Diethelm Reiner Kaminski

Der Blindenzug

 
 

Ich bin ja einiges in meiner Stadt gewohnt – barbusige, grell bemalte Demonstrantinnen, Lama-Karawanen, Schaumbäder oder Südseestrände auf zentralen Plätzen, Schlachten mit aufgeschlitzten Kissen – und trotzdem erlebe ich immer wieder Überraschungen.

Ich werde aufmerksam auf eine Kolonne von – ich zähle durch – sieben Fußgängern, die sich extrem langsam im Gänsemarsch durch das Samstagmorgengedrängel schiebt. Vernünftig, denke ich, hintereinander und nicht nebeneinander zu gehen. Da bemerke ich, dass alle bis auf den Anführer die Augen verbunden haben. Sie haben die Hände auf die Schultern des Vordermannes gelegt. Blinde, überlege ich, gut, dass sie sich zusammengetan haben. Das gibt ihnen Sicherheit und spart sechs Blindenhunde. Auch in den Ohren haben sie was. Der Anführer, fällt mir jetzt auf, spricht fortwährend in ein Mikrofon, das er um den Hals gehängt hat. Er steht also mit den Blinden in Verbindung. Eine Stadtführung? Nett, dass man Aktivitäten für Blinde organisiert. Ich trete näher an die Gruppe heran. „Finde ich toll, dass Sie das tun“, spreche ich den Anführer an.

Er zieht ein Infoblatt aus der Jackentasche und drückt es mir in die Hand. „Sie können auch mitmachen. Aber nicht jetzt. Nächste Führung in drei Stunden.“ Er schaut auf die Uhr. „Treffpunkt 13.00 Uhr. Domportal.“

„Aber ich bin doch gar nicht blind“, wende ich ein.

„Blind?“, fragt der Guide erstaunt. „Wer ist hier blind? Wir machen einen Blindwalk. Noch nie gehört?“

„Und wozu soll das gut sein?“, frage ich.

„Hab zu tun. Lesen Sie doch das Info-Blatt. Da steht alles drin.“

Ich gehe langsam, in kurzem Abstand zum Blindenzug, weiter und vertiefe mich dabei in die neue Heilsbotschaft:
„Mit verbundenen Augen und wachen Sinnen durch die Stadt. Erfahren Sie das echte Leben Ihrer Stadt. Blindwalker erleben ganz neu, was sie schon tausendmal gesehen haben. Dunkelheit ist wie ein Vergrößerungsglas, das unsere Sinne auf Dinge lenkt, die man sonst nicht wahrnimmt. Intensiver hören, riechen, schmecken. Ein einmaliges Erlebnis. Picknick im Buchungspreis inbegriffen.“

Ein Scheppern ist zu vernehmen, die Gruppe ist gerade über eine leere Blechdose gestolpert und aus dem Gleichschritt geraten, die der Guide übersehen hat, obwohl seine Augen nicht verbunden sind. Passanten schimpfen, weil einige im Zug sie ungewollt angerempelt haben. Sie halten die Blindwalker vermutlich für Spaßvögel, die ihren Junggesellenabschied in Finsternis feiern.

Ich bin skeptisch. Die Augen verschließen vor allem dem Müll auf den Straßen? Nicht mit mir. Ich gehe stets mit wachen Sinnen durch die Stadt. Noch wacher zu sein, würde meinen Zorn nur schüren. Intensiver riechen? Mir reicht schon der Gestank in den Pinkelecken, der strenge Geruch nach altem Frittieröl aus den Imbissbuden, der bleierne Geschmack von Feinstaub und Abgasen. Noch mehr davon, und ich falle in Ohnmacht. Intensiver hören? Ich stöpsele mir jetzt schon ab und zu die Ohren zu, um den Lärm der überfüllten Innenstadt ertragen zu können.

Und gibt es abgesehen vom Dialekt der Alteingesessenen und vielleicht noch den Glocken der Kirchen überhaupt einen typischen Klang oder Geruch einer Großstadt? Ich wage es zu bezweifeln. Bundesweit der gleiche nervenzehrende Lärm und Gestank.

Doch ich möchte es genauer wissen. Ich bleibe dem Blindenzug auf den Fersen. Als Höhepunkt des Erlebens mit allen Sinnen belecken die Teilnehmer mit verbundenen Augen die Kalksandsteinfiguren am Domportal. Ich kann mir die Frage, die mir auf der Zunge liegt, ersparen. Die verzückten Gesichter verraten mir, dass mit der Erfindung des Blindwalks eine empfindliche Lücke im menschlichen Empfindens endlich geschlossen wurde.
Skeptiker wie ich leben am wahren Leben vorbei.



23 - 10 - 2011 

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