Ewald Frankenberg

Öffnet die Tür (Teil1)

Öffnet die Tür – eine Weihnachtsgeschichte

Ich öffne die Tür, die dreiundzwanzigste meines Adventskalenders.
Dahinter verbirgt sich ein Ochse aus Schokolade, gestern war es
ein Esel, da bleibt für morgen – Klappe vierundzwanzig – eigentlich
nur noch eine Krippe, denke ich, während der Ochse zwischen meinen
Zähnen langsam seine Form aufgibt.

Ja, morgen ist es dann wieder einmal so weit. Ich verweigere mir
jegliche Weihnachtsstimmung, von wegen Tannenbaum und so, aber
ganz entziehen kann man sich halt doch nicht, wenn sich um einen herum
jeder dem Fest hingibt.

Ich habe etwas zwiespältige Gefühle in mir. Wie bringe ich die Tage
am besten herum ohne allzu große Anpassung, ohne den Anschein zu
erzeugen, ich würde an der Zeremonie teilnehmen?

Was waren das früher noch Zeiten, als die Freude auf das Fest noch
durch den Glauben an das Christkind getragen wurde, an den
Weihnachtsmann, der am Heiligen Abend umher fuhr und überall
gleichzeitig die Menschen beschenkte und die Tannenbaumbeleuchtung
anzündete!

Sonntag für Sonntag saß die Familie um den Adventskranz, sang kirchliche,
weihnachtliche, oder auch einfach nur winterliche Lieder zur Einstimmung
auf das Fest.

Wir Kinder versuchten, durch besondere Artigkeit, das Christkind zu
bestechen, den Gabensack über unserem Teller besonders weit zu öffnen.
Gab es dennoch einmal Zank unter uns, so ließ uns oft ein heftiges Pochen
am Fenster erschrocken zusammenfahren.

   „Das wird das Christkind gewesen sein, das jetzt dauernd unterwegs ist,
durch die Fenster schaut, welche Kinder artig sind!“ wusste unser Papa.

Uns wurde bange, was hatte es gesehen? Eine Woche artig gewesen, und
ausgerechnet jetzt, da wir uns streiten, eigentlich war das doch gar nichts,
muss es hier vorbei kommen, durch unser Fenster schauen. Hatten wir uns
hiermit unser Weihnachten verdorben?

Weil der Weihnachtsmann am Heiligabend ja immer so viel zu tun hatte,
brachte er die Geschenke schon einen Tag vorher vorbei, baute im
Kinderzimmer, das er sorgfältig von innen verschloss, schon mal alles auf,
damit er am nächsten Abend nur noch schnell rüber zu tragen brauchte.
Wir schliefen dann bei den Eltern. Doch ein Jahr weiß ich wohl noch,
vielleicht hatten wir zu oft gezankt, blieb die Tür offen. Wir kontrollierten
die Angelegenheit halbstundenweise, viertelstundenweise, nichts passierte.
Angst! Wurden wir vergessen? Wurden wir bestraft? Gab es dieses Jahr nichts?

Na, vielleicht wurde er ja nur woanders aufgehalten, vielleicht gab es ja auch
besonders viel zu schleppen.

Es wurde Abend, die Tür war noch offen. Es wurde Nacht, wir konnten noch in
unsere Betten. Es würde ein trauriges Fest werden, doch trotz unserer
Nervosität schliefen wir irgendwann ein, ziemlich fest ... und wurden im Bett
unserer Eltern wach. Wie kamen wir dorthin? Aufspringen. Tür kontrolliert.
Abgeschlossen! Gottseidank, alles doch noch in Ordnung, wir waren sehr erleichtert.

Ich weiß noch, wie entsetzt ich war, als meine Mutter mir eines Tages bedeutete,
dass sie mir zu Weihnachten kein Malbuch mehr schenken würde. Sie! Tränen
stürzten mir die Wange hinab, als ich sie erstickt anschrie: „Du lügst! Das macht
doch alles das Christkind!“

Aber die Illusion war nicht mehr zu retten, für immer verloren. Ich weiß nicht,
ob ich meinen Kindern heute einen solchen Schmarrn auftischen würde, mit der
Geschichte vom Christkind versuchen würde, erzieherisch auf sie einzuwirken!?
Sinnierend schaue ich aus dem Fenster.

Draußen fällt dicht der Schnee. Ob es dieses Jahr einmal etwas wird mit der
weißen Weihnacht?

                                                                  ***

Leise rieselt der Schnee ... schlurfende Schritte ziehen eine lange Spur durch
die frische Puderschicht. Die schneidende Kälte, die seit Tagen über dem Land
liegt, lässt den Schnee trocken bleiben. Der leichte Windhauch hebt kleine
Wölkchen des weißen Pulvers und treibt sie über die fast unberührte weiße Fläche.

Die halbhohen Schnürschuhe sind nicht in der Lage, den Schnee von den Füßen
fernzuhalten, so dass die dicken Wollsocken durchfeuchtet sind und keine
Wärme mehr in der Lage sind zu halten.

Sie spürt nicht mehr, wie sie geht, sie spürt nur die dumpfe Kälte, die vom Ende
ihrer Beine in den Körper hochstrahlt. Ihr Leib ist schwach. Selbst zu schwach,
um noch ein wärmespendendes Zittern zu erzeugen. Sie hat schon ein wenig
resigniert, weiß nicht, wohin. Seit zwei Jahren obdachlos, existiert für sie keine
Verbindung mehr zur Überflussgesellschaft. Einzige soziale Kontakte sind
Heimleiter und Gleichbetroffene, die sie in der kalten Jahreszeit in den
überfüllten Heimen trifft, in denen auch schon nicht mehr jeder aufgenommen
werden kann.

Die letzte Nacht verbrachte sie darum auf den Lüftungsschlitzen des
Heizungskellers der katholischen Kirche, mit Blick auf die geheizten Innenräume,
in denen die Kerzen, die in Gedenken an die Menschen, denen es nicht so gut geht,
für fünfzig Pfennige pro Stück entfacht wurden, ein wohliges Licht verbreiteten.
Heute Morgen bemerkte sie der Küster, hatte Mitleid mit ihr und schenkte ihr
eine Tasse heißen Kaffee ein aus der Thermoskanne, die seine sorgende Frau
jeden Morgen für ihn füllte. Sie schlürfte ihn gierig in sich hinein. Mit dem guten
Ratschlag, es doch einmal dort zu versuchen, schickte er sie fort ins nächste Asyl,
um anschließend die Kirche aufzuschließen und mit feierlichem Geläut die Gläubigen
in die geheizten Hallen Gottes zu rufen.

Seitdem irrt sie umher. Zu schleppen hat sie nichts. Ihre gesamte Habe besteht
aus der verschlissenen Kleidung, die sie am Körper trägt. Den dicken alten
Mantel bekam sie bei Wintereinbruch von einer lieben alten Oma („...den brauch‘
ich jetzt nicht mehr. Meine Kinder haben für mich Platz gefunden in einem
Altenheim, da hat’s Zentralheizung ...). Den dicken Bauch darunter hat sie von
drei Weggefährten, die in den warmen Sonnentagen des vergehenden Märzes
im Schlosspark mit ihr auf die kommende Jahreszeit anstießen und dann das
Herunterlassen ihrer Hose zum Zwecke der Entleerung als eindeutige
Aufforderung missdeuteten, an ihr ihre aufkommenden Frühlingsgefühle auszuleben,
was sie wiederum veranlasste, sich auch aus der Gesellschaft der Obdachlosen
auszuschließen, so dass sie fast gänzlich allein ist.

Zum Asyl wurde ihr der Zutritt verwehrt, mit Blick auf ihren Bauch und der
Bemerkung, sie gehöre wohl eher in ein Krankenhaus.

Dort wurde ihr die Aufnahme verwehrt mit flüchtigem Blick auf ihren Bauch
und der Bemerkung: „Gute Frau, Sie haben wenigstens noch vier Wochen Zeit.
Wir können Sie hier jetzt auch gar nicht versorgen, es ist kaum Personal da,
es ist schließlich Weihnachten!“

So schleppt sie sich resigniert durch die Kälte. Das letzte bisschen Wärme,
das sie noch hat, legt sie in das Gefühl und die Worte für ihr kleines
ungeborenes Kind, dem einzigen Menschen, der sie braucht.

Für ihn, für ihn geht sie hier, quält sich weiter, nur für ihn. Ohne ihn hätte
sie sich längst in einer dunklen Ecke in den Schnee gesetzt. Aber sie spürt
ihn, wie er strampelt, sie vorwärts treibt, wie er leben will, hinaus in das
Licht der Welt. Sie fühlt Liebe, ein Gefühl, das sie in sich schon lange tot
glaubte. Sie wird ihn gebären, ihn lieben, ihm Wärme geben. Wärme – das ist
das Wichtigste jetzt. Sie strafft etwas ihren Körper, strebt der nächsten
Haustür zu – und klopft an.

                                                                  ***

Der alte Mann sitzt auf einem alten Holzstuhl, gebeugt über einen Tisch.
Darauf flackert eine Kerze, die einzige Beleuchtung in diesem spärlich
eingerichteten Raum. An der anderen Seite des Tisches vor der Wand
steht eine Eckbank, ein zweiter Stuhl steht an der Schmalseite des Tisches.
Unter dem Fenster befindet sich die Spüle, daneben ein kleiner Schrank für
Geschirr. In der gegenüberliegenden Ecke steht ein Kachelofen, daneben ein
gefüllter Kohleneimer und ein paar Holzscheite. Der Ofen strahlt noch ein
wenig Wärme ab, die Glut darin ist allerdings bereits erloschen. Der Alte hat
keine Kohle mehr nachgeschüttet, Wozu auch, nur für sich?

Nein, die nötige Wärme, die er im Moment braucht, spendet ihm die Flasche,
die vor ihm auf dem Tisch steht, noch halb gefüllt. Unter dem Tisch liegt eine
zweite, bereits leere Flasche. Seit gestern Abend sitzt er auf diesem Stuhl
und trinkt.

Er ertränkt das Grauen, das er empfindet bei dem Gedanken an das
bevorstehende Fest der Liebe, dem Fest des Friedens. Er ist allein, er braucht
nicht kämpfen, er hat Frieden. Diesen Frieden hat ihm der letzte große Krieg
beschert, in dem er ein Bein verlor, als er seine Heimat verteidigte, die von
fremden Truppen überrollt wurde.

Jetzt ist wieder Krieg. Ein Krieg, in dem er seinen Sohn verlor, als er das
kleine Dorf verteidigte, verteidigte gegen die Menschen, mit denen er zur
Schule ging, mit denen er gemeinsam auf Bäume kletterte. Er hat Angst um
seinen zweiten Sohn, der noch kämpft, unter anderem gegen die Familie seiner
Exfrau, die ihn liebte und ihm dann davonlief, als irgendwelche Politverbrecher
wieder einmal glaubten, ihr Volk sei besser als andere und seine Rechte
müssten mit Gewalt gefestigt werden, bevor jemand auf die Idee kommt,
diese irgendwann zu beschneiden, nur, weil man nicht mehr eine Nation sein will.

Seine Frau ist in die Stadt gegangen, macht sich im Krankenhaus nützlich. Die
Verbindung zu ihr ist abgerissen, in den Nachrichten wird von massiver
Belagerung gesprochen und dass die Stadt nicht mehr lange zu halten ist. Ein
anderer Sender spricht davon, dass die Angehörigen unseres Volkes, die
minderheitlich in der Stadt leben, nicht mehr lange auf ihre Befreiung warten
müssen.

Der Alte ist daheim geblieben, um sich um die Kuh und die Schweine zu kümmern.
Draußen schneit es, es herrscht klirrende Kälte. Nachts hört man Schüsse und
Granateinschläge. Ein Dröhnen lässt das Zimmer beben. Das Geschirr klirrt
heftig im Schränkchen. Er schlägt die Lider auf. Abrupt endet das Dröhnen,
nichts ist mehr zu hören. Weihnachtliche Stille hängt im Raum. Die Kerze brennt
ruhig und hell. Das Licht reflektiert in seinen feuchten Augen. Er fühlt sich 
gänzlich allein. Angst. Still und starr ruht der Blick auf der Flasche. Mit
zittrigen Händen führt er sie an den Mund, nimmt einen kräftigen Schluck.
Da pocht jemand heftig an der Türe. 

                                                        ***

(Fortsetzung folgt am zweiten Adventsonntag)

                                                                                      copyright byEwald Frankenberg

Ich habe hier eine alte Geschichte von mir ausgegraben, sicher zwanzig Jahre alt oder mehr.
Beim Lesen stelle ich fest, dass sich das Leben keinen Deut verändert hat, allenfalls die Schauplätze,
die Begründungen und die Währung. Also veröffentliche ich sie hier unverändert.

Kommentare, auch zu anderen Geschichten von mir, sind sehr erwünscht, und wer nicht
öffentlich kommentieren möchte, für den ist meine Mail - Adresse hier zugänglich. Danke.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.11.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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