Verena Aeschbacher-Pieren

Heimweh

Ein Sprichwort sagt, dass Heimweh schlimmer ist als Zahnweh und Durst. Ich habe es erlebt und erlebe es immer noch, obwohl ich hoffte, dass es mit zunehmenden Jahren vielleicht einmal vorbei gehen würde.
Mit knapp 16 Jahren wurde ich ins Welschland verfrachtet, als „jeune fille“ zu einer überaus netten Bauernfamilie. Doch bereits am zweiten Tag nagte es an mir, dieses ominöse Heimweh. Man fühlt sich mehr krank als gesund, und man bringt es einfach nicht aus seinem Kopf. Eine ganze lange Woche sass ich praktisch auf meinem gepackten oder noch nicht ausgepacktem Koffer. Jeden Morgen stellte ich mich mit genau diesem Koffer und angezogenem Mantel in die Küche und sagte: „Ich fahre nach Hause!“ Madame, meine Meisterin, schickte mich sofort mit ihrem Ältesten zur Nachbarin, damit ich nach Hause telefonieren konnte, um meinen Heimkehrwunsch anzubringen. Jeden Morgen hiess es mit unerbittlicher Härte am anderen Leitungsende: „Du bleibst“. Am Freitag meiner ersten Welschlandwoche musste ich dann den grossen, voluminösen Badeofen im Badezimmer mit Holz füllen und ihn tüchtig einheizen. Anschliessend wurden alle drei Kinder gebadet und dann hiess es: „Du darfst nun auch ein Bad nehmen.“ Als ich hierauf in der grossen, gut gefüllten, weissen Wanne sass gelobte ich mir, dass ich es ja mal ein Jahr versuchen könnte, denn schliesslich wurde mir für jeden Freitag ein Badegenuss in Aussicht gestellt. Zu Hause hatten wir damals noch keine so moderne Einrichtungen wie Badezimmer und Badeofen, da wusch man sich noch mittels kaltem Wasser in einer kleinen Schüssel.
Mit 18 Jahren flog ich dann freiwillig nach England, wiederum der Sprache wegen. Dieses Mal sollte ich im Süden in einem Hotel arbeiten. Untergebracht waren wir vier Deutschschweizer Mädchen in einer lieblos eingerichteten äusserst kleinen Holzbaracke. Diese ähnelte ein bisschen einem Häuschen in einem Schrebergarten. Zwei Kajütenbetten standen in einem Raum. Die Betten waren recht kurz und die dünnen dazugehörigen Decken noch kürzer. Es war erst März, windig und kalt. Der Wind pfiff durch das mickrige Fenster und ebenfalls durch die einfache Holztüre und sämtliche vorhandenen Ritzen. Es gab nur kaltes Wasser. Einen kleinen Tisch, zwei Stühle, zwei kleine Schränke und einen Plattenspieler. Ungemütlicher kann man es kaum treffen. Wir froren und hatten Heimweh. In jeder Arbeitspause, morgens beim Aufwachen und abends vor dem Einschlafen lief der Plattenspieler. Die Musikauswahl war recht mager und so tönte es meistens: „Please release me let me go!“ Mit diesem schmalzigen Lied wurde das Heimweh natürlich nicht geringer. Nach drei Monaten hatte ich genug gelitten und flog zurück nach Hause, ohne vorher zu fragen ob allenfalls eine Heimkehr gestattet sei.
Viele Jahre später, ich hatte die 40 bereits hinter mir, starb meine Mutter. Ich glaubte meines Lebens nie mehr froh zu werden. Jedes weibliche Wesen, welches meiner Mutter in Grösse und Gestalt nur wenig glich, entzündete die fast verheilten Wunden aufs Neue. Alle sentimentalen Musikstücke verbesserten die Angelegenheit ebenfalls nicht. Bei Kaminrauch, frisch gemähtem Gras, bimmelnden Kuhglocken, Kirchengeläute und Brunnengeplätscher setzte mein Herzschlag für einen kurzen Moment aus, um dann seinen Takt in trauriger Form wieder aufzunehmen. All diese Gerüche und Töne versetzten mich automatisch in meine liebevolle Kindheit zurück. Es war kaum zum Aushalten. Doch irgendwie stimmen eben die geflügelten Worte halt doch, wie zum Beispiel: Die Zeit heilt alle Wunden. Klar, es heisst „die Zeit“, es heisst aber nicht wie viele Tage, Monate oder Jahre diese Zeit beinhaltet.
Vor gut 15 Jahren wanderten wir nach Südfrankreich aus. Es war dies ein freiwilliger Schritt, aber... Das Heimweh kam mit!
Es gab Tage da war alles wunderbar, aber es gab eben auch die anderen. Wenn zum Beispiel Geschwister oder die Kinder zu Besuch waren, dann mussten ja die Zimmer wieder gereinigt werden. Es hing noch das Parfüm der Tochter im Raum, und ich sollte eigentlich putzen, da rollten viele Tränen über mein Gesicht. Mit Trauer und auch Wut schmiss ich das Bettzeug umgehend in die Waschmaschine, um mich meinem Heimweh entgegenzustellen und es so quasi abzuwaschen. Wie oft ging ich in den Garten Unkraut zupfen oder Radfahren und heulte mir dabei das Heimweh aus dem Leib. Es half, denn die Beschäftigung und das Draussen sein lenkte ab und irgendwann ist man auch des Weinens müde.
Auch fahren wir immer noch jeden Sonntag zum Flohmarkt, um dort alles Mögliche zu verkaufen. Die Gegenstände und abgelegten Kleider erhalten wir von unseren lieben Landsleuten. Wenn ich dann an einem Sonntag bei anbrechendem Tag die erhaltenen Kleider auslege, stecke ich oft meine Nase in ein paar T-Shirts, denn dieser Duft ist unverkennbar das Waschmittel meiner Schwiegertochter. Die erhaltenen Shirts gehörten also ihr oder meinem Sohn. Oft tauche ich dann mit tränenblinden Augen aus einem Kleiderbündel auf und das Herz tut dabei so verdammt weh, denn das Heimweh hat mich schon wieder. Klar mittlerweile weiss ich, dass die Zeit alle Wunden heilt. Und dennoch, es trifft mich immer wieder und immer noch. Ich vermute, dass dieses scheussliche Gefühl erst mit dem Tod ein Ende hat.

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