Helmut Wurm

Sokrates zur Abschaffung der bisherigen Schul-Schreibschrift

Sokrates sitzt auf einer Parkbank und hält einen Zeitungsbericht in der Hand, in dem die beginnende Abschaffung der bisherigen Schul-Schreibschrift mit Verbindungsstrichen zwischen den Buchstaben kritisch besprochen wird.

 Denn an den deutschen Grundschulen tobt ein Glaubenskrieg. Seit ein Lehrerverband fordert, die bisherige Schreibschrift abzuschaffen, streiten Pädagogen um das Schreibenlernen. Einige Kritiker sehen sogar die komplette bisherige Schriftkultur im Untergang begriffen.

 An vielen Schulen bundesweit lernen Zweitklässler inzwischen keine übliche Schreibschrift mehr, sondern entwickeln unter Anleitung aus einfachen Druckbuchstaben eine individuelle Handschrift, die so genannte Grundschrift.

 Wer sich mit der Geschichte des Schreibenlernens an deutschen Schulen beschäftigt, dem schwirrt wegen der Vielfalt der gelehrten Schriftarten allerdings etwas der Kopf. Die kantige, verschnörkelte Sütterlin-Schrift dürften viele nur noch aus den Briefen der Großeltern kennen. Sie kam Anfang der 50er-Jahre rasch aus der Mode. Ersetzt wurde sie durch die lateinische Ausgangsschrift, die bis heute an Grundschulen gelehrt wird. Sie stellt mit ihren vielen Bögen, Auf- und Abstrichen vielleicht für einen Teil der Schüler eine feinmotorische Herausforderung dar.

 Diese bisherige Schreibschrift war am Hofe Karls des Gr. entstanden, weil die Schreiber dort kaum noch nachkamen mit dem Kopieren antiker Schriften, die Karl d. Gr. für den Ausbau seiner Klosterschulen vervielfältigen wollte. Man nannte sie deswegen verständlicherweise „karolingische Schreibschrift“. Diese Schrift war also eingeführt worden, weil man schneller schrieb, wenn man die Feder nicht nach jedem Buchstaben wieder anheben musste und wenn die Druckschrift-Buchstaben, eigentlich die alte lateinische Schrift, verkleinert und vereinfacht wurden. Es war also ein ganz praktischer Hintergrund für die Entwicklung dieser Schrift mit verbindenden Strichen.  

Sokrates liest diesen Artikel noch einmal und schüttelt mit dem Kopf. Der Artikel lautet:

Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 30. 8. 2011

.........

 Verfasst von Heike Schmoll

Sokrates (sinniert): Hier wird etwas abgeschafft, was schwer wieder einzuführen ist, wenn sich diese neue Freiheit im Schreiben durchgesetzt, aber als wenig vorteilhaft erwiesen hat.

Mir fallen da einige mögliche Ursachen und Folgen ein:

1. Im Grunde war eine solche Entwicklung vorauszusehen, seitdem viele Lehrer selber nicht mehr auf eine klare Schrift bei sich geachtet haben. Immer häufiger hörte man von Lehrern, dass es genüge, wenn die Schüler so schrieben, dass am wisse, was sie meinten. Damit war einer stetigen Vernachlässigung und Verschlechterung der doch so schönen karolingischen Schulschrift Tür und Tor geöffnet.

2. Dass diese karolingische Schulschrift, die bisherige Ausgangsschrift also, so schwer zu schreiben sei und eine große Herausforderung für viele Schüler darstelle, hörte man zur Zeit der Großeltern nicht, weil diese Schrift damals gründlich gelernt und in allen späteren Klassen auf ihre Einhaltung geachtet wurde. Und man schrieb diese schöne Schrift nicht so schnell wie heute, sondern überlegte mehr, was man schreiben wollte. Dieses heutige schnelle Hinschreiben ist das Pendant zum heutigen schnellen Reden. Insofern war die bisherige lateinisch-karolingische Schönschrift gar nicht schlecht. Sie war eine Flüchtigkeitsbremse.

3. Aber diese karolingische Ausgangsschrift ist gar nicht so langsam. Wenn man eine Klasse in 2 Gruppen einteilt und ein Diktat schreiben lässt, die eine in lateinischer Druckschrift und die andere in der lateinisch-karolingischen Schrift mit Verbindungsstrichen, dann ist die Gruppe mit der verbundenen Schrift in der Regel schneller fertig. Man gewinnt also unter dem Strich nicht viel, wenn man die Schüler sich eigene individuelle Schriften schaffen lässt. Man treibt die Schüler eher noch mehr zu den modernen Schreib-Maschinen hin, denn diese individuellen, schnellen Schreibschriften dürften wenig ansehnlich sein.

4. Ich fürchte, dass hinter dieser Forderung nach Schriftumstellung der in Deutschland leider zunehmend feststellbare Wunsch steht, die Schule auf allen Gebieten immer mehr zu erleichtern und Anforderungen abzubauen. Das sind die Erleichterungs-Pädagogen, die hier wieder ein Feld entdeckt haben, in dem sie schulische Anforderungen abbauen können.

5. Und weiter fürchte ich, dass hinter diesen Erleichterungspädagogen bestimmte politische Kräfte stehen, die systematisch nach Möglichkeiten suchen, Wähler (und das sind hier naive Eltern) mit Angeboten anzulocken. Die modernen Gefälligkeitskräfte dürften systematisch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens nach solchen Erleichterungen durchsuchen, mit denen sie Stimmen bekommen können. Armes Deutschland, deine Jugend wird immer weniger gefordert und die künftigen Erwachsenen-Generationen werden immer weniger Anforderungen gewohnt sein. Welch eine Parallele zu unserer griechischen Spätantike! 
Die griechische Staatenwelt ging zugrunde, weil sie durch die damaligen radikal-demokratischen Parteien verweichlicht und degeneriert den konservativen und disziplinierten Römern nicht mehr gewachsen war.

Damit faltet Sokrates den Artikel wieder zusammen und geht nachdenklich weiter.

(Aufgeschrieben noch in der bisherigen lateinischen Ausgangsschrift von discipulus Socratis, der den Artikel auch gelesen und dem Sokrates seine Gedanken erzählt hat)   

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.10.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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