Erwin J. Seel

“Zwei Kilo“ oder “Das Mädchen im Spiegel“

Leckeren Erdbeerjoghurt gefälligst? Sandra hat die Auswahl. Der Kühlschrank ist voll. Hier findet man alles, was das Herz begehrt. Sandra entscheidet sich für Joghurt. Sie nimmt den Becher heraus und geht damit zur Küchenspüle. Sie öffnet den Becher und hält ihn solange unter das laufende Wasser, bis der Joghurt im Abfluss verschwunden ist. Der leere Becher landet gut sichtbar im Mülleimer.

„Ich habe bereits gefrühstückt“, erklärt Sandra ihrer Mutter, die gerade aus dem Bad kommt.
„Das ist aber schade“, antwortet ihre Mutter. „Ich habe gedacht, wir könnten gemeinsam frühstücken. Soll ich dir schnell ein Pausenbrot richten?“ Sandra antwortet: „Nein, danke! Ich habe keine Zeit mehr und muss in die Schule. In der Schule esse ich nichts. Das weißt du doch.“

Sandra ist dreizehn Jahre alt und geht in eine Realschule. Sie ist eine gute ehrgeizige Schülerin, die gute Noten haben möchte und sich deshalb selbst stark unter Druck setzt. Außerdem denkt Sandra, sie sei zu dick. Sie hat sich vorgenommen zwei Kilogramm abzunehmen. Sie reduziert das Essen und ernährt sich überwiegend von Obst und Gemüse. Sandra ist ein hübsches Mädchen mit lockigen blonden Haaren. Sie ist superschlank und sportlich. Mit ihrer Diät hat sie vor einigen Monaten angefangen. Ursprünglich wollte sie nur zwei Kilo abnehmen. Immer, wenn sie ihr Ziel erreicht hat, setzt sie sich ein neues. Mittlerweile hat sie acht Kilo abgenommen. Ihre Mutter macht sich bereits Sorgen und will Sandra zum Essen animieren. Ohne Erfolg.

Als Sandra mittags nach Hause kommt und sich umzieht, betrachtete sie ihren halbnackten Körper vor dem Spiegel. Obwohl sie nur noch aus Haut und Knochen besteht, fühlt sie sich fett und aufgebläht. Sandra wiegt sich und stellt fest, dass sie immer noch zwei Kilogramm von ihrem Traumgewicht entfernt ist. Das durfte nicht belohnt werden. Eine halbe Stunde auf dem Heimtrainer Fahrradfahren, dabei ein paar Kalorien verlieren, und auf das Mittagessen verzichten, dass bringt sie ihrem Wunschgewicht näher. „Strafe muss sein, wenn man so fett ist“, denkt Sandra. Sie ist hungrig und zugleich stolz darauf, dass sie es heute geschafft hat, auf zwei Essen zu verzichten. Sie ist auf dem richtigen Weg.

Sandras Eltern sind beide berufstätig und tagsüber außer Haus. Die Mutter ist Journalistin und der Vater ein erfolgreicher Jurist. Um neunzehn Uhr gibt es Abendbrot. Auch an diesem Abend bereitet Sandras Mutter das Abendessen vor. Vorsorglich sagt Sandra zu ihrer Mutter: „Mutti, für mich brauchst du nicht mitzukochen. Ich esse einen Apfel.“

Sandras Eltern sorgen sich um ihr Kind. Sandra ist in der Pubertät. Ihr Körper ist im Aufbau. Die Eltern trösten sich, dass Jugendliche schlank und sportlich sein möchten. Das ist ‚in’ und normal. Es ist auch besser, wenn die Tochter schlank ist und nicht fett. Dicke Menschen haben es im Leben schwerer, und die Tochter soll es einmal zu etwas bringen. Nur übertreiben soll sie es nicht.

Sandra versucht ihren abgemagerten Körper, durch lässige weite Kleidung, zu kaschieren. Sie muss sich dabei nicht anstrengen, denn ihre Klamotten sind ohnehin viel zu groß, nachdem sie so viel abgenommen hat. Sandra ist noch nicht zufrieden. Die kleinen Speckröllchen an der Hüfte und dem Bauch, über den hervorstehenden Beckenknochen, stören sie gewaltig. Speck, den nur Sandra erkennt, denn seit der Diät, hat ihr Körper kein einziges Gramm Fett mehr.

Vor ein paar Tagen kam Tante Inge zu Besuch. Tante Inge erschrak, als sie Sandra sah und sagte: Mein Gott, Kindchen! Was bist du dünn geworden. Bist du krank oder geben dir deine Eltern nichts zu essen? Man könnte meinen, du bist magersüchtig.“ Sandra wies den Verdacht ab und erklärte: „Ich bin doch nicht magersüchtig. Weißt du Tante Inge, zurzeit schreiben wir viele Arbeiten, weil wir demnächst Zeugnisse bekommen. Ich muss viel lernen. Das ist ganz schön stressig. Außerdem schadet es mir nicht, wenn ich noch ein oder zwei Pfund abnehme. Dann fühle ich mich einfach wohler.“

Sandra ist nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie krank sein könnte. Es ist doch gut, wenn sie auf ihr Gewicht achtet. Seit Tagen nimmt sie keine Abführmittel mehr. Sie achtet darauf, was sie isst und vor allen Dingen achtet sie darauf, nicht zu viel zu essen. Das ist schon alles. Außerdem hat sie keinen Bock auf Schweinebraten mit Knödeln. Dies war einmal ihr Leibgericht, doch zurzeit kann sie das Essen nicht richtig genießen. Letzten Sonntag gab es Schweinebraten mit Knödeln und einer leckeren Soße. Sandra musste eine Portion essen. Darauf bestand ihre Mutter. Nach dem Essen übergab sich Sandra. Sie fühlte sich so schlecht von dem fetten Essen, dass sie sich, auf der Toilette, den Finger in den Hals steckte. Ihre Eltern haben davon nichts mitbekommen. „Was ist schon schlimm daran, wenn man sich übergeben muss?“, denkt Sandra. „Deshalb ist man doch nicht gleich krank.“

Es war nicht das erste Mal, dass sich Sandra den Finger in den Hals gesteckt hat. Sie ist der Auffassung, dass man dies nicht überbewerten darf. Ihre Schwindelanfälle sind auch normal. Das geht anderen genauso, wenn sie abnehmen. Sie weiß doch, was sie sieht, wenn sie in den Spiegel schaut. Solange im Spiegel ein blondes rundliches Mädchen sie streng anschaut, kann sie nicht anders und muss weiterhungern. Es ist auch nur eine Zeitfrage. Nur noch zwei Kilo, und das Mädchen im Spiegel kann wieder lachen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.11.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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