Sabine Silla

Die ganze Geschichte ...

Als ich den Motor starte, erwacht auch das Autoradio. Die ersten Takte von „Night Of The Hunter“ erklingen. Ein gutes Lied.
4 Wörter im Titel, 16 Buchstaben. 4x4=16. Alles gerade Zahlen. Gerade Zahlen. Gerade Zahlen sind gut.
Nein, ich errechne keine Quersummen - nur um dann noch festzustellen, dass sich auch ungerade Zahlen dort verstecken. Ich bin ja nicht verrückt!
Aber ich habe ein Problem, das habe ich erkannt.

Auf dem Weg zu meinem Auto habe ich 86 Gehwegplatten überquert. 86 ist gut. Beinahe wären es nur 85 gewesen!
Da musste ich noch einen kleinen Schlenker machen und mich dann etwas strecken, um die Autotür zu erreichen. Aber das ist kein Problem. Ich bin auf keine Linie, keine Kreuzung mehrerer Platten getreten, habe mich immer in der Mitte jeder Platte bewegt. Ich weiß, es klingt verrückt, aber das hält die Dinge in Ordnung. In Ordnung. Bald wird alles wieder gut sein. Wieder gut. Gut...
Wo war ich? Richtig! Ich habe erkannt, dass ich ein Problem habe. Aber niemand da, der mir helfen kann - außer vielleicht ... Nadine?!
Nadine ist eine Kollegin, wir arbeiten zusammen in der Buchhaltung einer kleinen Firma in Hamburg. Wir unterhalten uns oft, wir mögen uns. Sie macht sich Sorgen um mich. Weil ich meine Kugelschreiber jeden Tag zähle und dafür sorge, dass sich kein elfter Stift in meiner Stiftdose einschleicht. Ist das nicht albern? Dass Nadine sich deshalb Sorgen macht? Gibt es nichts Schlimmeres auf der Welt? Ich habe Angst. Denn die Fragen lassen sich irgendwie sowohl mit „ja“ als auch mit „nein“ beantworten.

Nadine begrüßt mich mit dem wunderschönen Lächeln, mit dem sie mich jeden Morgen meine Sorgen für einen kurzen Moment vergessen lässt. Wie so oft in letzter Zeit verfinstert sich ihr Blick jedoch, als sie mir in die Augen schaut. Sie kaut auf ihrer Unterlippe, schaut mich an, schaut weg, blickt mir wieder in die Augen, sagt schließlich: „Alex, du siehst so ... gehetzt ... aus. Was ist nur los mit dir in letzter Zeit? Du bist so ... anders.“ Etwas in mir leuchtet kurz hell auf. Ein angenehmes Gefühl. Freude? Erleichterung? Ja, Erleichterung. Sie macht es mir einfacher mit dieser Gesprächseröffnung. Ich schau ihr in ihre wunderschönen grünen Augen und ich würge endlich die Wörter heraus, die ich seit Tagen in meinem Kopf hin und her drehe: „Nadine, ich ... brauch dich. Um wieder Ordnung in die Dinge zu bringen. Also ... ich meine, ich muss mit jemandem reden. Kann ich dich zum Essen einladen? Bei mir? Bald? Vielleicht heut?“ Sie schaut mich nur kurz verwirrt an, bevor sie reagiert: „Sicher. Gern. Endlich redest du mit mir! Essen, heut?! Um acht? Passt dir das?“ Ich kann nicht fassen, dass sie sofort zusagt! Völlig perplex bestätige ich acht Uhr. Eine gerade Zahl. Gut!

Natürlich weiß ich, was sie essen mag. Wir arbeiten schließlich seit 4 Jahren (gerade Zahl!) zusammen. Ich habe extra eher Feierabend gemacht, um Nadine ihr Leibgericht servieren zu können. Es ist schlicht, aber dennoch nehme ich mir Zeit für die Zubereitung. Schließlich hat sie nun mein Seelenheil in ihrer Hand. Alles hängt davon ab, ob sie mich versteht. Mir helfen kann. Es klingelt. Ich öffne ihr die Tür. Sie ist wunderschön. Nadine steht schüchtern in der Tür, wird schließlich durch den Duft ihres Lieblingsgerichts in mein Haus gezogen: „Alex, danke für die Einladung. Hmmm, es riecht nach ... du hast doch nicht etwa ...?“ Ich nehme ihren Mantel ab: „Doch, Nadine, natürlich. Ich weiß doch, dass du zu faul bist, das nur für dich allein zu kochen ...“ Sie kichert. Gott, sie ist so schön. Ich hoffe nur, sie hasst mich nicht, nachdem ich ihr alles erzählt hab. Das wäre das Schrecklichste für mich: wenn wir uns nach diesem Abend im Bösen trennen, sie mich verachtet, mich auslacht, mich nicht mehr mag. Das könnte ich mir nie verzeihen. Ich geleite sie ins Esszimmer, bringe ihr den Wein. Wir stoßen an - auf den heutigen Abend. Auf das ich wieder ein wenig mehr ich selbst sein kann. Danach Stille. Unangenehmes Schweigen? Ich weiß es nicht. Doch bevor ich mir darüber auch noch Gedanken machen muss, ist das Essen fertig. Ich serviere, wir stoßen noch einmal an. Wir essen, schweigend. Nadine durchbricht die Stille, sagt: „Alex ...“ Sie muss auch nicht mehr sagen. Zu lange habe ich geschwiegen. Es bricht aus mir heraus:

„Nadine, ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte. Ich weiß nicht, was mit der Welt los ist, was mit mir los ist. Ich weiß nicht mehr, wie es begann. Ich hab bereits Sheila gefragt, warum das so alles so ist, wie es ist. Sheila, meine Nachbarin?! Die kennst du doch auch? Klar kennst du sie, wir waren ja schon zusammen auf dem Flohmarkt.“ Ich muss lachen, denke zurück. „Weißt du noch? Ihr habt euch für das gleiche Buch interessiert und im Endeffekt hat es keine von euch beiden gekauft, weil es keine von euch der anderen wegnehmen wollte.“ Nadine lächelt. „Also, Sheila meinte, es fing alles damit an, dass ich schauen musste, ob der Herd aus ist, bevor ich zur Arbeit ging. Und ob die Waschmaschine aus ist. Und alle Stecker gezogen. Sie meinte, das war der Moment, als ich begann, durchzudrehen. Aber das ist doch Quatsch. Das macht doch jeder, oder? Also nicht durchdrehen. Sondern sein Hab und Gut kontrollieren. Nadine? Jeder schaut doch, ob die Wohnung nicht zerstört werden kann, während man auf der Arbeit ist?!“ Ich schaue sie an, hilfesuchend. Bitte bestätige mir, dass ich nicht verrückt bin, Nadine! Bitte! „Alex ... ja, sicher, jeder schaut noch mal nach, aber ...“ „Hilfst du mir?“, frage ich. „Ja, natürlich möchte ich dir helfen, Alex!“ Ich bin erleichtert. Sie versteht mich! Sie wird mir helfen, das alles zu überstehen, die Ordnung wiederherzustellen. Ich wusste es. „Ich bin so froh, dass du hier bist, Nadine.“ Sie nimmt noch einen Schluck Wein. Mir fällt auf, dass sie müde aussieht. Sie bedeutet mir, weiter zu sprechen.

„Es kam einfach eins zum anderen, Nadine. Ich hab nachgeschaut, ob die Tür abgeschlossen ist. Einmal reichte nicht. Zweimal musste ich schauen. Mindestens. Zwei ist eine gerade Zahl. Gerade Zahlen sind gut, weißt du? Sicher weißt du das! Aber wenn man bereits zweimal geschaut hat, ob der Wasserhahn im Bad wirklich nicht mehr läuft, muss man sich für die Tür was anderes einfallen lassen! Die 2 ist ja schon besetzt, durch den Wasserhahn! 3 ist ungerade, also schlecht. Ungerade Zahlen sind schlecht! Das siehst du doch auch so, Nadine? Sie zerstören alles! Also mindestens 4 mal am Türgriff rütteln ...“ Nadine schaut mich an ... ich weiß nicht, ob es ein verständnisvoller, ein mitleidiger, ein fragender oder verwirrter Blick ist. Sie setzt an, etwas zu sagen, aber ich habe gerade Mut gefasst, ihr alles zu gestehen und unterbreche ihr „Alex ...“ indem ich ihr erzähle, dass aus dem Schauen dann ein kontrollierter Tagesablauf wurde. Die Gehwegplatten zählen. Ungerade Zahlen bei Gehwegplatten vermeiden. Zum Beispiel. Oder bei Kugelschreibern. Bei allem eigentlich. Warum sitzt Nadine hier bei mir? Außer natürlich, weil sie wunderschön, eine tolle Freundin, super Kollegin und meine einzige Hoffnung ist? Weil Nadine aus 6 Buchstaben besteht! 6! Gerade! Ha! Nadine schaut mich weiter an. Unsicher? Ich rede und rede, erkläre ihr, das gerade Zahlen in nahezu allen Bereichen unser Leben bestimmen und wie verdammt anstrengend es ist, alles wieder und wieder zu zählen und ...

Nadine unterbricht mich: „Mein Gott, Alex, was ist nur los? Was ist passiert? Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Was ...“ Ich bin verwirrt. Ich dachte, Nadine versteht mich?
„... hat Sheila denn dazu gesagt?“ beendet sie leise ihren Satz.
Ach so. „Sheila. Also Sheila hat das nicht so richtig verstehen wollen. Wir saßen hier, beim Essen. Wie wir gerade. Ich erzählte ihr, dass Herr Neumann mich ansprach und wissen wollte, warum ich ,so albern auf den Gehwegplatten herumtänzle‘ - stell dir das mal vor, Nadine! - ,albern rumtänzeln!‘ Ich erzählte ihm alles - froh, dass sich endlich jemand dafür interessierte, was hier gerade alles schief läuft in der Welt! Er rief seine Frau. Ich dachte wirklich, die Beiden würden mich verstehen.“
Ich lachte auf, erfüllt von Bitterkeit. Nadine starrte mich an. Interessiert? Ängstlich? Egal!
„Sie machten sich lustig über mich. Kannst du das glauben? Sie machten sich lustig! Ich konnte nicht anders. Ich schlug sie, wieder und wieder, mit den Flaschen, die ich gerade zum Container bringen wollte. Herr Neumann habe ich 22 Mal geschlagen, Frau Neumann 14 Mal, bis sie sich nicht mehr bewegten. Zusammen 36 Schläge. 22, 14, 36! Alles gerade Zahlen! Das hab ich Sheila erzählt. Sie wollte weg. So wie du jetzt!“
Nadine rutscht vom Stuhl, zieht die Decke mit sich, versucht, zur Wohnungstür zu gelangen.
„Aber diesmal bin ich vorbereitet. Bei Sheila war es Glück, dass ich sie erwischt hab, bevor sie flüchten und mich vor der Welt als verrückt hinstellen konnte. Diesmal hab ich sicherheitshalber Schlaftabletten in den Wein getan. Eine gerade Anzahl natürlich. Weißt du, Nadine, das Problem liegt nicht darin, dass du mich auch nicht verstehst. Ich dachte wirklich, das wäre wichtig. Dass du mich verstehst. Ich habe mich geirrt. Wichtig ist nur, dass nicht weiterhin 3 Leichen in meinem Keller liegen dürfen. 3 ist ungerade. 3 ist schlecht.“

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Sabine Silla).
Der Beitrag wurde von Sabine Silla auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.10.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Sabine Silla als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Die Gereimtheiten des ganz normalen Lebens von Petra Mönter



Ein kleiner Kurzurlaub vom Ernst des Lebens.

Petra Mönter's Gedichte beschreiben das Leben - auf humorvolle Art und Weise. Herzerfrischend und mit dem Sinn für Pointen. Es ist es ein Genuss Ihre Gedichte, welche alle mit schönen Zeichnungen unterlegt sind, zu lesen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wie das Leben so spielt" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Sabine Silla

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Schattentanz von Sabine Silla (Wie das Leben so spielt)
Die Champagner-Wette von Rainer Tiemann (Wie das Leben so spielt)
VERZWEIFLUNGSSCHREI EINES KINDES von Julia Thompson Sowa (Trauriges / Verzweiflung)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen