Sabine Silla

Ein Geschenk

Sie sitzt am Fenster und blinzelt entspannt und glücklich in die untergehende Sonne. Orangefarbener Schein spiegelt sich in ihren funkelnden grünen Augen. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen. Ich gehe an ihrem Fenster vorbei, steuere den Briefkasten an. Unauffällig schaue ich sie an, während ich versuche, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern. Ich habe das Gefühl, den Blick nicht von ihr abwenden zu können. Sie ist wunderschön. 

Mein Gott, ich starre sie an! Das muss sie merken. Beschämt schaue ich zu Boden. Ein kurzer Blick verrät mir, dass sie weiterhin ihr perfektes Gesicht der Sonne entgegen streckt. Sie versucht, die Augen geschlossen zu halten, um die Wärme auf ihrem Gesicht zu genießen. Gelegentlich blinzelt sie, lächelnd. Dann streckt sie sich noch fordernder dem Schein der untergehenden Sonne entgegen. Ihre braunen Haare glänzen seidig. Ich könnte sie ewig betrachten. Wann merkt sie endlich, wie sehr ich sie begehre? Wir leben so dicht beieinander, sie muss mich doch wahrnehmen? Wieder und wieder lasse ich Situationen entstehen, in denen wir uns „zufällig“ über den Weg laufen. Doch sie sieht mich nicht. Sie grüßt mich, ja. Gelegentlich. Aber sie schaut mich dabei nicht an, wie ich sie anschaue. Sieht in mir nicht das, was ich in ihr sehe. Aber wie soll sie auch, wenn ich kein Wort heraus bringe, sobald sie mir gegenübersteht? 

Doch nun, nun wird alles anders. Ich habe mir überlegt, wie ich sie auf mich aufmerksam machen kann. Ich möchte, dass diese herrlichen grünen Augen nur mich ansehen. Ich möchte, dass dieses wunderschöne Lächeln, dass ihre Lippen umspielt, mir gilt. Nur mir. Als sie sich vom Fenster abwendet, weiß ich, dass nun der Moment gekommen ist. Jeden Abend, sobald die Sonne untergegangen ist, kommt sie heraus. Genießt ihren allabendlichen Spaziergang. Allein, wie immer. Doch das soll sich ändern. Ich stelle mir vor, wie wir zusammen in den Sonnenuntergang gehen. Immer wieder. Abend für Abend. Ein Leben lang. 

Ich bin bereit. Starre auf die Tür. Minuten vergehen. Mir kommt es eher vor wie Stunden. Oder Tage, Wochen, Monate, Jahre. Ich bin unruhig. Warum dauert das so lange? Isst sie noch zu Abend? 

Endlich, endlich senkt sich die Türklinke. Sie tritt heraus, schaut einmal mehr in die Sonne. Die Tür schließt sich. Sie bleibt auf der Schwelle stehen. Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet? Ich gehe rüber, zunächst unsicher und - so kommt es mir vor - ein wenig schwankend. Hachje, was mache ich hier nur? Die ersten Schritte geht mir so viel durch den Kopf. Doch dann schalte ich all die ,was wäre, wenn‘-Gedanken ab, werde zunehmend sicherer. Wie soll ich sie denn überzeugen, wenn nicht durch Präsenz? Also selbstsicher auf sie zulaufen und ihr in die Augen schauen. So kurz vor dem Ziel nicht ablenken lassen, ich rufe mir meinen Plan ins Gedächtnis. Diesmal benehme ich mich nicht wie ein Vollidiot, stolpere nicht über meinen eigenen Füße, wenn ich sie sehe. Dann bin ich da. Bei ihr. Ganz nah. Ich kann ihren Duft riechen. Schnurrend lege ich die soeben erlegte Maus vor ihre Füße und warte auf ihre Reaktion. Ihr Schwanz und ihre Schnurrhaare zucken aufgeregt, während sie zwischen mir und meinem Geschenk hin- und herschaut. Oh mein Gott, ich hoffe, sie wird mich nicht anfauchen ...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.10.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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