Nadja Kleinert

Der Vorhang

Die Zeit läuft langsam, eine Minute ist drei Minuten lang und das Ticken der Zeiger hämmert sich wie einschlagende Nägel in meinen Kopf. Hier sitze ich nun, in der Ecke meines Raumes und mauere Türen und Fenster zu in der stillen Hoffnung dadurch Zufriedenheit zu erlangen.

Es funktioniert nicht.

Es tropft immer noch etwas Licht durch die Fugen meiner Steine in meine triste, kleine Unterkunft. Ich hasse dieses Leben und je länger ich mich daran binde desto größer ist der Schmerz, den ich spüre wenn ich mich jetzt aufrichte und einen Fuß vor den nächsten stelle, dabei langsam meinen Weg von Mauer zu Mauer gehe und hoffe nicht in dem Rinnsal aus Licht zu ertrinken.

Was tun wenn´s brennt?

Sich zurücklehnen, eine Hand voll Betablocker einwerfen, den Kreislauf nach unten schrauben um die zweifelhaften Wege, die ich gerade versuche zu begehen, einfach von mir zu werfen.

All die schlechten Gedanken zu überwältigen und sichtlich erfrischt in den nächsten Stunden ein neues Leben zu beginnen.

Es ist wichtig das man ruhig bleibt, denn entschieden ist entschieden und es gibt keinen Zweifel daran, dass man sich genauestens mit der Materie vertraut gemacht hat. Es ist wichtig zu wissen was man tut!

Ich bin vorbereitet!

Alles was ich brauche habe ich hier bei mir und die Liste der Dinge, die ich nicht mehr möchte wird im Angesicht der Dinge die bald folgen immer länger und länger.

Ich mache mir ein vor-vor-vorletztes Mal bewusst, was ich erwarte und was ich gern hätte, lehne mich zurück an meine Wand und öffne die erste Flasche Wodka.

Ich schraube sie auf, setze sie an und schütte die Hälfte der Flasche in mich hinein. Ich muss mir Mut an trinken. Ich habe Lampenfieber, dass ist mein erstes Stück und es aufzuführen war nie so notwendig wie heute.

Wenn diese Flasche leer ist, habe ich noch fünf in einem roten Karton direkt zu meinen Füssen. Es könnte sein das es mir übel wird und selbst für diesen Fall habe ich einen Eimer in der anderen Ecke des Raumes.

Ich bin nämlich vorbereitet und die Bereitschaft des vorherigen liegt müde, mit Tränen in den Augen neben dem Karton mit den Flaschen.

Ich hatte heute zum Frühstück zwei Becher Kaffee und einen Kurzen voll Amphetamine, denn nichts, absolut gar nichts, wird mich davon abhalten auf meine Reise zu gehen.

Ich hinterlasse niemandem etwas, ich habe kein Erbe und möchte auch gar nicht beerbt werden, denn diese Schmerzen nehme ich mit mir und wenn ich morgen im Zug auf meiner Reise erwache bin ich nicht mehr allein, ich bin in bester Gesellschaft und werde verstanden worden sein.

Vielleicht schreibe ich noch einen Brief, das Papier dafür liegt neben mir. Doch was würde ich sagen wollen? Ich glaube nichts, denn ist nicht der anderen Schuld das ich nicht mehr mit ihnen leben will. Ich habe alles schon getan, ich habe vieles schon gesehen und auch wenn ich keine Kreuzfahrt machte, ist hier das Ende und wenn das Ende sich so anfühlt, weiß ich warum es nicht leicht ist eine Reise allein zu tun.

Mitnehmen will ich auch niemanden.

Wen sollte ich schon dabei haben wollen, wenn ich mich hier, eingemauert in meinem Wohnzimmer, mit ohrenbetäubender Musik verschanze?

Genau, keinen! Denn das hier ist ein Einfraustück, vorgetragen von mir, für mich und die stillen Beobachter im Zuge, der schon kurz vor meiner Türe in seinen düsteren, kleine Bahnhof einfährt.

 

Ich sinniere etwas über die Dinge wie sie waren, über jene welche ich gern noch getan hätte und über diese, welche gerade ohne mich geschehen.

Wir befinden uns in einer Zeit ohne Raum und immer wenn ich die Augen schließe und mich frage wie es mir ginge antworte ich: „Gut!“

Aber gut ist gar nichts, auch wenn mein Elend nicht das Elend der Erde ist, ist es meines und ich reagiere mit Zorn auf alle die, die mir immer wieder sagen wie gut es mir geht und wie wundervoll mein Leben sei.

Ihr habt doch alle keine Ahnung!

Dennoch muss ich euch eines lassen, wenig Ahnung habt ihr viel und eure humoristische Darstellung der Umstände obliegt nichts weiter als der Unwissenheit der Situationen als solche.

Aber ich will nichts anprangern, will nichts tun um euch davon zu überzeugen das ihr falsch liegt denn die Dinge, wie ihr sich macht sind richtig und was daran falsch sein sollte vermag ich euch nicht zu sagen!

Ich trinke schnell die andere Hälfte meiner Flasche aus, lehne mich zurück und warte darauf das mir schlecht wird, noch schlechter als es ohnehin schon ist und muss auch gar nicht lange darauf warten.

Ich übergebe mich, schaffe es nicht bis zum Eimer und kotze einfach neben mich auf die Bühne. Unschöne Sache das, aber egal.

Doch was geschieht gerade während ich auf meinen Teppich kotze?

In der Küche schimmelt das Brot, Motten fressen meine Jeans und die Würmer stehen schon draußen an um endlich ihren Teil vom Kuchen zu bekommen und das Kuchenstück des Tages bin ich. Was bin ich wohl für ein Kuchen, schmecke ich faulig und wie viele andere Kuchen sitzen gerade in zugemauerten Zimmern und warten auf den Zug?

 

Ich habe keine Drogen mehr, zum Glück aber noch genug Alkohol und ich glaube ganz fest daran, dass ich mich nur weiter betrinken muss damit ich mich nicht mehr übergebe.

In diesem fehlerhaften Glaube öffne ich die zweite Flasche und beginne diese, wie die Erste zu leeren.

Ich muss schneller trinken, denn das Ticken der Uhr wird immer lauter und das Hämmern bereitet nicht nur Unwohlsein sondern auch Schmerzen.

Meine letzte gefühlte Stunde war 20 Minuten lang, wie lang ein ganzer Tag wohl wäre wenn ich auf stünde und mich neu geordnet daran beteiligte? Sechs stunden vielleicht?

Langsam wird es Zeit, noch fünf Minuten bis zur vollen Stunde, was für mich bedeutet noch eine Viertelstunde bis zur Deadline zu haben denn ich tue das hier schon lange nicht mehr nur für mich. Ich will nicht in zwanzig Minuten der Arsch sein, der es nicht einmal geschafft hat seine unverzüglichen Wünsche diszipliniert durch zu ziehen. Auch wenn kein anderer davon wüsste, wüsste immer noch ich davon, dass ich in diesem Falle total versagt hätte!-schon wieder versagt hätte!

Es handelt sich hier nicht um eine Diät, die jeden Sonntag aufs neue am Montag beginnen soll und auch nicht um das Buch das man immer mal lesen oder schreiben wollte, es geht hier um mich und um das einzige mal, dass ich etwas für mich tue!

Ich habe gerade alles hier, sehe mich etwas schwermütig ein letztes Mal um, die ersten gefühlten fünf Minuten sind um, es bleiben noch zehn und mit jeder Sekunde wird der Abschied schwerer.

Vielleicht habe ich mich falsch entschieden und das Lachen der Kinder aus dem Hinterhof soll mich davon überzeugen oder es ist das unbeschwerte Lachen, das jemand aufsetzt wenn er dir die Hand reicht und auf die Schulter klopft um damit zu sagen, „Es war gut so!!! Weiter machen!!!!“

Aber das darf nicht mein Einfluss sein, ich beweise mir hier etwas und darf nicht daran denken, das andere sich hätte anders entschieden!

Die anderen sind eine viel zu große Macht, mit ihren I-Phones und ihren Designerhandtaschen, in ihren teuren Autos, die sie nicht bezahlen können, in ihren von Ikea eingerichteten Wohnungen mit ihren polierten Bestecken und glänzenden Gläsern.

Ich beweise mir etwas und mit jedem verschwendetem Gedanken verstreicht eine gefühlte Sekunde meines Lebens und ich befinde mich drei Sekunden dichter an der Deadline.

Ich muss handeln, die alles überschreiende Wahrheit, meine Wahrheit, umsetzen und ein letztes Mal Lächeln und eine Träne Vergießen, für die Kinder hinten im Hof, die unbeschwert sind und nichts zu erleiden haben.

Wie schwer werden ihre Wege werden? Zum Glück wissen sie es nicht!

Noch wenige Sekunden bis zum Schluss, mein kleines Theater lässt den Vorhang fallen und genau jetzt ist es soweit, ich habe ein Holzkästchen bei mir, berühre ein letztes Mal seine schönen Schnitzereien und verliere ein Meer aus Tränen.

Wo bin ich morgen um diese Zeit, werde ich Kopfschmerzen haben und wohin geht mein Zug?

Ich hole meine Fahrkarte aus dem Kästchen, die Klinge schimmert edel im letzten Licht des Zimmers und ich drehe sie etwas um die schöne Ruflektion an der Wand noch eine Sekunde tanzen zu sehen.

Sie springt wie eine Feuerfee von Wand zu Wand und streckt ihre zarte kleine Hand nach meiner Klinge aus.

Ich gebe sie ihr, lächle sie an und die Fülle der gemischte Gefühle legt sich wie ein schnürendes Seil um meinen Hals.

Ich kann nicht zurück, ich bin viel zu gut vorbereitet.

Jahre lange Akribie sollte nicht verworfen werden, nur weil der Beweis einem selbst gegenüber nicht mehr nur wichtig erscheint, sondern ein ungerechtes Paradigma geworden ist.

Ich ziehe meine Ärmel rauf, nehme einen letzten Schluck vor der Abfahrt und lasse die Fee ihr Spiel beginnen.

Sie ist zart, gerade Wegs sanft und außer uns bleibt nur das Ziepen der scharfen Klinge, die sich in seichten Schwingungen meinen Arm hinauf tanzt.

Das Blut ist flüssig und hellrot und nach Ende des Tanzes beginnt es oben von Neuem und tanzt sich hinab, immer und immer wieder.

Es schmerzt nicht, wie ich zuvor gedacht, nein, es kribbelt und das fließende rote Wasser fühlt sich an wie das Streicheln sanfter Finger.

Die Fee lacht mich an, nimmt den zweiten Arm und tanzt ihren Tanz erneut.

Hin und wieder ertönt ein leises Geräusch, wie das eines reißenden Gummis wenn die Sehnen zerschnitten werden und es schnellt in Windeseile die Arme hinauf. Ich kann nicht mehr greifen, beobachte das strömende Blut, verliere erneut einige Tränen beim Verstummen der Kinderlachen und frage mich, ob ich richtig darin tue jetzt zu gehen. Werde ich das morgen bereuen, so wie ich es jetzt gerade bereue?

Ich glaube nicht.

Die Fee nickt mir zu, es wird Zeit sich zu erheben, noch dreißig Sekunden bis zu Deadline, ich stehe auf, verbeuge mich ein letztes mal, ihr wart ein wunderbares Publikum aber auch das beste Stück findet ein Ende und das Theater sieht keine Zugabe vor.

Das Stück ist zu ende und ich weine vor Freude es gespielt haben zu dürfen, meinen Text hatte ich gelernt und nun ist er gesagt, gespielt und inszeniert. Das Orchester spielt ein letztes mal und die Melodie seiner Symphonie ist fröhlich, ein letztes Mal zufrieden.

Es war eine wundervolle Premiere.

Der Soundtrack ist zu ende und das grobe Ganze beginnt heute neu, vielleicht beginnt es besser oder es verliert sich im Gewühle der I-Phones, Handtaschen, Autos, Ikearegale, Bestecke und Gläser.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.08.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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