Diethelm Reiner Kaminski

Regenzeit



Es goss wie aus Kübeln, als ich von der Bahnhofshalle auf den Bahnhofsvorplatz trat, um meinen in ein paar hundert Meter Entfernung wartenden Bus zu erreichen. Ich spannte im Gehen den Regenschirm auf, genauer: das, was von ihm noch übrig war. Neben mir lief eine junge Frau in Richtung Busbahnhof. Ohne Schirm. Ohne Mütze. Das kann ein Kavalier alter Schule keine Minute mit ansehen. Also bot ich ihr, ohne lange zu überlegen, meinen Regenschutz an, wohl wissend, dass ich unweigerlich halbseitig nass werden würde.
 
„Sie wollen doch sicher auch zum Busbahnhof ...“
 
Sie war gut einen Kopf größer als ich, sodass ich meinen rechten Arm weit hochrecken musste, was ungewohnt und auf Dauer sehr anstrengend ist. Als hätte ich es nicht vorher wissen können. Gutmütigkeit wird in jedem Fall bestraft. Ich spürte ihren prüfenden Blick, obwohl ich im Zwielicht der schwachen Straßenbeleuchtung auf die vielen Pfützen vor mir achten musste.
 
„Das ist mein Regenschirm. Wie kommen Sie zu meinem Regenschirm?“
 
„Wieso Ihrer?“, reagierte ich überrascht, obwohl ich sehr genau wusste, dass ich den Regenschirm kürzlich in einem Bus mitgenommen hatte, wo ihn offenbar jemand hatte liegen lassen.
 
„Hundertprozentig meiner. Erstens sind zwei Speichen kaputt, zweitens fehlt die Kappe am Griff, und drittens habe ich ein rotes Bändchen daran befestigt.“
 
„Also ohnehin reif für den Müll …“, wehrte ich ihren Vorwurf ab.
 
„Sie unterschlagen Fundsachen“, konterte sie ungerührt. „Sie wissen hoffentlich, dass ich Sie anzeigen könnte.“
 
„Aber der Besen ist doch ohne jeden Wert. Den kriegen Sie neu  schon für vier Euro in jeder Drogerie.“
 
„Für mich schon.“
 
„Ist ja schon gut. Nur noch fünfzig Meter, dann erfolgt die feierliche Übergabe der Reliquie.“
 
Aber da riss sie mir auch schon den Schirm aus der Hand und stürzte, ohne sich zu bedanken und ohne ein Wort des Abschieds in einen Bus, der augenblicklich losfuhr. Ich blieb im strömenden Regen stehen. Pudelnass. Mein Bus war mir vor der Nase davongefahren.

Schon zwei Tage später sah ich sie wieder. Es goss wie beim ersten Mal. Ich hatte mir noch keinen Ersatz für den mir entrissenen Schirm beschafft. Sie sehr wohl. Ich
wartete am Bahnhofsausgang darauf, dass der Regen etwas nachlassen würde. Da stand sie plötzlich neben mir, ohne mich erkannt zu haben, und spannte einen riesengroßen neuen roten Schirm auf, unter dem eine vierköpfige Familie bequem hätte Platz finden können.
 
„Entschuldigen Sie“, sprach ich sie an, „wo haben Sie denn meinen Schirm gelassen?“
 
„Ihren? Sie meinen wohl meinen? Natürlich in den Mülleimer geworfen, wo er hingehört.“
 
Ich ignorierte die Gehässigkeit und bat in aller Bescheidenheit: „Ob Sie mich wohl das kleine Stück bis …?“
 
Sie schnitt mir das Wort ab: „Das ist ja wohl der Gipfel. Sie hatten zwei Tage Zeit, sich einen Schirm zuzulegen. Den gibt es im Übrigen schon neu ab vier Euro in jeder Drogerie.“
 
Am nächsten Tag war es trocken. Ende der Regenzeit. Die Sonne schien.
Ich war froh, auf keinen Schirm mehr angewiesen  zu sein. Weder auf meinen eigenen noch auf den der Unbekannten.
 

23.04.2006

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