Irene Beddies

Die Tanne am Waldrand

Am Waldrand, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, ragte eine herrliche Tanne empor. Ihre Zweige reichten weit am Stamm herunter fast bis auf den sandigen Boden. Zwischen ihren Wurzeln hatten Mäuse ihre Gänge gegraben. Auf der Spitze des Baumes saß oft ein Raubvogel und hielt Ausschau nach Beute. Neben der Tanne standen Eichen, die jetzt im Herbst ihre Blätter braun gefärbt trugen. Ab und zu klackte es deutlich, wenn eine Eichel zu Boden fiel. Sonst störte nichts den Frieden am Waldrand.
 
Eines Tages kam ratternd ein Trecker in die Nähe. Zwei Männer stiegen ab und gingen auf die Tanne zu.
„Ein besonders schöner Baum“, sagte der eine. „Er wäre der perfekte Weihnachtsbaum vor unserem Rathaus. So einen stattlichen hatten wir schon lange nicht mehr.“
„Ja“, meinte der andere Mann, „das wäre wahrlich ein Schmuckstück für unsere Stadt.“
Beide Männer sahen bewundernd zum Baum auf.
„Wie bekommen wir eine Genehmigung, ihn zu fällen? Der Förster hält beim Thema Weihnachtsbäume beide Ohren fest verschlossen.“
„Wir müssen ihm nur genug Geld bieten. Für Geld ist alles zu haben, da sei sicher. Schließlich kostet die Pflege des Waldes eine Menge Geld.“
Beide Männer guckten sich an und nickten. Dann fuhren sie wieder davon.
 
Einige Tage später hielt ein Mercedes vor der Försterei. Zwei Männer in eleganten Wollmänteln stiegen aus.
Im Büro trat der Förster den Männern entgegen. Er ahnte schon, was sie wollten. Die machten keine großen Umstände, sondern kamen gleich zur Sache:
„Wir kommen im Auftrag unseres Vereins. Es geht um eine wichtige Angelegenheit. Unser Bürgerverein möchte einen besonders schönen Weihnachtsbaum auf dem Markt aufstellen. Immer mehr Touristen kommen jedes Jahr zu uns wegen des Weihnachtsmarktes und der Konzerte in der Kirche. Ihnen wollen wir etwas bieten. Dazu brauchen wir den Baum am Waldrand.“
„Das kommt überhaupt nicht infrage“, gab ihnen der Förster Bescheid, „der Baum steht nicht zum Fällen in unserem Holznutzungsplan. Die städtische  Verwaltung hat den Plan gerade erst in diesem Frühjahr aufgestellt.“
„Und es gibt wirklich keinerlei Möglichkeit, eine Sondergenehmigung zu bekommen – nicht einmal ausnahmsweise? Die Touristen bringen viel Geld in die Stadt. Davon könnte das Forstamt seinen Nutzen haben. Wir wollen den Baum nicht umsonst. Wir sind bereit, eine hübsche Summe für ihn zu bezahlen. Denken Sie darüber nach, Herr Förster, und lassen Sie uns wissen, wie viel der Baum wert sein könnte. Wir werden das Geld lockermachen. Im Notfall veranstalten wir bei den Stadtbewohnern eine Sammlung.“
Dem Förster verschlug es die Sprache. Er starrte die unliebsamen Besucher grimmig an. Glaubten die, für Geld ließe sich alles erreichen?
„Ich sage:Nein. Guten Tag die Herren.“ Damit ließ er die beiden stehen und stürmte zornig aus dem Büro.
Die Männer stiegen in ihren Mercedes.
„Was hältst du davon?“, fragte der eine.
„Er wird sich‘s überlegen. Er hat nur so getan, schließlich musste er sein Gesicht wahren“, meinte der andere.
 
Am folgenden Morgen läutete das Telefon in der Försterei. Die Sekretärin war erstaunt, dass so schnell das Angebot für die Tanne wiederholt wurde. Als sie dem Förster von dem Telefonat berichtete, bekam er einen Schreck. Diesen unverschämten Leuten aus der Stadt war nicht zu trauen. Die würden jeden Trick anwenden, um an den Baum zu kommen.
In seiner Not rief er einen Kollegen und seine naturbegeisterten Freunde an. Er schilderte in immer denselben Worten, was man ihm zumutete, und bat sie um ihren Rat.
„Gib bloß nicht nach“, hörte er von allen Seiten. „Ich werde bestimmt helfen“, versicherte ihm jeder seiner Gesprächspartner.
Der Förster lud sie an einem der nächsten Abende zu sich ein, um mit ihnen zu beraten, was man unternehmen konnte. Zunächst einmal wollte jeder einzelne seine Freunde verständigen. Es sollte sich herumsprechen, wie wenig rücksichtsvoll einige Herren in der Stadt mit der Natur umgehen wollten. Schließlich gäbe es genügend Plantagen, von denen man Weihnachtsbäume in jeglicher Größe beziehen könne.
Als  weitere Maßnahme, so überlegten sie, könnte man  notfalls Handzettel drucken lassen mit der Frage, ob die Bürger bereit seien, die Natur zu schädigen, nur um einen geeigneten Weihnachtsbaum auf ihrem Marktplatz aufzustellen.
Auf jeden Fall, so beschlossen sie, wollten sie ab November ständig Wache am Baum halten, damit er nicht heimlich gefällt würde bei Nacht und Nebel.
 
Ein kleines grünes Zelt stand eine Woche später, von der Tanne verdeckt, im Wald. Jeden Abend kamen zwei Freunde des Försters mit ihren Schlafsäcken, um darin Wache zu halten.
So vergingen mehrere Nächte.
In dieser Nacht hielt der Förster selbst Wache mit seinem Freund Peter und Wotan, seinem Hund. Es war mondhell. Die Männer flüsterten leise im Dämmerlicht vor dem Zelt. Ein Reh lief etwas weiter entfernt auf die Wiese, gefolgt von einem Jungtier. Der Förster lächelte und legte den Finger auf den Mund. Peter nahm das Fernglas und beobachtete die Tiere. Plötzlich setzten sie zur Flucht an und verschwanden mit Riesensprüngen im Wald. Der Förster und Peter waren alarmiert. Wotan knurrte leise.
„Gib mir dein Schrotgewehr“, flüsterte Peter, „vielleicht können wir damit erschrecken, wer immer dort kommen mag.“
Eine Weile war nichts zu hören oder zu sehen. Bald knackte ein Ast in ihrer Nähe. Beruhigend legte der Förster Wotan die Hand auf die Schnauze, um ihn vom Bellen abzuhalten.
Licht aus einer Taschenlampe fiel in die untersten Äste der Tanne. Dahinter kam ein kräftiger Mann zum Vorschein. Auf seinem Rücken trug er einen großen, in Säcke gehüllten Gegenstand. Als er bei der Tanne ankam, hievte er das Bündel von der Schulter. Er schlug die Säcke auseinander. Eine Motorsäge kam zum Vorschein.
„Heda!“
Der Kerl erschrak und blickte sich suchend um. Auf der anderen Seite der Tanne stand Peter mit der Flinte im Anschlag.
„Was soll das hier? Wer hat dich geschickt?“, fragte Peter in barschem Ton.
„Die Belohnung. Ich will die Belohnung. Nun bist du mir zuvorgekommen.“
Der Förster trat in den Mondschein und fragte energisch: „Welche Belohnung?“
„Ach, du meine Güte“, entfuhr es dem Mann, „der Herr Förster!“
„Welche Belohnung, habe ich gefragt!“
„Ein Unbekannter gab mir einen Zettel. Auf dem stand, es gäbe 200 €, wenn ich den Baum soweit einsägen könnte, dass er beim nächsten Sturm von selbst umfällt.“
„Das ist Waldfrevel. Ich rufe die Polizei. Wagen Sie nicht zu fliehen, Sie sehen, wir haben ein Gewehr, von dem wir Gebrauch machen können. Schrotkugeln sind äußerst schmerzhaft.“ Der Förster nahm sein Handy aus der Tasche. Nach einer halben  Stunde traf die Polizei ein und nahm den Mann in Gewahrsam.
„Jetzt können wir ja nach Hause“, meinte Peter.
„Nein, noch nicht. Vielleicht haben mehrere einen solchen Zettel zugesteckt bekommen. Wir dürfen unsere Wachen nicht aufgeben, bevor auf dem Marktplatz ein Baum aufgestellt ist.“
 
Die Nachtwachen wurden fortgesetzt. Am 28. November, einen Tag vor dem ersten Advent, glänzten in der Stadt tausend kleine Glühbirnen in einem hohen Tannenbaum auf dem Marktplatz und beleuchteten das muntere Treiben auf dem Weihnachtsmarkt. Kaum ein Besucher schaute sich die Tanne wirklich an, sie waren viel zu sehr beschäftigt, ihre kleinen Einkäufe an den Buden zu machen, eine Bratwurst zu essen oder sich am Glühwein zu wärmen
Nur dem Förster fiel auf, in dem Weihnachtsbaum waren mehrere Äste künstlich angebracht.


(c) I. Beddies

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.11.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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