Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie, Teil 29

Nach einer ruhigen Nacht, brachen die Gefährten noch vor Sonnenaufgang unter der Führung der abkommandierten zwei Soldaten nach Felsenturm auf. Als Reisegefährt diente ihnen ein schmales, langes Boot, das, nachdem alle Platz genommen hatten, beunruhigend tief im Wasser lag. Mit routinierten Paddelschlägen lenkten die Soldaten es in die Mitte des Flusses, über dem noch der frühmorgendliche Nebel lag und große Teile des Ufers verhüllte. Michael, der seine Hand durchs Wasser gleiten ließ, warf einen letzten Blick zurück, doch von Lugor, der Glyfara zum Abschied noch einmal davor gewarnt hatte, Düsterwald zu durchqueren, war nichts mehr zu sehen. Der Nebel hatte den Lagerplatz verschluckt, kaum daß sie abgelegt hatten. Mit einem unguten Gefühl wandte Michael den Blick ab und musterte statt dessen den friedlich dahin strömenden Fluß, der an dieser Stelle sehr breit war. Da die Ufer zu beiden Seiten größtenteils von dem tief hängenden Nebel verdeckt wurden, konnte Michael nicht erkennen, ob sie sich noch immer in unbewohntem Gebiet befanden. Manchmal glaubte er zwar, den Bug eines Fischerbootes aus dem Nebel ragen zu sehen, aber das konnte auch eine Täuschung sein. Er tröstete sich damit, daß sie so vor den Blicken etwaiger Verfolger verborgen blieben. Seine Gedanken schweiften zum vergangenen Abend ab und zu dem, was Glyfara ihm über Trolle erzählt hatte. Danach stand ihnen kein leichtes Unterfangen vor. Jähzornig, gerissen und unglaublich kräftig waren die Attribute, die Michael am stärksten im Gedächtnis verhaftet geblieben waren. Mit Schaudern dachte er an die blutrünstigen Exemplare auf dem Piratenschiff zurück. Er beruhigte sich jedoch damit, daß es in jeder Spezies mißratende Exemplare gab. Trotzdem war er überzeugt davon, daß es nicht leicht werden würde, den Troll zu überreden, sie durch den Düsterwald zu führen. Sollte ihnen das mißlingen, würden sie sich entscheiden müssen zwischen dem Weg durch das Feindesland oder dem Durchqueren des Düsterwaldes, allerdings ohne Führer. Michael war sich nicht sicher, was er vorziehen würde. Der Schilderung Grimmbarts nach bestünde bei der ersten Alternative die Gefahr, daß man sie für Spione halten und kurzerhand töten würde, sollten sie jenseits der Grenze von Soldaten aufgegriffen werden. Auf der anderen Seite hatte Lugor ihnen hinreichend deutlich gemacht, daß kein vernunftbegabtes Lebewesen die zweite Alternative ernsthaft in Erwägung ziehen würde. Hier konnte man wirklich von der Qual der Wahl sprechen. Sein Blick fiel auf den Wühler, der in der für ihn typisch unbedarften Art, spielerisch nach ein paar größeren Insekten schnappte, die so dumm waren, dem Boot zu nahe zu kommen. Michael seufzte. Vielleicht sollte er auch einmal probieren, das Leben ein wenig leichter zu nehmen. Irgendeine Lösung würde ihnen schon einfallen. Die Konsequenzen eines Fehlschlags verdrängte er lieber aus seinen Gedanken.
Als gegen Mittag endlich die Sonne durchbrach und auch die letzten Nebelfetzen, die das Ufer bisher verhüllt hatten, verdampfte, staunte Michael, wie sich das Landschaftsbild verändert hatte. Der Fluß wurde nun links und rechts immer häufiger von einzelnen Gehöften oder kleineren Dörfern gesäumt, und weit in der Ferne konnte man zum ersten Mal das Drachenzahngebirge erblicken. Wie ein Bollwerk ragte das gewaltige Massiv in den Himmel. Mit einem Schmunzeln mußte Michael einräumen, daß es seinen Namen zu recht trug. Die schneebedeckten, weißen Gipfel, die in den azurblauen Himmel ragten, erinnerten tatsächlich vage an ein paar spitze Zähne. Dort hinüber zu kommen, wäre wahrscheinlich sogar für einen Profibergsteiger eine Herausforderung.
„Hoch“, kommentierte der Wühler, der Michaels faszinierten Blick bemerkt hatte. „Kalt“, fügte er hinzu und sträubte das Fell. Michael schmunzelte.
„Du sagst es, alter Junge.“
„Darum gehen wir ja auch durch den Wald. Wir Zwerge sind nicht gerade begnadete Kletterer“, knurrte Grimmbart, der das Gespräch mitbekommen hatte. Zur Bestätigung schlug er mit der flachen Hand auf seine kurzen Oberschenkel.
„Fragt sich nur, ob der Wald wirklich die bessere Alternative ist“, murmelte Glyfara leise.
 
Gegen Mittag erreichten sie schließlich Felsenturm. Grimmbart mußte sich eingestehen, daß die Soldaten nützlich gewesen waren. Immerhin waren sie dreimal unterwegs angehalten worden, und ohne ihre Begleitung wären sie vermutlich immer noch mit der ersten Kontrolle beschäftigt, oder würden vielleicht sogar irgendwo im Fluß treiben, denn die Wachen hatten nicht gerade den Eindruck erweckt, als würden sie dazu neigen, lange zu diskutieren, wenn ihnen etwas verdächtig vorkäme. Unterdessen lief das Boot in den kleinen Hafen ein, den die Bewohner Felsenturms dem Fluß abgerungen hatten. Geschickt wurde es von den Soldaten an einer Mole vertäut, an der bereits weitere, kleinere Boote lagen, während Michael nicht müde wurde, seine Faszination über den Anblick des massiven Festungsbaus zum Ausdruck zu bringen.  
„Seht euch das nur an. Diese Festung ist perfekt gegen Angriffe geschützt. Wahrscheinlich wurde sie noch nie erobert“, bewunderte Michael den Anblick, der steil in die Höhe ragenden Anlage. Aber auch der Anblick der vielen Stände, die unterhalb der Festung auf einem anscheinend für Marktzwecke vorgesehenen Platz in den buntesten Farben erstrahlten, hatte seine Neugier entfacht. Händler boten mit lauten Stimmen die unterschiedlichsten Waren an. Gaukler führten ihre Kunststücke vor, und finster wirkende Soldaten mit wachsamen Blick ragten hier und da aus der lebhaften Menge der Marktbesucher auf. Die Festung selbst war nahtlos in die Steilflanke des Bergs, der das Ufer an dieser Seite begrenzte, eingearbeitet worden. Den einzigen Zugang bot ein gewaltiges Tor, das sich circa sechs Meter oberhalb der Anlegestelle befand und nur über eine hölzerne, parallel zur Wand der Festung verlaufende Rampe erreicht werden konnte. Diese war mit diversen Seilzüge und Ketten verbunden, die allesamt oberhalb des Eingangs in einem Vorbau, der wie ein Balkon über den Eingang hinausragte, verschwanden.
„Nicht schlecht. Im Ernstfall brauchen sie die Rampe nur hochzuziehen und das Tor zu schließen. Da kommt keiner so schnell hinein, und die Zinnen liegen ohnehin zu hoch“, bemerkte Michael, nachdem er an Land geklettert war. Er legte den Kopf in den Nacken und versuchte abzuschätzen, wie weit es bis zu den Zinnen war, die im Licht der hoch stehenden Mittagssonne gleißten. Es gelang ihm nicht. Die Verabschiedung der Soldaten, die es eilig hatten, sich beim Festungskommandanten zu melden, riß ihn aus seiner Faszination. Mit einem Nicken erwiderte er ihren festen Händedruck, dann waren die Soldaten auch schon in der quirligen Menschenmasse verschwunden.
„Ist hier immer so viel los?“
„Nein, der Krieg steht bevor, deshalb decken sich alle mit dem Nötigsten ein“, erwiderte Streitaxt. Michael wirkte daraufhin betroffen. Bisher kannte er Krieg nur aus dem Fernsehen, und der fand immer weit entfernt statt. Auch als er am vorherigen Abend von dem bevorstehenden Krieg gehört hatte, war das für ihn etwas Irreales gewesen, das weit weg lag, doch jetzt schien er mitten hineinzugeraten. Er hoffte nur, daß sie es schaffen würden, rechtzeitig zum Düsterwald aufzubrechen, bevor der Feind vor der Tür stand. Glyfara schien seine Gedanken zu erraten.
„Wir sollten zusehen, daß wir hier schleunigst wegkommen.“
„Erst einmal brauchen wir einen Platz für die Nacht. Streitaxt und ich haben hier noch etwas zu erledigen, dann machen wir uns auf die Suche nach diesem Grüneich. Außerdem brauchen wir alle etwas Erholung und vor allem Zeit, uns auf die nächste Etappe vorzubereiten.“
Glyfara nickte widerstrebend. Der Plan war vernünftig. Sie alle konnten etwas Ruhe gebrauchen, bevor sie sich den nächsten Strapazen und Gefahren aussetzten, auch wenn Glyfara am liebsten sofort aufgebrochen wäre.
„Also gut, ungestörten Schlaf können wir alle gebrauchen“, räumte sie ein.
„Und Essen“, brummte der Wühler.
 
Die Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit gestaltete sich schwieriger, als Michael es für möglich gehalten hätte. Anscheinend war die gesamte umliegende Bevölkerung angesichts des drohenden Krieges in die Sicherheit der Stadt geflohen, so daß die Übernachtungsmöglichkeiten rar geworden waren. Es dämmerte bereits, als sie endlich in einer verwahrlosten Sackgasse, die an der gewaltigen Außenmauer der Festung endete, eine heruntergekommene Herberge auftaten, deren Besitzer bereit war, ihnen für die Nacht den angrenzenden Schuppen zu überlassen, natürlich gegen eine horrende Bezahlung.
„Die rechte Hand sollte man ihm für seine Unverschämtheit abschlagen“, knurrte Streitaxt, nachdem sie den dreisten Gastwirt bezahlt und ihr Quartier aufgesucht hatten.
„So habe ich mir die Übernachtung nicht vorgestellt“, beschwerte sich Michael. In der Tat bot der Schuppen keinerlei Komfort. Lediglich einige Strohballen, die als Bettersatz dienten sowie ein hölzerner Waschzuber stellten die gesamte Ausstattung dar.
„Schmutzig“, bestätigte der Wühler.
„Und teuer, aber wir haben keine Wahl. Morgen brechen wir ohnehin wieder auf, mit oder ohne Grüneich.“ Glyfara sah die Sache wie immer nüchtern. „Jetzt laßt uns etwas zu Essen auftreiben. Ich könnte einen Drachen verspeisen“, versuchte sie, die Stimmung aufzuheitern. Das fand allgemeine Zustimmung. Leider schien das Essen, das sie etwas später ein paar Straßen weiter in einem kleinen Gasthof einnahmen, tatsächlich von einem Drachen abzustammen, so zäh war das Fleisch. Doch Michael war zu erschöpft, um sich darüber zu beschweren. Während des Essens wurde das weitere Vorgehen besprochen. Die Zwerge beabsichtigten, am nächsten Morgen ihren wohlverdienten Lohn abzuholen und schlugen vor, sich später vor der Kneipe zum Hinkenden Ritter wieder zu treffen.
„Einverstanden, treffen wir uns gegen Mittag. Wir werden derweil für Proviant sorgen. Außerdem kann ich ein paar neue Pfeile und Wurfmesser gebrauchen“, stimmte Glyfara dem Vorschlag Streitaxts zu.
„So sei es“, brummte Grimmbart und erhob seinen Krug, der eine bierähnliche Substanz enthielt.
„Auf den Düsterwald.“
„Und seine erfolgreiche Durchquerung“, ergänzte Glyfara, dann klirrten die Gläser.
„Wahnsinn“, grummelte der Wühler, während er genüßlich einen Knochen unter dem Tisch zerbiß.
 
Nach einer sehr ungemütlichen Nacht in dem abbruchreifen Schuppen trennten sich die Gefährten bei Tagesanbruch wie besprochen. Die Zwerge machten sich auf den Weg, um ihren Lohn einzutreiben, indes Michael und der Wühler Glyfara zum Markt vor den Toren Felsenturms folgten. Erneut nahm Michael die Atmosphäre auf dem Markt gefangen, auf dem trotz der frühen Stunde bereits ein reges Treiben herrschte. Händler priesen marktschreierisch ihre Waren an, hauptsächlich Lebensmittel und Kleidung. Aber auch Waffen und alle sonstigen Dinge des täglichen Lebens, die es für Geld zu kaufen gab, wurden lautstark feilgeboten. Glyfara hatte ihn gewarnt, sich nicht in ein Gespräch mit den Händlern einzulassen, und so zog er sich jedesmal schnell zurück, wenn einer der Händler auf ihn zutrat.
Weniger Zurückhaltung legte hingegen der Wühler an den Tag, der sehr zum Verdruß der Standbesitzer nicht müde wurde, seine Nase neugierig in jede Auslage zu stecken. Michael, der es aufgegeben hatte, den Wühler zu ermahnen, ließ sich einfach mit der Menge treiben und genoß das lebhafte Gewühl um ihn herum. Von überall drangen Fetzen hitzig geführter Verhandlungen an seine Ohren. Marktbesucher aller Schichten schoben sich durch die dichte Menge der Schaulustigen, und die barschen Rufe der Marktschreier eiferten mit den aufgeregten Stimmen der Besucher um die Wette. Es war ein unbeschreibliches Durcheinander, das eigenen, für Außenstehende nicht erkennbaren Gesetzmäßigkeiten gehorchte. Michael war fasziniert. Das war etwas anderes, als der Wochenmarkt vor dem Einkaufszentrum. Während er das Treiben auf sich wirken ließ, besorgte Glyfara routiniert die nötigen Utensilien für ihre weitere Reise. Als sie ihm kurze Zeit später bedeutete, mit ihrem Einkauf fertig zu sein, konnte Michael sein Erstaunen kaum verhehlen.
„Ist das alles?“, fragte er irritiert, wobei er die spärliche Ansammlung von Gegenständen, die Glyfara erworben hatte und nun größtenteils in einer Art Rucksack verstaute, kritisch musterte. Er zählte einen Topf, einen Feuerstein, ein Stück Seil, mehrere Decken, ein paar Lebensmittel, eine stattliche Anzahl von Pfeilen, die mit bösartig aussehenden Stahlspitzen versehen waren, zwei Wurfmesser sowie einen Kampfstab, der seinem verloren gegangenen verblüffend ähnelte.
„Wir dürfen uns nicht durch überflüssigen Ballast die Bewegungsfreiheit nehmen“, erklärte Glyfara, während sie Michael den Stab reichte, der ihn prüfend einmal herumwirbeln ließ. Der Stab lag gut in der Hand. Die stahlverstärkten Enden machten ihn zu einer gefährlichen Waffe. Nur der Knopf, der die versteckte Stahlspitze heraus fahren ließ, fehlte zu Michaels Bedauern.
„Aber hältst du es nicht für ratsam, ein wenig mehr Proviant mitzunehmen?“, hakte er nach, während er den Stab erneut herumwirbeln ließ. Allmählich hatte er den Bogen heraus. Glyfara schüttelte den Kopf, während sie ein paar Streifen gepökeltes Fleisch einpackte.
„Ich bin es gewohnt, mich aus der Natur zu ernähren.“ Sie tippte demonstrativ auf die Pfeile, die aus ihrem Köcher ragten. „Die werden dafür sorgen, daß unser Kochtopf gefüllt bleibt. Der Rest hier ist für den Notfall. Man kann ja nie wissen, wohin es einen verschlägt. Jetzt nimm die Decken und hör auf, mit dem Stab herum zu spielen, bevor du noch jemanden den Schädel damit einschlägst.“
Etwas umständlich klemmte sich Michael daraufhin die vier Decken aus kratziger Wolle unter den linken Arm, mit dem rechten stützte er sich auf die neu erlangte Waffe. Es war ein gutes Gefühl, trotzdem konnte er die Selbstsicherheit, die Glyfara verströmte, nicht teilen.
„Was meinst du dazu?“, wandte er sich an den Wühler.
„Problem“, erwiderte dieser ungewohnt ernst, während er mißtrauisch den Stab musterte. Anscheinend hatte er nicht allzuviel Vertrauen in Michaels Geschicklichkeit im Umgang mit der Waffe. „Verhungern“, fügte er nach einer Weile mit brummiger Stimme hinzu.
„Das sehe ich genauso. Vielleicht gibt es in diesem Wald überhaupt kein Wild. Immerhin scheint ja irgend etwas mit ihm nicht zu stimmen.“
„Unsinn!“
Glyfara hatte das Packen beendet und schulterte den Rucksack. Prüfend kontrollierte sie die Tragriemen.
„Ein Wald ist ein Wald. Dort kenne ich mich aus. Irgend etwas Eßbares findet man immer, und wenn es nur ein paar Beeren sind. Also hör endlich auf zu meckern. Es geht allmählich gegen Mittag zu, und wir müssen schließlich noch diese Kneipe finden.“
Energisch machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Menge. Seufzend folgte Michael der Elbin auf dem Weg zurück in die Stadt. Ein paar Mal mußten sie nachfragen, bis sie schließlich in einer unauffälligen Seitenstraße die Kneipe „Zum hinkenden Ritter“ entdeckten. Beim Anblick der finsteren Spelunke war Michael nicht ganz wohl bei dem Gedanken, diese allein aufzusuchen und war daher erleichtert, als er die Zwerge vor dem Eingang ausmachte. Anscheinend hatten sie schon eine Weile gewartet, denn ihr Gesichtsausdruck verriet Ungeduld.
„Und, habt ihr euer Gold bekommen?“, begrüßte Glyfara sie. Grimmbart knurrte ungehalten.
„Diese Halsabschneider von Räten zahlen nach Kopfteilen aus.“
„Verstehe, tut mir leid“, erwiderte Glyfara. Michael konnte mit dieser Auskunft weniger anfangen.
„Wie meinst du das?“, fragte er. Streitaxt stieß einen tiefen Seufzer aus, bevor er antwortete.
„Na ja, das ist eigentlich ganz einfach. Versprochen war uns ein Betrag von tausend Goldtalern. Der Rat ist jedoch der Ansicht, daß dies die Gesamtsumme des Lohnes für alle Söldner gewesen sei. Da aber nur zwei lebend zurückgekommen sind, kürzt er die Summe entsprechend, zumal er nicht überzeugt davon ist, daß wir die Bedrohung tatsächlich beseitigt haben. Ihnen fehlt der Beweis.“
„Das ist ungerecht“, empörte sich Michael.
„Das ist das Leben“, korrigierte Glyfara ihn. „Man lernt ständig dazu.“
„Ja, wir hätten die Köpfe dieser verdammten Piraten als Beweis mitnehmen und ihnen vor die Füße rollen sollen“, knurrte Grimmbart. Verärgert wandte er sich der wurmstichigen Eingangstür zu, über der an zwei Ketten ein Ritter in Miniatur in voller Montur auf seinem Pferd baumelte. Das Schild knarzte im leichten Wind. Michael registrierte, daß das rechte Bein des Ritters in einem Holzstumpf endete, was den Namen der Kneipe erklärte. Die Rüstung selbst, die kaum eine Stelle aufwies, die nicht stark verrostet war, ließ darauf schließen, daß der Miniritter dort schon seit einer kleinen Ewigkeit hing.
„Hoffen wir, daß wenigstens die Information von diesem Lugor stimmt, sonst haben wir ein Problem.“
 
Mit einem kräftigen Schwung stieß Grimmbart die Tür auf und trat, gefolgt von den Gefährten, ein.
Dichte Rauchschwaden hingen unter der Decke der Schankstube und dämpften das Licht der wenigen Lampen, die an langen Ketten von den Deckenbalken herabhingen. Es dauerte daher einen Augenblick, bis Michaels Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnten. Bei dem Anblick, der sich ihm dann jedoch bot, war er überzeugt davon, daß sie geradewegs dabei waren, sich Ärger einzuhandeln. Der stark verräucherte mit derben Holztischen und Stühlen möblierte Raum platzte vor düsteren Gestalten, die die Neuankömmlinge finster anstarrten, aus allen Nähten. Hinter einem schmierigen Tresen stand ein wahrer Hüne von Wirt, der sie nicht minder mißtrauisch musterte, während er dabei war, das schon bekannte bierähnliche Getränk aus einem Faß in einen Holzkrug zu zapfen. Am unangenehmsten jedoch empfand Michael das Schweigen, das, kaum daß sie den Schankraum betreten hatten, eingesetzt hatte, zumal er sich mit seinen Decken unter dem Arm reichlich deplaziert vorkam. Doch bevor jemand ein Wort sagen konnte, drängte sich der Wühler neugierig nach vorn.
„Voll“, kommentierte er nach einem kurzen Blick in die Runde die Situation und sorgte so für schallendes Gelächter. Michael atmete erleichtert auf, als die Unterhaltung daraufhin wieder einsetzte und die Anwesenden das Interesse an ihnen verloren. Grimmbart ging zum Tresen hinüber.
„Was kann ich für euch tun?“
Mit einer schwungvollen Bewegung stellte der Wirt den Holzkrug auf dem Tresen ab, worauf ein wenig Flüssigkeit über den Rand schwappte und dafür sorgte, daß der schmierige Belag konstant blieb.
„Wir sind auf der Suche nach jemanden.“
„Sind wir das nicht alle?“, erwiderte der Wirt mit einem doppeldeutigen Grinsen, doch Grimmbart war nicht nach Scherzen zumute.
„Er heißt Grüneich und ist ein Troll, der hier angeblich regelmäßig einkehren soll. Kennst du ihn?“, fuhr er mit eiskalter Stimme fort. Der Wirt musterte ihn nachdenklich. Dank seiner jahrelangen Erfahrung als Kneipenwirt in dieser finsteren Ecke kannte er sich mit Waffenträgern aus. Die Bewaffnung der Zwerge ließ darauf schließen, daß er es hier mit Söldnern zu tun hatte, und mit denen war nicht zu spaßen, auch wenn er sie um Einiges überragte.
„Was wollt ihr von ihm?“, versuchte er Zeit zu schinden, während er sich fragte, wie die anderen Begleiter ins Bild paßten. Die Elbin sah auch nicht gerade so aus, als ob mit ihr gut Kirschen essen wäre. Der Junge hingegen wirkte harmlos, und dieses Tier würde bestimmt einen guten Betrag abgeben, wenn man es an die Gaukler verkaufen könnte, die regelmäßig durchs Land zogen.
„Geschäfte“, knurrte Grimmbart und zwang den Wirt dazu, sich wieder ihm zuzuwenden.
„Geschäfte“, wiederholte der Wirt und überlegte, ob sich daraus nicht für ihn einen Profit herausschlagen ließe. „Was ist für mich dabei drin, wenn ich es euch verrate?“
„Du behältst deine Gliedmaßen, wenn du uns keine Schwierigkeiten machst“, bemerkte Streitaxt nüchtern, wobei er lässig über den Griff seiner Wurfaxt strich. Der Wirt schluckte nervös.
„Also schön“, resignierte er angesichts dieser unerfreulichen Aussicht, „ihr findet ihn hinten links, neben dem Kamin.“
„Verbindlichen Dank.“
Grimmbart machte auf dem Absatz kehrt und bahnte sich zielstrebig einen Weg durch die Kneipe. Die Gefährten folgten neugierig. Zu ihrem Erstaunen befand sich am anderen Ende des Raumes, der wie ein L angelegt war, gleich links neben dem Kamin ein großer Holztisch, an dem ein Gast ganz allein saß. Bei dem Anblick, den er bot, fand Michael dies allerdings nicht verwunderlich. Er schätzte, daß der Troll, dessen finsterer, emotionsloser Gesichtsausdruck entfernt an die Statuen auf den Osterinseln erinnerte, über weit mehr als zweimeterundzwanzig Körperlänge und mindestens zweihundert Kilo Kampfgewicht verfügte. Die kräftigen Muskeln, die sich wie Baumstränge unter der dunklen, an vertrocknete Erde erinnernde Haut abzeichneten, machten ebenso wie der derbe mit Nieten beschlagene Lederharnisch, der sich über seiner breiten Brust spannte deutlich, daß mit ihm nicht zu spaßen war. Das war offensichtlich auch den anderen Gästen bewußt. Fast kam es Michael so vor, als würde sich rund um den Tisch eine unsichtbare Linie befinden, die zu überschreiten jeder der Gäste sorgsam vermied, ungeachtet der Tatsache, daß die Kneipe aufgrund der Vielzahl der Gäste beinahe überquoll.
Während die Gefährten näher kamen, bemerkte Glyfara, daß die rechte Hand des Trolls, die die Ausmaße einer Schaufel hatte, sich unauffällig auf den Griff seiner mit Stahlnägeln versehenen Keule legte, die demonstrativ mitten auf dem Tisch lag. Grimmbart, der dies ebenfalls bemerkt hatte, ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. Ohne zu zögern überschritt er die imaginäre Linie und baute sich vor dem Troll auf, der ihn sogar im Sitzen noch um einiges überragte.
„Bist du Grüneich?“
„Wer will das wissen?“, erwiderte der Troll drohend mit einer Stimme, die an rollende Felsbrocken erinnerte, während er sich mit einer erstaunlich geschmeidigen, auf eine lange Kampferfahrung schließenden Bewegung erhob. Der Anblick der massigen Gestalt, die plötzlich bedrohlich vor ihnen aufragte, erinnerte Michael an einen Truck, der sie jeden Augenblick überrollen würde. Schluckend revidierte er seine Einschätzung nach oben. Verglichen mit diesem Exemplar erschienen sogar die Trolle auf dem Piratenschiff eher wie entfernte Verwandte der Zwerge. Unwillkürlich wich Michael ein wenig zurück. Der Wühler schien das ähnlich zu sehen.
„Groß“, kommentierte er beeindruckt die riesige Erscheinung. Nur die Zwerge waren nicht  beunruhigt. Im Gegenteil.
„Grimmbart, aus dem Geschlecht der Zwerge, Sohn von Goldaxt“, stellte sich Grimmbart lässig vor, während seine rechte Hand locker, wie zufällig, auf seiner Wurfaxt ruhte. „Wir benötigen deine Hilfe.“
„Hilfe?“
Erstaunt hob der Troll die buschigen Augenbrauen, worauf sich auf der ohnehin schon zerfurchten, fliehenden Stirn wahre Berge und Schluchten bildeten, die Michael an seinen letzten Urlaub auf Lanzarote erinnerten. Die Kraterlandschaft im Nationalpark Timanfaya hatte ähnlich ausgesehen. Während der Troll sich seinen kahlen Schädel kratzte und ein Gesicht zog, bei dem jedes Kind vor Schreck sofort Reißaus genommen hätte, stellte Michael verärgert fest, daß die anwesenden Gäste weniger zart besaitet waren. Schon wieder hatten sie das allgemeine Interesse geweckt.
„Vielleicht sollten wir das besser im Sitzen besprechen“, schaltete sich Glyfara ein, die dies ebenfalls bemerkt hatte. Rigoros schob sie sich einfach an dem überraschten Troll vorbei, um sich dann auf einen der freien Stühle fallen zu lassen.
„Ich kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben“, knurrte Grüneich.
„Wenn du kein Interesse an einem guten Job hast....“ Demonstrativ erhob sie sich halb von ihrem Stuhl, worauf sie erwartungsgemäß von Grüneich gebremst wurde.
„Einen Job?“, fragte er mißtrauisch, während er zugleich mit der ausgestreckten Hand deutlich machte, daß sie sich wieder setzen sollte. „Wie kommt ihr darauf, daß ich einen suche?“
Glyfara sah sich demonstrativ um. „Das erkläre ich dir gerne, aber ohne daß alle zuhören.“
„Einverstanden, ich kann auch keine neugierigen Lauscher leiden. Darauf reagiere ich sehr allergisch“, knurrte der Troll, worauf sich auf wundersame Weise das allgemeine Interesse an ihrer Runde plötzlich verflüchtigte. „Dann laßt mal hören“, brummte er und nahm Glyfara gegenüber Platz. Schnell quetschten sich die anderen Gefährten auf die verbliebenen freien Stühle. Nur der Wühler suchte sich eine bequeme Stelle unterhalb des Tisches, allerdings außerhalb der Reichweite der gewaltigen Füße des Trolls, deren Außmaße an das alte Fischerboot erinnerten, mit dem sie den Fluß befahren hatten.
„Trifft es zu, daß du es geschafft hast, den Düsterwald zu durchqueren?“, ließ Grimmbart die Katze aus dem Sack. Das Gesicht des Trolls verdüsterte sich bei diesen Worten schlagartig.
„Zweifelst du etwa daran?“
„Nein, ich wollte nur sicher gehen.“
„Warum?“
Die Spannung, die nach dieser im drohenden Tonfall gestellten Frage in der Luft hing, glaubte Michael mit den Händen greifen zu können. Nach ein paar Sekunden lastenden Schweigens, ergriff Glyfara zu Michaels Erleichterung das Wort und brach so das drückende Schweigen.
„Weil wir hindurch müssen“, flüsterte sie so, daß es außer ihnen niemand verstehen konnte. Es dauerte einen Augenblick, bis der Troll die Bedeutung dieser Antwort erfaßte. Dann jedoch brach er in ein dröhnendes, nicht enden wollendes Gelächter aus, das an schweres Donnergrollen, dem in der Regel ein gewaltiges Unwetter folgt, erinnerte und etliche Anwesende zu einem überstürzten Aufbruch veranlaßte. Schließlich legte sich das Donnergrollen wieder, und Grüneich wischte sich mit seinem behaarten Handrücken die Lachtränen aus den schwarz glänzenden Augen. „Ihr seid lustig“, prustete er amüsiert. „Wieso glaubt ihr bloß, daß ihr das schaffen könntet?“
„Ganz einfach, weil du uns führen wirst“, erwiderte Streitaxt trocken. Das ernüchterte den Troll schlagartig. Michael fand es beeindruckend, wie schnell sich die Miene des Trolls verfinsterte.
„Das könnt ihr vergessen!“
„Wieso? Du hast es doch schon einmal geschafft“, mischte sich Michael zum ersten Mal in das Gespräch ein. Ruckartig fuhr der Kopf des Trolls herum. Der mitleidige Blick, mit dem Grüneich ihn musterte entsprach dem eines Psychiaters, der einen besonders schweren Fall geistiger Umnachtung betrachtet, kurz bevor er den Zellenschlüssel für immer verschwinden läßt.
„Was weißt du über den Düsterwald?“, fragte er mit beunruhigend sanfter Stimme, die an die berüchtigte Ruhe vor dem Sturm erinnerte. Die Finger des Trolls trommelten dabei einen unmelodiösen Rhythmus auf die mitgenommene Tischplatte. Michael schluckte nervös.
„Na ja, das ist nicht gerade die Gegend, in der man seine Freizeit verbringen möchte“, erwiderte er schließlich zögernd.
„Freizeit?“, wiederholte Grüneich mit leicht erhobener Stimme und beugte sich vor. „Wenn du Nervenkitzel suchst, Junge, dann zieh in den Krieg. Die richtige Begleitung hast du dir mit deinen beiden Söldner hier ja bereits angelacht. Und jetzt verschwindet alle zusammen, ihr stehlt mir meine Zeit.“
„Warte, er hat sich etwas ungeschickt ausgedrückt“, versuchte Glyfara den Troll zu beschwichtigen und strafte Michael mit einem strengen Blick. „Wir brauchen keinen Krieg als Nervenkitzel. Im Gegenteil! Wir wollen einen vermeiden, einen Krieg, der die ganze Welt vernichten würde.“
Das weckte die Neugier des Trolls.
„Was ist das schon wieder für ein Unsinn?“
Glyfara zögerte einen Augenblick, doch dann entschied sie sich dazu, dem Troll die Wahrheit zu erzählen, jedenfalls in dem Umfang, in dem sie es bereits bei Lugor getan hatte. Als sie schließlich zum Ende kam, sah sie den Troll erwartungsvoll an. Der machte jedoch keinen Hehl daraus, was er von der Geschichte hielt.
„Ihr glaubt doch nicht im Ernst, daß ich diese Geschichte schlucke. Raus damit. Was steckt wirklich dahinter?“
„Sie hat dir die Wahrheit erzählt“, knurrte Streitaxt.
„Na schön, soll mir egal sein. Jetzt werde ich euch einmal die Wahrheit über den Düsterwald erzählen, da ihr offensichtlich keine Ahnung habt, worauf ihr euch einlassen wollt. Der Düsterwald ist nicht nur ein riesiges, finsteres Waldgebiet, durch das kein befestigter Pfad führt, er ist mehr als das, viel mehr. Er gleicht einem riesigen Lebewesen, das jeden, der sich in seinen Schlund verirrt, für immer verschlingt.“
Grüneich nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Krug, bevor er fortfuhr.
„Er beherbergt tückische, riesige Moore mit noch finsteren Bewohnern, die dafür sorgen, daß man für immer in ihnen verschwindet. Lebende Bäume, die einen mit ihren Wurzeln und Ästen einfangen und bei lebendigem Leib verdauen, lauern überall, aber vor allem muß man sich vor den Golems in Acht nehmen, den eigentlichen Herren des Waldes. Wenn sie sich auf deine Fährte setzen, kannst du einpacken.“
„Was sind Valogs?“
Die Besorgnis auf Michaels Gesicht war nicht zu übersehen.
„Ein Märchen“, erwiderte Glyfara an Stelle von Grüneich. „Man sagt, sie könnten sich im Wald unsichtbar machen und würden alles fressen, was ihnen unter die Finger kommt. Nur gesehen hat sie noch keiner, jedenfalls keiner, der noch lebt.“
„Märchen!“
Wütend schlug Grüneich mit der flachen Hand auf den Tisch, woraufhin ein standhafter Trinker am Nachbartisch vor Schreck seinen Krug fallen ließ. „Ich habe sie gesehen, und sie sind erheblich furchteinflößender als die Geschichten, die man über sie erzählt.“
„Und warum läufst du dann noch hier herum, anstatt in diversen Valogmägen verdaut zu werden?“, fragte Grimmbart zynisch.
„Weil ich im Wald aufgewachsen bin und mich perfekt tarnen kann. Trotzdem hätten sie mich beinahe entdeckt. Ihr hingegen hättet als Gruppe keine Chance. Also vergeßt das Ganze besser.“
Mit verschränkten Armen lehnte sich Grüneich daraufhin zurück und hinterließ erst einmal bedrücktes Schweigen.
„Also doch durchs Kriegsgebiet?“, ließ sich Michael schließlich mit einem Räuspern vernehmen. Grimmbart schüttelte demonstrativ den Kopf.
„Das wäre ebenfalls Selbstmord. Außerdem würden wir dort sofort von den Spähern des Wandlers entdeckt werden. Wir haben keine Wahl. Wir schaffen den verflixten Wald auch ohne diesen Feigling hier.“
„Feigling!“, brüllte Grüneich verärgert los, während er zugleich mit einer blitzschnellen Bewegung nach seiner Keule griff und damit auf die Tischplatte einschlug. Die langen Stahlnägel versanken mehrere Zentimeter tief in dem massiven Holz. „Wage es nicht noch einmal, einen Troll einen Feigling zu schimpfen.“
„Dann komm doch einfach mit und beweise, daß du keiner bist“, erwiderte Grimmbart und brachte den Troll damit ins Grübeln. Auf keinen Fall wollte er wie ein Feigling aussehen, danach, den Wald zu durchqueren, stand ihm aber auch nicht unbedingt der Sinn. Plötzlich fiel ihm eine Lösung ein, wie er aus der Sache herauskommen konnte, ohne sein Gesicht zu verlieren oder wie er wenigstens für sein restliches Leben aussorgen könnte.
„Ihr habt mir noch gar nicht gesagt, was ich davon hätte, wenn ich euch führen würde.“
„Was schwebt dir denn vor?“, fragte Glyfara.
Demonstrativ rieb der Troll seinen rechten Daumen am Zeigefinger.
„Verstehe.“ Glyfara war ein wenig frustriert. Daß Trolle materialistisch eingestellt sind, hatte sie nicht bedacht. Schließlich lenkte sie ein. „Wir können dich erst bezahlen, wenn wir den Norden erreicht haben. Du wirst uns also wohl oder übel begleiten müssen.“
„Ganz bis in den Norden? Ich glaube kaum, daß ihr euch das leisten könnt.“
„Wieviel?“
Die Verärgerung über diese Wendung des Gesprächs, war Glyfara deutlich anzumerken.
„Falsche Frage, frag lieber, was?“
Die Gefährten sahen ihn verständnislos an.
„Drücke dich deutlicher aus“, knurrte Streitaxt.
„Nun“, hub Grüneich bedeutungsvoll an, „ich komme allmählich in die Jahre, und da macht man sich so seine Gedanken, wo man seine alten Tage verbringen soll.“
„Du hast es doch ganz nett hier“, witzelte Grimmbart.
„Sehr komisch, Zwerg.“ Er wandte sich wieder an Glyfara. „Wenn du tatsächlich die Tochter des fünften Hohenpriesters der Elben bist, dann verfügt dein Vater mit Sicherheit über beträchtliche Ländereien.“
„Worauf willst du hinaus?“, zischte Glyfara, der Schlimmes schwante.
„Ganz einfach, ich will davon ein schönes Stück Ackerland abhaben, mit einem netten Haus drauf, so daß ich für den Rest meines Lebens keine Sorgen mehr zu machen brauche.“
„Vergiß es!“
„Habe ich eigentlich schon die Pilzsporen erwähnt, die zu Halluzinationen und Wahnvorstellungen führen. Wehe dem, der das Pech hat, auf so einen Pilz zu treten.“
„Pilz, lecker“, ertönte es von irgendwo unterhalb des Tisches, doch niemandem war im Moment zum Schmunzeln zumute. Glyfara fixierte ihr Gegenüber ungehalten.
„Die Zwerge kommen auch umsonst mit. Warum sollte ich dir eine solch vermessene Summe zahlen?"
Grüneich grinste unverschämt.
„Weil ich den Preis wert bin. Du wirst niemanden sonst finden, der dich durch den Wald führen kann, und allein seid ihr verloren. Und was deine Begleiter angeht, so kenne ich die Zwerge. Sie haben mit Sicherheit einen guten Grund, sonst würden sie dir schon ihre Rechnung präsentiert haben, zumal sie als Söldner ohnehin nur gegen klingende Münze arbeiten. Ihr Grund geht mich nichts an, aber ich habe keinen, es sei denn, du gehst auf mein Angebot ein.“
Glyfara zögerte, während die Zwerge finstere Mienen zogen. Schließlich rang sich Glyfara zu einer Entscheidung durch.
„Also gut, wenn du uns sicher durch den Wald bringst und in den Norden begleitest, werde ich meinem Vater vorschlagen, dich in angemessener Form zu entschädigen. Ob die Belohnung allerdings deinen Vorstellungen entsprechen wird, kann ich dir nicht garantieren, aber mein Vater ist ein großzügiger Mann. Dieses Risiko mußt du eingehen. Mehr kann ich dir nicht zusagen.“
„Ich werde darüber nachdenken.“
„Aber nicht zu lange. Wir wollen am frühen Nachmittag aufbrechen. Wenn du mitkommen willst, wirst du uns an der Fähre antreffen. Falls nicht, werden wir es auch ohne dich irgendwie schaffen, ob du allerdings noch einmal so ein Angebot erhältst, bezweifle ich.“ Entschlossen stand Glyfara auf, nickte dem Troll noch einmal zu, drehte sich um und strebte dem Ausgang zu. Die Gefährten folgten. Zurück blieb ein grübelnder Troll, der nicht wußte, was er nun machen sollte.
 
Michael war froh, als sie wieder ins Freie traten. Die stickige Luft in der finsteren Kneipe hatte ihm zu schaffen gemacht. Er hoffte nur, daß sich der Weg gelohnt hatte. Das Angebot klang zwar verlockend, gleichwohl hatte der Troll unschlüssig ausgesehen, was darauf schließen ließ, daß der Düsterwald seinen Namen zurecht trug. Nicht zum ersten Mal fragte sich Michael daher, ob sie nicht doch lieber den Ostweg versuchen sollten. Derart in Gedanken versunken folgte er den anderen, die sich gerade halbherzig über eine mögliche Belohnung für die Dienste der Zwerge stritten.
So bemerkte keiner die schwarze Gestalt, die sich tief in dem Schatten eines Durchgangs verbarg und ihnen haßerfüllt hinterher sah.
„Den Düsterwald wollt ihr also durchqueren und braucht dazu einen Führer“, flüsterte der Wandler leise, nachdem die Gefährten verschwunden waren. Vielleicht würde sich dort eine Gelegenheit bieten, ihnen das Artefakt zu entwenden. Am liebsten hätte er sich sofort des Artefakts bemächtigt, aber ohne seine Helfer, die alle während der Verfolgung durch die Höhle ihr Leben hatten lassen müssen, konnte er keinen direkten Angriff mehr wagen. Die letzten seiner Getreuen waren dem Wüten des Jägers zum Opfer gefallen. Außer ihm hatte nur der Rudelführer das Gemetzel überlebt. Nur seinem außergewöhnlich guten Instinkt war es zu verdanken, daß sie diesem unterirdischen Labyrinth hatten entkommen können. Über halsbrecherische Kamine und über tiefe Schluchten hinweg hatte er sie schließlich zu einem winzigen Spalt im Fels hoch oben in einer steilen Felswand geführt. Bei dem anschließenden selbstmörderischen Abstieg war der Schnüffler zum Bedauern des Wandlers abgestürzt, so daß er nun auf sich allein gestellt war.
Mangels Anhaltspunkten hatte er sich nach Norden gewandt und war so auf diese Stadt gestoßen. Rasch war er in die Maske eines bedauernswerten Fischers geschlüpft, der das Unglück hatte, ihm über den Weg zu laufen und hatte so Nachforschungen über den Verbleib seiner Gegner angestellt. Mit Erfolg, auch wenn ihm das im Augenblick nicht weiter half.
Er fluchte verzweifelt angesichts der Tatsache, daß das Objekt seiner Begierde gerade zum Greifen nah und doch unerreichbar fern an ihm vorbeimarschiert war. Ihm war aber auch bewußt, daß die Strapazen der letzten Zeit an seinen Kräften gezehrt und ihn geschwächt hatten, so daß er es nicht wagen konnte, sich allein mit seinen Feinden anzulegen. Auch er war sterblich, und die Zwerge und die Elbin waren ernst zu nehmende Gegner. Er mußte Geduld haben, bis sich eine geeignete Gelegenheit ergab oder seine Kräfte wieder so weit hergestellt waren, um erneut für einen kurzen Moment einen Riß im Dimensionsgefüge zu bewirken und so einem kleinen Teil seiner Armee den Einlaß in diese Welt zu ermöglichen. Doch das braucht Zeit, und die hatte er nicht mehr. Wenn es der Elbin gelingen sollte, den Düsterwald zu durchqueren, würde er sie endgültig aus den Augen verlieren und das Artefakt wäre verloren. Er mußte ihnen also auf den Fersen bleiben, selbst wenn das eine Durchquerung des Düsterwaldes bedeuten sollte.
Hinter ihm, ein Stück die Gasse hinauf, protestierte die Kneipentür mit lautem Quietschen gegen die Art, wie sie geöffnet wurde und riß den Wandler aus seinen Gedanken. Nachdenklich musterte er den Troll, der unschlüssig im Halbdunkeln vor dem Eingang stand und wütend einem offenbar aus der bröckeligen Fassade der Kneipe gefallenen Stein einen wütenden Tritt verpaßte, der diesen mit erschreckender Geschwindigkeit durch die Gasse fliegen ließ. Ein Idee begann sich im kranken Hirn des Wandlers zu formen. Nach den Gesprächsfetzen, die er vorhin aufgeschnappt hatte, mußte es sich bei diesem Kraftpaket um den Troll handeln, den sich seine Feinde als Führer auserkoren hatten. Vielleicht bot sich hier die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte.
„Wenn du deine Feinde nicht direkt angreifen kannst, infiltriere sie“, murmelte er, nachdem der Troll an ihm vorbei die Gasse hinunter geschritten war. Einem Schatten gleich folgte er ihm, wobei er ein Bein leicht nachzog. Die Auseinandersetzungen in der Höhle hatte auch bei ihm Spuren hinterlassen, doch der eigentliche Kampf fing gerade erst an. 

Wird fortgesetzt.....

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus-Peter Behrens).
Der Beitrag wurde von Klaus-Peter Behrens auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.08.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Klaus-Peter Behrens als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Starke Mütter weinen nicht von Linda Mertens



In ihrer Biografie beschreibt die Autorin in sensibler und eindrucksvoller Weise den verzweifelten Kampf um das Glück ihrer kleinen Familie. 19 Jahre stellt sie sich voller Hoffnung den Herausforderungen ihrer schwierigen Ehe..........doch am Ende bleibt ihr nichts als die Erinnerung.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Fantasy" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Klaus-Peter Behrens

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Das Tor zwischen den Welten, Teil 28 von Klaus-Peter Behrens (Fantasy)
Wunschtraum von Edelgunde Eidtner (Fantasy)
Die Nachrichtensprecherin von Norbert Wittke (Zwischenmenschliches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen