Es ist gut möglich, dass JW komplett durchgeknallt war aber ich
verdanke ihm auch alles, was ich über das Leben weiß. Auf seine eigene,
total zerrüttete Weise hat er mir beigebracht, was es bedeutet ein Mann
zu sein und hat mir all das mit auf den Weg gegeben, was man braucht um
in dieser Welt voranzukommen. Ich nehme an, JW war an den Platz meines
Vaters getreten, eine Tür, die schon seit meinem 13. Lebensjahr weit
offen stand.
Ich traf JW unterwegs in den Straßen der Stadt. In
den dunklen, feuchten Hintergassen, wo nur die Heruntergekommenen, die
Kranken und Verdrehten agieren. In diesen Straßen muss man einfach zäher
und härter sein als die Person, die sich einem da entgegen stellt.
Zu
diesen Straßen rannte ich in Verzweiflung, rannte ich, um dem Schmerz
zu entfliehen, um vielleicht ein besseres Leben zu finden. Und in diesen
verkeimten Straßen rannte ich geradewegs in die offenen Arme von
Zuhältern, heruntergekommenen, drogensüchtigen Nutten und
Rauschgiftschakalen, die mich willkommen hießen als wäre ein jeder von
ihnen ein dreckiger Strassenprophet.
Und so hatte JW mich
gefunden. Zusammengerollt wie ein Fötus hat er mich gefunden in einer
Hintergasse, von einem Fixer ausgeraubt und mein Gesicht grün und blau
geschlagen. Das erste an was mich erinnern kann, war sein heißer Atem
auf meinem Gesicht. Geflüsterte Verrücktheiten.
„Und der Herr legt die verlorenen Seelen vor mir nieder damit ich in ihnen die Gläubigkeit wieder erwecken kann. „
Selbst
wenn mein Leben davon abgehangen hätte, wär es mir trotzdem nicht
möglich gewesen, meine Augen zu öffnen um zu sehen wer das war, der da
zu mir sprach. Ich erinnere mich daran, wie JWs Arme unter meinen Nacken
und meine Beine glitten und mich emporhoben, eine Schwerelosigkeit, und
dann verlor ich das Bewusstsein, viel zu erschöpft um mir Gedanken zu
machen was wohl als naechtes passieren könnte. Ich ließ meine Sinne
einfach in die Dunkelheit tauchen. Wenigstens konnte ich nichts von den
grausamen, perversen Dingen mitbekommen, die er ja vielleicht noch mit
mir vorhatte.
Als ich aufwachte, befand ich mich in einem Zimmer
das so schlimm nach Pisse und Schweiß roch, dass mir das Kotzen kam und
ich es einfach nicht mehr halten konnte, eigentlich so auch ganz
passend für Abschaum wie mich! Ich stützte mich auf meinen Ellenbogen ab
und ließ meine Augen im Zimmer umherschwimmen. Ich nahm an, dass ich
bis auf die Matratze auf der ich lag, einem Tisch und ein paar leeren
Bierkästen alleine in diesem Zimmer war, bis sich aus den Augenwinkeln
eine Bewegung war nahm. Ich drehte meinen Kopf um zu sehen was das war,
meine Augen folgten ein paar Sekunden später.
„Der schlafende Prinz ist erwacht. In diesem Märchen wird nicht geküsst!“
Ich
versuchte mich blinzelnd auf die formlose Gestalt zu konzentrieren,
die da in einer dunklen Ecke hockte, bis ich sie endlich klar sehen
konnte. Ein kleiner, alter Mann saß da, über einem Buch und kritzelte
wiederholt etwas nieder. Seine Hand bewegte sich im Halblicht immer
wieder vor- und zurück.
„ Und du wirst mir Loblieder singen, da ich dich wieder auf die Beine bringen werde.“
Ich
streifte mir mit meinem Handrücken übers Gesicht, auf der Zunge den
Geschmack von Blut und Galle, die mir in den Mundwinkeln klebten.
„Hast du mal ‘n Glass Wasser?“
„Schau her, unser kleiner Prinz kann sprechen.“
Der
Mann stand auf und war mit zwei Schritten direkt neben mir. Diese
Bewegung, so schnell und unerwartet, jagte mir eine Schmerzwelle durch
den Kopf, mein Magen drehte sich und mir war wieder wie kotzen. Jetzt
kniete er sich neben mir nieder, in der Hand ein teefarbenes Getränk in
einer Flasche, die er mir anbot.
Ich nahm ihm die Flasche ab und
trank in vollen Zügen. Ich wusste nicht, was dieser süße Geschmack war,
obwohl er mir seltsam bekannt vorkam. Die Dunkelheit kam langsam wieder
über mich, von den Augenwinkeln nach innen kam sie und dann wurde ich
wieder bewusstlos.
Das nächste Mal als ich aufwachte, saß der Mann
zu meinen Füssen und betrachtete mich aufmerksam. Er lächelte als ich
meine Augen öffnete und klatschte sich in die Hände wie ein begeistertes
Kind. Oder eine Robbe in einer Aufführung.
Mein Hals war trocken.
„Besser?“
Der Mann hielt mir wieder die teebraune Brühe hin.
„Was ist das?“
Er lehnte sich nach vorn, auf den Beinen schaukelnd.
„Der
Herrgott hat mir eines Nachts dieses Rezept im Schlaf gegeben. Er
sprach zu mir und sagte, ich würde sie eines Tages brauchen um Kranke zu
heilen.“
„Klar, aber was ist da drin?“
„Kräuter aus dem Gartens des Allmächtigen. Um Kranke zu heilen.“
Da
ich mit meiner Frage offenbar nicht weit kam, trank ich einfach. Der
Durst war schlimmer als die Vorsicht. Was immer es auch war, es wirkte.
Kraft und Wärme strömten von meinem Magen aus über mein Blut durch
meinen ganzen Körper. Ich richtete mich auf, den Rücken an die Wand
gelehnt.
„Wer bist du?
Der Mann rieb sich die Hände.
Mein
Name ist längst in Vergessenheit geraten, selbst ich kann mich nicht
erinnern aber in dieser Gegend hier, nennt man mich JW. Ich bin ein
Hirte Gottes. Er hat mich geschickt um dich zu finden. „
JW stand auf und fing an im Zimmer umherzulaufen.
„Ich
habe so lange auf deine Ankunft gewartet, kleiner Prinz! Ich habe Tag
und Nacht die Straßen nach dir abgesucht, auf dein Eintreffen gewartet.
Der Herr frage mich ständig, wo ist er denn? Warum ich dich immer noch
nicht gefunden habe? Warum ich ihn so im Stich lasse?“
Er hörte
auf, im Zimmer umherzuschreiten und kniete sich wieder neben mir nieder.
Er nahm meinen Kopf in seine Hände. Tränen rollten über sein
unrasiertes Gesicht.
„Und jetzt habe ich dich endlich gefunden, kleiner Prinz!“
Panische
Angst stieg in mir auf. Diese adrenalingeladene Kampf-oder Flucht
Reaktion, dieser natürliche Schutzinstinkt hat ein Königreich
geschaffen, ein Königreich aus Kriegern und Feiglingen.
„Um Gottes Willen, bitte nicht erschrecken, kleiner Prinz. Es ist nicht meine Aufgabe dir weh zu tun.“
JW stand nun da, Verzweiflung im Gesicht. Beide Hände zu Fäusten geballt, dann geöffnet und wieder geballt...
„Ich werde dir nichts antun. Vergiss solche Gedanken sofort. Ich bin hier um dir zu helfen.“
Er ließ sich wieder auf die Knie fallen. Flehend.
„Bitte kleiner Prinz, lass mich dir helfen zu gedeihen und wieder stark zu werden!“
Ich nickte. Die Wörter blieben mir im Hals stecken. Mein Herz schlug einfach zu schnell.
„OK JW, ich glaub dir.“
Eine Lüge.
Er lächelte wieder und seine Augen strahlten vor Freude.
„Ja. Ja, ja, ja, ja. Wir bringen dich wieder in Ordnung, kleiner Prinz.“
Die
folgenden Tage vergingen wie in einem durch Äther getrübten Halbschlaf.
Ich erinnere mich an Kinderlieder die mir JW sanft vorsang. Oder wie er
über mir kniete als ich kurz die Augen aufschlug und mich anlächelte.
Wer weiß wie viel ich von diesem Zeug ich getrunken hatte, aber es half
mir und ich erholte mich schnell. Schon bald schritt ich neben JW im
Zimmer umher. In diesen ersten paar Tagen unterhielten wir uns kaum, ich
brauchte all meine Energie um wieder gesund zu werden und JW brauchte
seine für Dinge, von denen ich mir nicht sicher war, ob ich wirklich
wissen wollte, was diese waren.
Aber schließlich wurde ich unruhig in diesem Zimmer und frage JW, ob wir ein Stück spazieren gehen könnten.
„Ja, sicher doch. Aber zuerst musst du dich ordentlich anziehen.“
JW
zog einen schäbigen Koffer zu sich und öffnete ihn. Dann schob er ihn
zu mir und er war voller Klamotten. Ich nahm sie heraus, alle nagelneu
und in meiner Größe. Panik peitschte durch meinen Kopf wenn ich daran
dachte, was JW im Schilde führte während ich schlief. Es schoss
allerdings viel zu schnell durch meinen Kopf um sich festzusetzen. Ich
zog mich an und drehte mich um damit JW mich anschauen konnte. Er
klatsche sich erfreut in die Hände.
„Komm, kleiner Prinz! Wir
gehen uns die Welt anschauen, die der Herr für dich geschaffen hat.
Deine Augen sollten klar und bereit für die Wahrheit sein.“
An
diesem ersten Tag begann JW seine Lektion mit einer Fixerin, die er in
einer Hintergasse gefunden hatte. Sie lag zusammengekauert in einem
dunklen Eingang.
„Mein allerliebster Prinz, der Herr hat uns ein Versuchsobjekt geschickt.“
JWs Stimme war schrill und voller Aufregung und Geifer.
„Komm, schau her!“
Er
zeigte auf das Mädchen. Ich kniete mich neben ihr nieder, hob ihr Kinn
nach oben und schaute sie mir an. Sie war noch sehr jung. Viel zu jung.
Und sie war wohl einmal sehr hübsch gewesen. Die Oberfläche war leer und
ausdruckslos, ihre Schönheit jedoch floss noch immer aus ihrem
schmutzigen Gesicht.
Sie war viel zu jung um hier in diesen
dreckigen Hintergassen zusammengesackt herumzuliegen, der Abfall anderer
um ihre, mit Blutergüssen bedeckten Beine verstreut, eine leere Nadel
hing noch immer an ihrem vernarbten Arm.
„Dies ist die erste Lektion, die mir der Herr beigebracht hat: immer die Verantwortung für das eigene Leben übernehmen.“
JW griff meine Arme und zog mich nach oben bis ich wieder aufrecht stand.
„Man
muss immer Kontrolle darüber haben, was einem passiert. Man darf sich
auf gar keinen Fall kontrollieren lassen, von nichts und niemandem.“
Langsam
veränderten sich JWs Augen und wurden glasig. Er packte noch fester zu.
Sein Kopf fiel leicht nach hinten und ein Stöhnen verließ seinen Mund.
Ich konnte nicht anders als ihn einfach anzustarren, verirrt in dieser
Trance, genau wie er. In dieser wunderschönen Hässlichkeit.
Auf einmal schnappte sein Kopf nach vorn und er riss seine Augen auf.
„Pass gut auf, süßer Prinz.“
Er wendete sich zu dem Mädchen zu, wie ein wildes Tier, dass die Zähn fletscht. Seine Augen leuchten.
„Miststück!“
Schreiend, trat er nach ihr.
„Wach auf du elende Schlampe!“
Spucke flog ihn aus dem Mund.
Er gab ihr noch einen Tritt.
Ich schaute zu.
„Hey, Miststück! Ich hab Heroin! Willst du welches?“
JWs
Stimme hatte einen melodischen Klang, als spreche er zu einem
Kleinkind. Das Mädchen öffnete die Augen, langsam und träge nahmen sie
den Blick auf.
„Ach, jetzt habe ich wohl deine Aufmerksamkeit?“
Sie nickte. Eine Regung so unscheinbar, ich war mir nicht sicher, sie hatte sich wirklich bewegt.
JW kniete sich vor ihr nieder.
„Ich hab Heroin und da ich weiß dass du kein Geld hast dafür zu bezahlen, wirst du es dir verdienen müssen.“
Wieder dieses kraftlose Kopfnicken.
„Mein
Freund hier und ich wollen auf dich pissen. Yeah Baby. Wir werden dich
beide von oben bis unten anpissen und dann bekommst du dein Heroin. OK?“
JW grinste jetzt wie verrückt.
„Und vielleicht kannst du mir auch noch einen blasen, wenn wir mit dem Pissen fertig sind.“
Ein schwaches Nicken.
Ich schaute zu.
JW stand da. Er öffnete seinen Hosenstall.
„Und
siehst du, mein kleiner Prinz, wenn du die Kontrolle an etwas
verlierst, gibt es nichts, was du nicht tun würdest um den Teufel zu
besänftigen, der in dir Wurzeln geschlagen hat. Drogen, Liebe, Sex, das
Leben, einfach all die Scheisse. Du hast darüber keine Kontrolle und
deshalb wird es am Ende dich kontrollieren.
JW nahm seinen Schwanz heraus, schwenkte ihn hin und her und lachte laut.
Ich legte meine Hand auf seinen Arm. Besänftigend.
„Und der Herr hat dir gesagt du sollst auf eine heruntergekommene Göre pissen um mir eine Lehre zu erteilen?“
JW lachte.
„Der Herr hat mich beauftragt, dir eine Lektion zu erteilen. Ich bestimme, wie ich sie dir dir beibringe.“
„JW,
sie ist doch noch ein Kind. Ihr Leben ist schon Scheisse genug. Sie ist
bestimmt schon so öfter angeschissen worden, als sie zählen kann. Das
ist alles nicht nötig nur um mir etwas zu beweisen. Ich verstehe. Sie
hat die Kontrolle verloren.“
JW riss seinen Arm von mir weg.
„Halt
die Fresse, Kleiner! Ich bestimme hier wie die Lektion erteilt wird.
Nicht du. Der Herr spricht nicht zu dir, wenn du schläfst. Er spricht zu
mir.“
Ich starrte JW an. Ich war ruhig. Ich behielt die Beherrschung.
„JW, wenn du die Kleine hier anpinkelst, haue ich ab. Und was wird der Herr dann mit dir machen?“
JW
stand still. In seinen Augen tobte die Wut. Der Wahnsinn tanzte durch
seinen Körper, ließ seine Glieder zucken und seine Lippen beben und
zittern. Ich wartete. Ließ es einfach seinen Lauf nehmen.
„JW, pack deinen Schwanz weg!“
JW hörte, befolgte die Anweisung, war auf keinen Fall glücklich darüber. Jetzt benahm er sich wie ein kleiner Junge. Winselnd.
„Sie
ist doch nur Abschaum. Unnützerer, dreckiger Abschaum. Niemand kümmert
sich darum ob sie lebt oder stirbt. Glaubst du wirklich es macht ihr
etwas aus ob ich sie anpisse oder nicht? Ihr ist doch alles scheissegal.
Alles, außer dem Rauschgift.“
„Aber mir ist es nicht egal, JW. Mir macht das was aus!“
JW drehte sich um.
„Du lässt dich von ihr kontrollieren, mein süßer Prinz. Du hast die Lektion nicht verstanden.“
„Nein, JW! Ich lasse mich nicht von ihr kontrollieren. Es ist mir nur nicht gleichgültig.“
JW
stand starr. Er starrte mich an. Ich hielt seinem Blick stand.
Kontrolle. Jawohl, mein verrückter kleiner Freund, ich lerne schnell.
Oder vielleicht auch nicht, denn auf einmal drehte sich JW im Kreis,
sein Bein trat nach außen und traf direkt auf das Gesicht des Mädchens.
Ich hörte Knochen brechen und krachen.
Ich musste sie mir nicht ansehen um zu wissen, dass sie tot war.
„Hey, JW!“
Er drehte sich um und unsere Blicke trafen sich und hielten fest.
„Eines Tages werde ich dich dafür umbringen.“
Und
das war erst der Anfang. Die Tage und Wochen verstrichen und JWs
Lektionen dauerten an. Er wetterte, schimpfte und tobte und spuckte
seine Weisheiten aus, bis es mir alles zu viel wurde. Ich hatte Angst
vor jedem Morgen, an dem er mich mit einer neuen Lektion aufweckte.
„Letzte Nacht hat mir der Herr mitgeteilt, dass ich dir Treue beibringen soll, mein süßer Prinz.“
Fieberhaft
und in Schweiß gebadet kauerte er neben meinem Bett. Seine Augen noch
gläserner als am Tag zuvor. Ich lernte schnell den Morgen zu hassen.
„Die Zeit wird knapp. Noch so viel zu tun. Die Endzeit rückt immer näher.“
Noch
bevor wir das Zimmer verließen, schoss mir das Adrenalin im Blut durch
den Körper wie reines Rauschgift. Meine Hände zitterten. Meine Zähn
knirschten.
Ich konnte nicht verstehen, was JW zu erreichen
versuchte. Seine Lektionen waren gut, Worte fürs Leben aber er selbst
war total geistesgestört. Und er liebte all die Gewalt und das
Verderben. Diese kranke, dreckige Welt war sein Königreich, in dem er
Gott spielen konnte.
Ich verstand nicht, warum wir etwas zerstören
mussten um etwas zu beweisen. Warum wir eine Menge alter Hunde zu Tode
traten um mir Treue beizubringen, warum wir einem Zuhälter ein neues
Lächeln verpassten indem wir sein Gesicht von Ohr zu Ohr aufschlitzten,
nur um mir Vertrauen beizubringen.
Jede Nacht kam ich nach Hause, jedes Mal klebte Blut von jemand anders an meinen Händen. Mir wurde
vor lauter Angst und Schmerz auf die Schuhe gekotzt, im Todeskampf auf
die Klamotten gepisst.
Jeden Tag versuchte ich ihn aufzuhalten. Versuchte die Nutte an der Straßenecke, die Transe in der Einzimmerwohnung, zu warnen.
Er
war wie ein böser Geist der auf die Menschheit losgelassen wurde und
das war meine Schuld. Wegen mir zerstörte er die Kranken und
Gefolterten. All diese Übelkeit nur für seinen kleinen Prinz. Und dann,
eines Tages, da hatte ich genug davon. Ich konnte einfach nicht mehr.
Mein Hass für ihn schwärte und wuchs in meinem Inneren, bis ich jede
einzelne Zelle seines Körpers hätte zerstören wollen.
Ich wollte JW tot. Ich wollte, dass das alles endlich aufhört.
Ich wollte mich an ihm rächen, für das Mädchen in der Hintergasse, für den Hund.
Ich wollte, dass JW bekam was er austeilte.
Eines
Morgens also, wachte ich zuerst auf. Da saß ich, niedergehockt, fiebrig
und schwitzend am Rande seines Schlafes. Ich kicherte als er seine
Augen öffnete. Fauchten hässliche Worte des Todes.
„Moin, moin, JW!“
Er blinzelte, offenbar verwirrt von diesem Rollentausch. Panik tobte in seinen, dunklen, totgetreten Augen.
„Es ist Zeit ein paar Lektionen zu lernen.“
Der Wahnsinn entwich meiner Seele in einem Sprühregen aus Gelächter.
„Der Schüler ist zum Lehrer geworden.“
JW richte sich auf. Ich schlug ihn einmal. Hart. Meine feste Faust traf sein Gesicht wie ein Vorschlaghammer. Seine Nase brach.
„Keine Schönheitschirurgie in der Welt kann das wieder gutmachen, JW.“
Kichernd
zog ich ihm die Klamotten aus und fesselte ihn an einem Stuhl fest.
Danach zog ich mir einen der Bierkästen her und wartete bis er das
Bewusstsein wieder erlangte. Ich wartete. Reg dich ab. Konzentriere dich
auf das, was einfach passieren muss.
JW murmelte etwas. Stöhnte.
„Da bist du ja wieder JW. Willkommen zu Hause.“
Seine
Augen öffneten sich und die Panik war wieder da. Ich ließ ihn gegen die
Leine kämpfen. Schaute zu wie er spuckte und schimpfte. Fasziniert
davon, wie die Leine in seine Handgelenke schnitt. Wie er trotz der
Schmerzen weiterkämpfte. Ein Tier. Evolution im Stillstand.
Ich gab ihm eine harte Ohrfeige.
„Jetzt
hörst du mir mal zu, du elender Spinner. Du kannst dich davon nicht
befreien. Ich entscheide was von jetzt an hier passiert. Bis dahin, sitz
still!“
„Fick...“
Bevor die restlichen Worte noch aus
seinem Mund kommen konnten, stieß ich ihm mit der Handfläche kraftvoll
gegen seine gebrochene Nase. JW musste vor Schmerz kotzen. Oder aus Wut.
Oder aus Lust und Vergnügen. Ich hatte keine Ahnung mehr, was ihn
motivierte. Aber er hörte auf sich zu wehren.
„So, JW, bevor wir
hier weitermachen. Ich danke dir erst mal, dass du mich gerettet hast.
Ich danke dir dafür, dass du mir aus der Gosse geholfen hast bevor ich
vergewaltigt oder umgebracht wurde oder einfach nur in meinem eigen
Dreck und meiner eigenen Scheisse verreckt wäre. „
Er blieb still. Wie ein Hund, der in die Ecke getrieben nach einer Möglichkeit sucht um anzugreifen.
„Aber
jetzt verlange ich ein paar Antworten, du hirnrissiges Dreckstück. Ich
will wissen warum. Warum ich? Warum du mir diese Lektionen erteilen
musstest. Warum du so verdammt bekloppt bist.“
JW hustete und spuckte mir vor die Füße.
„Das
war der Allmächtige Herr, mein kleiner Prinz. Er hat mir gesagt, dass
du wiederkommst. Dass ich noch eine Chance habe, alles wieder gut zu
machen.“
Ich lehnte mich nach vorn und stieß ein Messer in JW
entblößten Oberschenkel, achtsam dabei keine lebensnotwendigen
Blutgefäße zu verletzen. Ich wollte verhindern, dass er zu Tode blutete
bevor er meine Fragen beantwortet hatte. Nur ein paar Zentimeter, tief
genug um den Schmerz zu fühlen.
JW schreite laut auf und versuchte aufzuspringen.
Ich
ließ das Messer im Bein stecken, schaute mir an, wie es von vorn nach
hinten schnipste und wartete darauf, dass er sich wieder beruhigt.
„Nein,
JW. Diese ganze Geschichte mit dem Herrn ist Schwachsinn. Niemand außer
dir selber redet mit dir in diesem, deinem verkorksten Verstand. Lassen
wir deshalb jetzt mal den Scheiss von wegen der Herr hat zu mir
gesprochen. Ich will die Wahrheit! Was bin ich für dich JW? Was für eine
Rolle spiele ich in deinem kleinen, kranken Gehirn?“
JW knurrte wütend. In seinen Augen und Gesichtszügen flimmerten Liebe und Hass und einem Dutzend anderer Gefühle dazwischen.
Ich drehte das Messer in seinem Bein. Er schreite.
„Na los, mach schon, JW!“
JW war jetzt am Schluchzen. Er krümmte sich vor Schmerzen und er war nicht
besonders glücklich darüber aber er fing endlich an zu reden.
„Bevor ich hier ankam, auf diesen Straßen, mein kleiner Prinz...“
Ich schüttelte den Kopf.
Ich bin nicht dein Prinz, JW!
„Bevor
ich also hier ankam, lebte ich mit den Anderen. Da oben, die Anderen,
mit ihren schönen, kleinen Häusern, richtigen Berufen. Ich führte ein
ganz normales Leben.“
JW spuckte die Worte aus seinem Mund. Kleine
Tropfen landeten auf meinem Gesicht, die den Abstand zwischen uns
überbrückten. Aber trotzdem mir davon Übel wurde, hielt ich still. Das
war was ich wissen wollte, die Wahrheit.
„Ich trug einen Anzug,
hatte einen Firmenwagen, arbeitete tagsüber im Büro. Ein Zahnrad in der
Maschine, die diese ganze gottverdammte Welt regiert. Ich hatte sogar
eine Frau. Und sie war schön. Ich war verliebt. Wir heirateten und
bekamen einen Sohn.“
Auf einmal sank JWs Stimme. Er beruhigte
sich. Nun mach schon. Kannst du nicht selber sehen, dass Wahrheit will
ans Licht kommen will?
„Er war mein schöner, kleiner Prinz. Er war einfach perfekt. Unberührt und unschuldig, so wunderschön.
Meine
Atemzüge verlangsamten sich und wurden ungleichmäßig. Alles ringsum
verblasste bis ich nur noch JWs Gesicht sehen konnte. Seine Lippen
formten Worte. Sein Blick in der Erinnerung verloren.
„Eines Tages
kam sie nach Hause. Sie meinte, sie hätte jemand anders getroffen. Sie
wollte mich verlassen und meinen kleinen Prinz mitnehmen. Ich war
untröstlich, mein Herz zerbrach. Aber siehst du, ich hatte sie beide so
lieb, dass ich mir dachte, gut, wenn sie mit jemand anderem glücklicher
ist, dann muss ich sie gehen lassen.“
JW schluchzte tief. Der Schmerz kam aus den Tiefen seiner Seele und flutete aus seinem Mund heraus.
„Und dann war sie weg. Nahm meinen kleinen Prinz mit sich. Ich vermisste ihn so sehr. Seine perfekte kleine Seele.
Ein tiefer Atemzug, von uns beiden. Eine Erinnerung geteilt.
„Nicht
lange danach, vielleicht einen Monat später rief sie mich an. Weinend.
Ihr neuer Mann, wegen dem sie mich verlassen hatte und zu dem sie meinen
kleinen Prinz mitgenommen hatte, trank gerne Alkohol. Nicht ständig,
aber sehr viel. Und manchmal, wenn er betrunken war, wurde er boshaft
und gemein.“
JW Körper sackte auf dem Stuhl zusammen. Er sah aus,
als würde er gleich zusammenbrechen. Es war ein grauenhafter Anblick und
trotzdem faszinierend. Mit jeder Schmerzenswelle die er freigab, brach
er bisschen mehr in sich selbst zusammen.
„Eines Tages kam er nach
Hause, betrunken. Er fing an sie zu verprügeln. Mein kleiner Prinz
versucht ihn davon abzuhalten, doch er bekam ein Schlag mit dem
Handrücken und fiel nieder. Blut überall als ich dort ankam. Als ob man
gerade im Vorzimmer ein Schwein geschlachtet hätte. Siehst du, mein
kleiner Prinz war noch so klein, da hat der Schlag ihn von den Füssen
gehoben. Er flog durch die Luft und landete mit seinem Kopf auf der
Tischkante. „
JW machte eine Pause. Er atmete tief. Die Tränen rollten ihm über die Wangen.
„Er
war schon tot als der Krankenwagen eintraf. Musste wohl eine Pulsader
erwischt haben. Oder vielleicht, weil er ja noch so klein war, ist sein
Kopf einfach aufgebrochen wie ein Ei. Aber er starb, mein süßer kleiner
Prinz starb.“
Die Stille, nach diesen Worten, sie tat weh. Sie
schmerzte in meinem Kopf. Der Druck stieß mein Gehirn nach außen,
drückte es an meinen Schädel. Mir war wie kotzen.
„Meine Liebe hat
meinen kleinen Prinz umgebracht. Meine Liebe für ihn und seine Mutter.
Wenn ich sie nicht hätte gehen lassen, wären sie heute noch hier. Und
ich hätte meinen kleinen Prinz noch immer bei mir.“
Ich lehnte
mich im Stuhl zurück. Erschöpft. Ich war angewidert. Angewidert darüber,
dass der Kleine gestorben war und angewidert, dass dies JW in diese
kranke, hässliche Kreatur verwandelt hatte. Angewidert, dass diese Qual
und dieses Elend immer und immer wieder weitergegeben wurde, sich immer
und immer wiederholte.
„JW, was passiert ist, war nicht deine
Schuld. Du warst da in eine Sache verstrickt, über die du einfach keine
Kontrolle hattest. Und dieser Schmerz, anstatt ihn herauszulassen oder
anstatt ihn dafür zu benutzen, etwas Gutes zu tun... Dieser Schmerz
wuchs in dir wie eine verrottende Geschwulst und wurde dann von dir auf
die Welt gespuckt. „
Ich zog das Messer aus JWs Bein. Er zuckte nicht zurück. Keine Sinneswahrnehmung mehr, er war verloren im Tode seines Sohnes.
„Und
dieser Schmerz hat einen anständigen Mann zerstört. Er hat ihn so
richtig versaut. Aber JW, dies muss jetzt ein Ende haben. Du musst zu
deinem Ende kommen. Weil, wenn ich dich gehen lasse, wirst du dir nur
jemand anderen suche, einen anderen heruntergekommenen jungen Mann dem
du deine Lektionen erteilen kannst. Und dieser ist vielleicht nicht so
willensstark wie ich und wird am Ende genau wie du, JW. Aus ihm wird
dann eine durchgeknallte Vernichtungsmachine voller Hass und Qual.“
Ich hob JWs Kinn nach oben und schaute in seine dunklen, seelenlosen Augen.
„Siehst
du, JW, ich war in Not und du hast mir geholfen, mich gerettet. Und du
hast mir deine Lektionen beigebracht, aber das war es nicht, was mich
zum Manne gemacht hat, zu dem was ich jetzt geworden bin. Es war nicht,
was du mir beigebracht hast, es war was ich in dir gesehen habe. Dass,
was auch immer passiert, wie qualvoll und schmerzhaft es auch sein mag,
man sich niemals vom Schmerz beherrschen lassen darf. Dass man die
Vergangenheit in der Gegenwart nicht auf seinem Rücken herumschleppen
darf. Dass, wenn alles im Arsch ist und nichts mehr geht, dass man sich
dann auf die Zukunft konzentrieren muss. Was noch alles sein kann, noch
alles passieren könnte. Was du noch immer alles aus dir machen kannst.
Man darf sich davon nicht verschlingen lassen, JW.“
Ich hielt das Messer fest in der Hand, versuchte mit dem Zittern aufzuhören.
Dieser
Teufelskreis musste durchbrochen werden. Jemand musste einfach etwas
dagegen tun und dem Leiden ein Ende setzen. Nicht nur das von JWs
sondern auch meinem eigenen und dem aller anderen, die noch nach mir
kamen.
„So, JW, ich werde jetzt in die weite Welt ziehen und um
die Kranken und Gestörten zu heilen. Ich werde die Seelen erlösen, die
Erlösung brauchen und die vernichten, die vernichtet werden müssen. Ich
werde zur gleichen Zeit Erlöser und Rächer sein. Ich werde diese
dreckige, verkorksten Welt von Schmerz und Qual reinigen, JW, ich werde
Menschen davon befreien. „
Ich stieß meine Hand vorwärts, konnte
fühlen, wie das Messer am Brustbein ein wenig stecken blieb und dann
weiter in ihn hinein rutschte, an Knochen und Knorpel vorbei, bis zum
Anschlag.
Und es fühlte sich gut an. Wie der beste Orgasmus in der
Welt. JWs Schmerz floss an der Stahlklinge nach oben und dann nach
außen. Seine Seele verließ fluchtartig seinen verdorbenen Körper.
Freiheit für die Verdorbenen.
Ich lehnte mich im Stuhl zurück und
weinte. Sanft. Zärtlich. Mit einem Seufzer der Erleichterung. In reiner
Freude darüber, dass ich diese Kreatur von seinen Fesseln befreien
konnte. Dass ich seiner Qual ein Ende setzen konnte.
Ich beweinte
seinen kleinen Prinz, das Mädchen in der Hintergasse, den Zuhälter und
den Hund. Ich beweinte meine verlorene Kindheit. Ich beweinte den
Schmerz in mir und meine Selbstverachtung. Die Schuldgefühle, die Qual,
die Isolation. Den Zorn und die Einsamkeit. Ich beweinte all die Liebe,
die ich in mir fühlte und nicht teilen konnte. Den Schmerz, den ich
anderen bereitet hatte. Ich beweinte einfach alles, was mir das Herz
bedrückte.
Und als ich damit fertig war, als alle Tränen geweint waren, stand ich auf, lief aus dem Zimmer und ließ alles hinter mir.
Draußen
schien die Morgensonne und brachte Licht in diese dreckige Stadt. Ich
lief auf die Straße hinaus, auf meiner Suche nach der nächsten Seele,
um sie zu erlösen oder zu vernichten.
translated from English... To Lift Or To Destroy by Trent Aitken-Smith
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Tina Muller).
Der Beitrag wurde von Tina Muller auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.11.2011.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Tina Muller als Lieblingsautorin markieren
Die Botschafter
von Andreas Kroll
Geflügelte Schlangen und Großechsen fallen in das Reich der Menschen ein. Sie bedrohen die Zwerge im Donnersteiggebirge und die Walddörfer der Alben. Drei Botschafter, ein Mensch, ein Zwerg und eine Albin, begeben sich auf eine Reise in den Norden, um die Riesen als Verbündete zu gewinnen ...
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: