Diethelm Reiner Kaminski

Augen



Jasper Schmude müsste seinen Vater besuchen. Der liegt im Sterben. In der Kreisstadt. Nur 28 Kilometer von Schmudes Wohnort entfernt. Wenn er nicht sofort hinfährt, sieht er seinen Vater vielleicht nicht mehr lebend.
Aber da gibt es ein großes Problem. Jasper Schmude hat kein Auto. Wie soll er unbemerkt zum Bahnhof kommen? Und in der Kreisstadt ungesehen ins Krankenhaus? Und vom Krankenhaus zurück zum Bahnhof? Und vom Bahnhof seines Wohnorts wieder sicher in die Wohnung? Allein der Gedanke daran ruft Schweißausbrüche in ihm hervor. Zwar könnte er das Ticket online im Internet bestellen und ausdrucken. Er könnte auch den ersten Zug um 5.00 Uhr in der Frühe nehmen, wenn kaum Menschen auf der Straße sind, aber im Zug selbst, und dann später am helllichten Tag …
Überall Augen, die ihn beobachten, böse Blicke, die ihm nach dem Leben trachten. Hinter Büschen, Gardinen, selbst in den Baumkronen. Und dann gar die ganz Dreisten, die sich nicht einmal verstecken. Er könnte sich vermummen. Im kalten Monat November fällt es nicht weiter auf, wenn er sich seinen Wollschal um Kinn und Mund wickelt und die Kapuze seines Anoraks tief ins Gesicht zieht.

Doch was hilft das schon? Die bösen Blicke durchbohren ihn. Da hat er nicht die geringste Chance. Im Gegenteil. Jede Gegenwehr schürt nur den Zorn seiner Widersacher. Die besten Erfahrungen hat er damit gemacht, dass er sich nicht rührt, schon gar nicht nach draußen.  Das betrachten SIE als Überschreiten einer ein für allemal gezogenen Grenze. Harte Sanktionen sind die Folge: Angstträume, Herzrasen, schlaflose Nächte.

Herr Schmude ruft im Krankenhaus an und lässt seinem Vater ausrichten, dass er sich eine schwere Lungenentzündung zugezogen habe und unmöglich das Bett verlassen könne. Dann ruft er bei „Essen auf Rädern“ an und gibt seine Bestellung  für die ganze Woche auf. „Stellen Sie das Essen wie üblich vor die Tür. Die Monatsrechnung buchen Sie bitte wie immer von meinem Konto ab.“

Ein dunkler, regnerischer Tag.
Herr Schmude knipst trotzdem kein Licht an.
Auch Fernseher und Radio bleiben ausgeschaltet.
Nur nicht auffallen.
Möglichst wenig bewegen.
Auf diese Weise findet Herr Schmude Ruhe vor seinen Feinden.
Aber nur vorübergehend.

In seine Wohnung sind sie auch schon eingedrungen.

Deutlich spürt er ihre durchdringenden Blicke.


01.08.2006

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