zu welcher Zeit, was nicht ganz so spektakulär war, wie es sich anhörte. Wenn sie ohne ihn ausging, war sie hauptsächlich mit ältlichen, schrulligen alten Damen unterwegs, die sie immer Darling nannten und ihr immerfort kleine Aufmerksamkeiten zusteckten, wie seidene Taschentücher oder belgische Pralinen. Ansonsten war sie nur beim Coiffeur, bei der Maniküre oder bei ihrem Schneider anzutreffen. Sie tat genau das, was jede andere Frau am Anfang des 19. Jahrhunderts auch täte, was auch der Grund war, weshalb Victor so misstrauisch war. Denn wenn jemand nicht wie alle anderen war, dann war es Marie. Jeden anderen konnte sie so vielleicht täuschen, doch nicht ihn. Alle fanden sie so toll und perfekt und lagen ihr zu Füßen, doch er kannte ihr wahres Gesicht. Sie war genauso wie er, und daher alles andere als perfekt. Abends gingen sie wieder zu einer der Veranstaltungen, die nur abgehalten wurden, um ihr zu huldigen. Es war der Premierenabend eines neuen Balletts, in dem sie natürlich wieder einmal die Hauptrolle spielte. Sie gingen durch die Reihen und nahmen die Komplimente und Glückwünsche der Massen entgegen. Alle Augen waren auf sie gerichtet, niemand achtete auf ihn. Sie hätte ebenso gut einen Affen am Arm spazieren führen, keiner hätte es bemerkt. Victor kochte vor Wut. Marie jedoch, die sonst doch immer so sensibel auf jede noch so kleine Gefühlsregung von ihm reagiert hatte, schien nichts zu bemerken. Sie suhlte sich regelrecht in der Bewunderung der Leute. Tief in ihrem Inneren ahnte sie dunkel, dass das Victor gegenüber nicht fair war, aber sie genoss es doch so sehr. Ohne diese Bewunderung würde sie eingehen, wie eine Pflanze, der das Licht entzogen wurde. Sie würde es schon irgendwie wiedergutmachen. Er war doch noch nie nachtragend gewesen. Sie ließ ihn stehen, um sich etwas zu trinken zu holen, als sie von einem Mann angesprochen wurde, der ihr vollkommen fremd war. „Sie waren heute wirklich fantastisch, Miss Claire.“, sagte er und küsste ihre Hand. Marie bedankte sich gnädigerweise. „Ich muss ihnen ein Geständnis machen. Dieses Theater an sich ist keinen Pfifferling wert. Niemand hier ist wirklich mit Talent gesegnet, doch ihr Glanz lässt alle anderen erstrahlen. Man könnte selbst Glas für Diamanten halten, wenn es im richtigen Licht beleuchtet ist. Sie sind der große Fisch im kleinen Teich, Marie. Doch, seien wir mal ehrlich, hier vergeuden sie doch nur ihre Gabe. Ich interessiere mich sehr für die Kunst und trage mich schon lange mit dem Gedanken, selbst ein Theater zu errichten, habe jedoch noch niemand brauchbaren dafür gefunden. Es wäre mir daher ein großes Vergnügen, wenn sie sich daran beteiligen würden.“ Marie verlor kurz die Fassung, schluckte und starrte ihn mit großen Augen an. Doch dann fasste sie sich schnell wieder: „Ich danke ihnen sehr für ihr großartiges Angebot, doch ich bin schon seit mehr als zehn Jahren im Stadttheater. Es ist praktisch mein Zuhause, weshalb ich nicht gewillt bin, es zu verlassen.“ Ihr Gegenüber wirkte enttäuscht. „Das bedaure ich wirklich sehr Madam.“, sagte er bedrückt. „Doch wenn sie sich anders entscheiden sollten, melden sie sich bitte bei mir.“ Er gab ihr seine Karte und schlenderte zum Büffet. Marie sah ihm noch lange nach. Victor hatte diese Unterhaltung mit sehr aufmerksam verfolgt. Er konnte zwar ihren genauen Wortlaut nicht verstehen, hatte jedoch an der Art, wie sie sich dem Fremden gegenüber verhielt, eine ziemlich guten Eindruck bekommen. Das Gesicht des Mannes kam ihm merkwürdig bekannt vor, konnte ihn jedoch beim besten Willen keinen Namen zuordnen. Der Mann war recht ansehnlich, hatte allem Anschein nach hervorragende Manieren und war dazu auch noch geheimnisvoll. Er war genau die Art von Mann, der ihr gefallen könnte. Das und die Tatsache, dass sie da in der Ecke standen und leise miteinander tuschelten und sie keinerlei anstallten machte, ihn Victor vorzustellen, machte ihn gefährlich. Als Marie sich wieder zu ihm gesellte, fragte er sie, bemüht beiläufig: „Wer war eigentlich dieser Kerl da, mit dem du dich unterhalten hast? Ich kann mich nicht entsinnen, ihn schon mal auf irgendeiner Veranstaltung gesehen zu haben.“ Marie zuckte nur die Schultern. „Ach, was weiß ich.“, sagte sie lachend. „War nur wieder jemand, der meine künstlerischen Qualitäten zu würdigen wusste.“ Victor zog sie zu sich heran und küsste sie. „Niemand weiß deine künstlerischen Qualitäten mehr zu schätzen als ich, mein Schatz.“, sagte er zärtlich. „Du tätest gut daran, das nicht zu vergessen.“ Trotz seinem lieblichen Tonfall, musste sie unwillkürlich erschaudern. Sie lächelte. „Aber natürlich nicht, Liebling“, sagte sie fröhlich und zog ihn zur Tanzfläche. In den darauffolgenden Tagen, dachte sie intensiv über das Angebot nach. Es war doch  gar zu verlockend. Ihr eigenes Theater! Na ja, nicht ganz ihr eigenes, aber sie wäre immerhin daran beteiligt. Im Stadttheater war sie zwar der ruhmreiche Star, war jedoch auch von den kleinen Launen des cholerischen Direktors abhängig. Sie durfte nur das tun, was er von ihr verlangte, dabei hatte sie doch so viele eigene Ideen! Wenn sie das Angebot annehmen würde, könnte sie ihre eigenen Stücke schreiben, hätte viel mehr Freiheiten und das auch noch bei viel besserer Bezahlung. Aber Andererseits wäre das Victor wohl nicht recht. Er beschwerte sich schon jetzt darüber, das sie so wenig Zeit miteinander verbrachten. In letzter Zeit ging er ihr ganz schön auf die Nerven. Er folgte ihr auf Schritt und tritt und wenn sie mal alleine ausging, bombardierte er sie ständig mit Fragen, wo sie denn hingehe, wann sie denn wiederkomme und mit wem sie sich denn träfe. Er benahm sich wie ein Kind, das sich krampfhaft an den Rockzipfel seiner Mutter klammerte. Sie liebte ihn zwar noch, doch ihre Zuneigung zu ihm schwand immer mehr in letzter Zeit. Daher machte es ihr auch diesmal nicht mehr so viel aus, was er von ihr denken könnte. Sie war eine moderne, junge Frau und ließ sich nichts von einem Mann vorschreiben. Daher rief sie den Mann an und vereinbarte ein Treffen mit ihm. Victor konzentrierte sich nun mehr darauf, Erkundigungen über den Fremden einzuziehen, weshalb ihm diese Treffen auch entgingen. Der Mann hieß Robert Green und war einer der reichsten Männer Europas. Einst war er ein armer Schlucker, der kaum einen Cent in der Tasche hatte. Doch dann heuerte er auf einem Schiff nach Amerika an und kam mit vollen Taschen wieder zurück. Seitdem verbrachte er seine Zeit damit, sein Geld auf möglichst schnelle Weise wieder auszugeben und dabei eine gute Figur zu machen. Er bemühte sich, höflich und kultiviert zu wirken, doch unter der Oberfläche nahm man nur allzu deutlich den gerissenen, scharfen Verstand der Gosse war. Victor wusste nur zu gut, wie interessant er auf Marie wirken musste. Verdammt, selbst er konnte eine gewisse Bewunderung für ihn nicht leugnen! Er war genau der Mann, der er immer sein wollte, reich und unverschämt genug, um auch wirklich nichts auf die Meinung anderer zu geben. Victor selbst tat zwar immer so, als ob er über dem Gerede der anderen stehen würde, setzte aber alles daran, sich bei allen beliebt zu machen. Doch wenn man es recht bedachte, waren alle anderen ihm egal, solange er nur Marie beeindrucken konnte. Da das ihm jedoch nicht gelang, musste er sich mit den anderen begnügen. Wenn es ihm doch nur genauso egal wäre wie diesem Green! Dann hätte er alle Sorgen auf immer verloren. Doch dafür liebte er sie zu sehr. Er konnte es ihr daher nicht erlauben, sich mit diesem Kerl zu vergnügen. Daher folgte er ihr in den Park, wo sie sich mit Robert traf. Er versteckte sich hinter einem der nahestehenden Häuser, wartete einen kurzen Augenblick und trat dann ganz gemütlich daraus hervor. „Ach Marie, da bist du ja!“, rief er ganz erstaunt, als er sich ihnen näherte. „Wir wollten uns doch im Restaurant treffen, oder hast du das etwa schon wieder vergessen? Und wer ist denn dein Freund? Willst du uns nicht einander vorstellen?“ Marie glühte vor Zorn und Verlegenheit. Sie wusste ganz genau, das sie heute Abend nicht miteinander verabredet gewesen waren. Er war ihr hinterrücks gefolgt, der falsche Hurensohn. Gerade jetzt, als sie fast zu einer Einigung gekommen waren, musste er sich zwischen sie drängen. Zwischen ihr und Robert hatte sich mehr als eine reine Geschäftsbeziehung entwickelt und gerade jetzt musste Victor wieder alles zunichte machen. Dennoch gelang es ihr, ihren Groll hinunterzuwürgen und sie freundlich miteinander bekannt zu machen. Die beiden Männer schüttelten einander die Hände und taxierten sich mit Blicken. Je länger Victor ihm in seine sanften braunen Augen blickte, spürte er den unterschwelligen Spott darin und seine mühsam bewahrte Selbstsicherheit schwand. Seine Größe, seine Schultern, seine ganze Art, sich zu bewegen, strahlte eine ruhige, ja fast gelassene Stärke aus. Er sah auf ihn herab, mit einer Freundlichkeit, mit der man gemeinhin kleinen Kindern und Schwachsinnigen begegnete, was ihn rasend machte. Doch da er nicht wusste, wie er ihn bezwingen konnte, hielt er sich mit seiner Verachtung ihm gegenüber zurück. „Ach, dann sind sie also Victor!“, sagte Robert freundlich, als sie einander vorgestellt wurden. „Marie hat mir schon so viel über sie erzählt!“ Victor musste über diese kleine Lüge lächeln. „Ach wirklich?“, sagte er gehässig. „Sonst pflegt Marie nur stets über sich selbst zu reden.“ Robert lachte, während Maries Augen böse funkelten. „Hatten sie nicht vorhin etwas über ein Restaurant erzählt?“, fragte er unschuldig. „Von der ganzen frischen Luft hier im Park habe ich einen riesigen Appetit bekommen. Wenn sie wollen, lade ich sie gern auf einen Happen ein, sollte ihnen meine Anwesenheit noch nicht allzu unangenehm geworden sein.“ Er sagte dies mit so schuldbewusster Miene, das man fast glauben könnte, er wäre hier der Eindringling. Victor und Marie folgten ihn in ein sehr schickes, italienisches Restaurant, was berühmt war für seine Küche. Robert schien hier öfters zu speisen. Der Besitzer persönlich begrüßte sie herzlich, führte sie an den besten Tisch und spendierte ihnen eine Flasche Wein aufs Haus. Robert bestellte für sie. Spagetti mit Hummerkrabben und frischen Ricotta für Marie, toskanisches Rind an pikanten Tomaten in Thymian-Pepperonisauce für Victor. Danach gab es eine üppige Käseplatte mit Mozarella, Parmesan und verschiedene Schaf- und Ziegenkäse, garniert mit saftigen, sizillianischen Feigen. Und zum krönenden Abschluss, als sie schon mehr als gesättigt waren, kam der Besitzer mit drei hübschen, handgearbeiteten gläsernen Schüsseln, die bis zum Rand hin mit sahnigweißer Eiskrem gefüllt waren, wieder an ihren Tisch geeilt, natürlich auf seine Kosten. Victor und Marie genossen es in vollen Zügen. Sie hatten zwar recht viele reiche Freunde, die ihnen ähnlich gut aufzutischen pflegten und standen dem selbst in nichts nach, hatten sich aber ansonsten immer recht spartanisch ernährt. Solch ein Essen außerhalb einer Veranstaltung genießen zu dürfen, war für sie etwas ganz und gar besonderes. Sie unterhielten sich prächtig mit ihm, lachten und scherzten und im laufe des Abends begann Victor, ihn immer mehr zu mögen. Er war gar nicht so ein Schuft, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Er war witzig und humorvoll und brachte es fertig, Victor zu einem erstklassigem Dinner einzuladen, ohne das er sich beleidigt fühlte. Mochte es an dem Wein oder an dem formvollendeten Betragen seines Gastgebers liegen, plötzlich sah Victor die ganze Sache gar nicht mehr so eng. Sollte Marie sich ruhig eine Weile mit ihn vergnügen. Und wieso auch nicht? Er hatte Geld, Manieren und sah nebenbei auch noch ganz gut aus. Sie könnten wirklich von ihm profitieren. Und bald darauf wäre er ja schon wieder weg. Robert Green war ein stadtbekannter Herumtreiber, der sich nie lang an einem Ort aufhalten konnte. Dann wäre alles wieder beim alten, sie wären dann endlich wieder beisammen und wohl auch glücklicher, da nun nichts mehr zwischen ihnen stünde. Sie wäre im höchsten Maße davon beeindruckt, wie reif er sich verhalten habe und würde dann auch erkennen, das er der richtige Mann für sie ist. Und dann, in absehbarer Zeit, gäbe es ja auch vielleicht eine Hochzeit bei ihrem lieben guten alten Freund Robert... Obwohl er sich vorgenommen hatte, reif und ohne Eifersucht zu sein, konnte er ein unbestimmtes Gefühl der Angst nicht unterdrücken, was dazu führte, das er jede Minute mit den beiden verbrachte. Doch obwohl Marie dabei meist einen recht unglücklichen Eindruck machte, schien das Robert gar nicht weiter zu stören. Er erfreute sich regelrecht an seiner Gesellschaft. Aus einen uneinsichtlichen Grund schien er ihn wirklich zu mögen. Sie trieben allerlei Unsinn miteinander, fingen einfach mal zum Spaß eine Schlägerei an oder gingen betrunken zu Maries Ballettaufführungen und pöbelten die Tänzerinnen an, was Marie ihnen noch auf Wochen übel nahm. Mit der Zeit entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen. Robert schien ihn wirklich zu verstehen.
Er teilte fast alle seiner Vorlieben und stellte sich immer vor ihn, wenn Marie sich ihm gegenüber mal wieder so schrecklich aufführte. Er war für ihn so was wie ein Bruder geworden. Victor ertappte sich immer häufiger bei dem Wunsch, ihm zu gefallen. Wenn Robert ihm mal ein Buch empfahl, kaufte er es sofort und las es noch am selben Tag. Robert kaufte sich ein Auto, Victor tat es ihm gleich. Selbst seine Anzüge ließ er sich nun von Roberts Schneider machen. Im Gegensatz zu Marie würdigte er seine Bemühungen fast immer mit ein paar freundlichen Worten, einem schiefen Lächeln, oder dem ein oder anderen kleinem Geschenk, was Marie nicht gerade gern sah. Sie und Victor standen von nun an in immerwährender Konkurrenz um seine Gunst. Ging Victor mit ihm auf dem Ball des Fürsten von Nottingham, führte Marie ihn zum Fest des Maharadjas von Dehli. Ging Marie mit ihm in die Oper, musste Victor mit ihm unbedingt zur Prämiere eines noch völlig unbekannten Stückes des berühmtesten Dichters der Neuzeit, mit dem Victor natürlich bestens bekannt war. Doch Robert ließ keinerlei Zeichen der Bevorzugung erkennen. Nun, Victor mochte er schon ein bisschen mehr, denn bei ihm musste er sich nicht immerzu verstellen. Wenn er mit Marie zusammen war, gingen sie meist zu den vornehmsten Gesellschaften, doch mit Victor konnte er auch einfach mal durch die schäbigen Kaschemmen am Hafen ziehen, wo er sich auch eher zuhause fühlte. Dort war er wieder das alte Gossenkind, konnte fluchen und saufen, so viel er wollte und brauchte erst nicht groß zu überlegen, ob das was er tat, sich denn auch schickte. Denn obwohl er zu Geld gekommen war, zählte er sich nicht wirklich zu den reichen. Es belustigte ihn, unter ihnen zu leben, ihr Gebaren und ihre Sprache nachzuäffen, doch nach einiger Zeit war es einfach nur ermüdend. Daher waren ihm diese kleinen Pausen mit Victor auch mehr als willkommen. Und auch Victor fand seinen gefallen daran. Hier scherte sich keiner darum, wer man war, oder wie gut man angezogen war. Nach dem er sein ganzes Leben damit verbracht hatte, andere zu schockieren und in erstaunen zu versetzen, konnte er sich endlich einmal so richtig erholen. Auf die Dauer wäre das zwar nichts für ihn gewesen, aber zeitweilig kam er so ein wenig zur Ruhe. Am Abend, als sie wieder einmal in so einem Schuppen waren, bemerkte Victor, dass ihm etwas zu bedrücken schien. Robert war nicht so ausgelassen und fröhlich wie sonst, sondern starrte meist nur stumm in sein Glas. „Marie und ich gehen nach New York.“, sagte er plötzlich. Victor erstarrte. „Aber, aber wieso?“, stammelte er. „Nun, ich will dort ein neues Theater errichten.“, sagte Robert bedrückt. „In London ist kein Platz mehr dafür. Und Marie wird der Star meines Theaters werden.“ Victor konnte nicht glauben, was er da hörte. „Aber, aber was wird dann aus mir?“, fragte er. Robert sah auf. Tränen schwammen ihm in den Augen. „Victor, es muss sein“, sagte er mit ungewöhnlich fester Stimme. „Marie erwartet ein Kind und meint, es sei von mir. Sie verlangt, dass ich für sie sorge und meinen Plan vom Theater auch in die Tat umsetze. Ich habe alles nur erdenkliche getan um sie umzustimmen, ihr Geld angeboten, eine Wohnung, doch all das will sie nicht. Dann hab ich zu ihr gesagt, dass ich es eigentlich auch nicht einsähe, das ich sie unterstützen soll, den schließlich habe sie ja dich, der sie ernähren könne. Doch sie droht mir damit, dass sie, falls ich ohne sie abreisen sollte, dich verlässt und sich in der Gosse als gewöhnliche Straßenhure durchschlägt und mein Kind bei der erstbesten Gelegenheit verkaufen würde. Mein Kind, Victor! Sie ist mir völlig egal, seit langem schon, aber ich will verdammt sein, wenn ich ihr erlaube, mein eigen Fleisch und Blut mit in den Dreck zu ziehen.“ Victor starrte auf seine Hände, bis er ihm wieder in die Augen sehen konnte. „Dann, dann verlasst ihr mich?“, wimmerte er, wie ein Kind, plötzlich ganz allein auf der Welt. Robert schluchzte: „Es tut mir leid Victor.“ Dann stand er auf, besann sich jedoch anders, fuhr ihm durchs Haar und küsste ihn zum Abschied auf die Wange. Danach entfernte er sich mit schnellen Schritten aus der Kneipe und ließ Victor allein zurück. Eine Weile saß er da, wie betäubt. Dann überkam ihn der Zorn, so mächtig, wie er ihn noch nie jemals zuvor verspürt hatte. Er rannte zu seinem Haus, die Treppen hinauf ins Ankleidezimmer, wo Marie gerade ihre Sachen packte. „Oh, Robert hat es dir also erzählt.“, sagte sie, nicht sonderlich erstaunt darüber, ihn zu sehen. „Ja, er hat mir alles erzählt.“, sagte er mit betont ruhiger Stimme. „Was ist denn so schlimm, das du abhauen musst? Es lief doch alles so gut zwischen uns.“ „Nichts lief gut!“, sagte Marie mit ungewohnt kalter Stimme. „Du bist nur ständig um Robert herumgeschwänzelt, hast dich lächerlich gemacht mit dem Versuch, ihm zu imponieren. Du bist nun mal nicht wie er, Victor. Du warst immer schon so unerträglich schwach! Nur bei den größten Idioten konntest du Stärke vortäuschen. Wie du dich an mich und an Robert geklammert hast, war war einfach nur eckelerregend! Und da fragtest du dich noch, weshalb ich dich nicht heiraten wollte! Wie hätte ich denn jemals so etwas wie dich heiraten können? Ich dachte zwar mal, du wärest vom gleichen Schlag wie ich, doch da habe ich mich getäuscht. Robert jedoch kann mir das bieten, was du mir niemals hättest geben können. Er verschafft mir Ruhm und Prestige. Er ist stark und mächtig und lässt mich an seiner Macht teilhaben. Dich brauche ich nicht mehr, Victor. Ich bezweifle fast, dass es je eine Zeit gegeben hat, zu der ich dich brauchte.“ Sie ging an ihm vorbei, die Treppe hinunter. Victor konnte nicht mehr klar denken. Sein Geist war wie von Nebel verhangen. Er griff nach einem Messer, das er hier mal vergessen hatte als er den Teppich zuschnitt, und folgte ihr. Doch als er ihre kleine, zarte Gestallt so betrachtete, überkamen ihn wieder all die schönen Erinnerungen, die sie gemeinsam hatten, all die Bälle, Prämieren und Feste. Daher ließ er das Messer mit einem tiefen Klonk auf die Stufen fallen. Marie drehte sich zu ihm um. „Nicht einmal dazu bist du mutig genug.“, lachte sie höhnisch und ging zur Tür. Als die Tür ins Schloss fiel, überkam ihm plötzlich eine riesige Abscheu vor sich selbst. Sie hatte recht. Er hatte weder genügend Geld, noch irgendein anderes Talent außer dem, sich reiche Freunde zu machen. Sie war schon immer besser als er gewesen. Er blickte in einem großen Spiegel, der im Flur aufgehängt war. Auf einmal nahm sein Hass ungeahnte Auswüchse an. Er nahm das Messer wieder zur Hand und stach damit auf den Spiegel ein, immer und immer wieder, bis überall Scherben herumlagen und kein Glas mehr im Rahmen war. Dann kniete er sich, ohne auf die Scherben zu achten hin und wiegte sich hin und her, ein kleines Kind, ganz allein auf der Welt.
Einige Wochen später. Amanda Claire stieg gerade aus dem Zug und versuchte sich zu entsinnen, wo ihre Schwester wohnte. Schon seit einem Monat ging kein Geld mehr bei ihr ein. Sie telegrafierte nach Canterbury, wo die Cousine ihres Vaters wohnte und erfuhr so, dass diese sich vor kurzem bei einem Reitunfall das Genick gebrochen hatte und gestorben war. Doch selbst dann noch hatte sie sich nicht dazu durchringen können, zu ihrer Schwester zu fahren. Dafür war sie einfach zu stolz. Sie lebte seitdem von der Mildtätigkeit anderer Leute und von dem, was der verkauf ihres Schmucks so hergab. Aber als ihre übriggebliebenen Dienstboten sich gegen die allzu argen Umstände zur wehr setzten, war sie gezwungen zu handeln. Maries Sticheleien würde sie schon irgendwie verkraften. Als sie schon dachte, sie hätte sich verlaufen, sah sie Marie vor sich. Sie rief nach ihr, doch sie bemerkte sie nicht. Sie folgte ihr zu einem recht luxuriös aussehenden Haus. Da die Tür offen stand, ging sie hinein. Die Gestallt, die sie für Marie gehalten hatte, drehte sich zu ihr um. Es war ein recht großer, hagerer Mann mittleren Alters. Seine langen Haare und die Tatsache, das er Maries blaues Taftkleid trug, hatten zu der Verwechselung geführt. Amanda erinnerte sich daran, dass ihr Marie geschrieben hatte, sie lebe mit einem Mann in London. Vielleicht war das ja der Kerl. „Entschuldigen sie.“, sagte sie vorsichtig. „Ich bin Maries Schwester Amanda. Ich wollte sie heute besuchen, ist sie da?“ Der Mann starrte sie an. „Marie, Marie ist weg.“, sagte er leise. „Sie ist schon seit langem weg.“ Amanda stöhnte. „Wissen sie vielleicht, wohin sie gegangen ist?“, fragte sie ihn. „Haben sie ihre neue Adresse?“ Der Mann stand einfach nur da, als wisse er nicht, was sie von ihm wolle. Dann schien ihm eine Idee zu kommen: „Ich schau mal in ihrem Zimmer nach, ob ich da was finde.“ Er stieg die Treppe hinauf. Amanda zögerte kurz, folgte ihm aber schließlich. Dort stand er und wühlte in den aufgezogenen Schubfächern eines mächtigen Ebenholzschrankes, zog Strümpfe, Röcke und Kleider heraus. Dann zog er ein weiteres Schubfach auf und Amanda stieß einen entsetzten Schrei aus. Auf einem Regalbrett standen, fein säuberlich in einem gläsernem Behälter, Maries Füße. Am linken Fuß hing sogar noch das Goldkettchen, das ihr Vater zu ihrem fünften Geburtstag geschenkt hatte. Amanda wusste noch, wie neidisch sie darauf gewesen war. Sie hatte es als erste im Schaufenster gesehen. Stundenlang hatte sie ihren Vater darum bekniet, doch der schenkte es lieber Marie anstatt ihr. Victor sah ihr Gesicht in dem Spiegel. Ihr kastanienfarbenes Haar wurde auf einmal golden, ihre Augen nahmen plötzlich den Farbton von Smaragden an, und ganz plötzlich blickte ihm Maries Gesicht aus dem Spiegel entgegen, höhnisch, kalt und doch so wunderbar. „Ich hab dich doch so geliebt.“, flüsterte er. „Doch dann bist du einfach gegangen. Aber jetzt bist du ja da und ich werde dafür sorgen, das du nie wieder von mir gehst.“ Plötzlich griff er nach ihr. Amanda fand eine Vase, die sie ihm über den Schädel zog, um sich zu befreien. Sie rannte die Treppe hinunter, Victor dicht auf den Fersen. Sie rannte und rannte, über fünf Straßen entlang. Sie hielt ein Auto an und stieg ein. „Bitte helfen sie mir!“, schrie sie. „Ein Mann versucht mich umzubringen!“ Doch dann stockte ihr der Atem. Am Steuer des Wagens saß Victor. „So kann es nicht weitergehen, Marie.“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Wir müssen endlich zu einem Ende kommen.“ „Ich bin nicht Marie!“, wimmerte sie hilflos. „Wir können nicht mit und nicht ohne einander.“, fuhr er fort, ohne sie gehört zu haben. „Daher ist dies die einzige Möglichkeit.“ Er beschleunigte. „Ich bin nicht Marie!“, schrie sie, immer und immer wieder, bevor der Wagen in eines der Häuser am Straßenrand krachte.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.08.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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