Bodo Mario Woltiri

Die kleine Kerze

Draußen dämmerte es bereits, und die Laternen auf dem Gehsteig leuchteten auf. Die kleine Kerze auf dem Fenstersims hätte sich unter normalen Umständen sehr wohl gefühlt in dieser Stimmung, zumal ihr Licht ja immer heller strahlte, je dunkler es draußen und damit auch in der ansonsten unbeleuchteten kleinen Essküche wurde. Doch ihr war gar nicht wohl, denn die Herrin der Wohnung war aus der Küche nach oben in ihr Schlafzimmer gegangen – aber hoffentlich nicht um sich schlafen zu legen, dazu war es ja eigentlich auch viel zu früh. Der Kerze war nämlich unwohl, weil sie nie längere Zeit allein sein konnte in angezündetem Zustand. Was konnte da nicht alles passieren! 

Eine Kerze, die sich Sorgen macht?! werden Sie jetzt erstaunt fragen. Ja, Kerzen können sich Sorgen machen, denn sie können zwar nicht sprechen, aber sehr wohl denken. Und sie denken mit ihrem Docht. Ja, Sie schütteln den Kopf und lachen darüber. Aber genauso ist es: Schließlich haben wir Menschen ja auch zündende Ideen und Geistesblitze und wir brennen im Geist für eines Sache, oder? Da ist es doch nicht verwunderlich, dass Kerzen mit ihrem Docht denken. Das habe ich mir nicht ausgedocht.

Also, lassen Sie mich weiter erzählen, was in dem Docht der kleinen weißen Kerze vorging. Nein halt, vorher muss ich noch erwähnen, dass sie leider schon ziemlich abgebrannt war. Sie war bereits auf ein Drittel ihrer urspünglichen Größe geschrumpft, oder besser: verflossen. Kerzen sind zwar aus Wachs, aber sie wachsen leider nicht mit dem Alter, sondern fangen gleich an zu schrumpfen. Was kann nicht alles passieren während Ines – so heißt die Herrin der Wohnung – nicht in der Küche ist! dochte die Kerze erschrocken. Aber ein paar Wachstropfen später fand sie es nicht mehr so schlimm. Schließlich hatte sie ja auch eine gehörige Portion Fantasie. Wenn Sie den Vorhang an dem Küchenfenster, der nur wenige Zentimeter über ihr endete, entzündete, dann stünde bald die ganze Küche, dann die Wohnung dann das Haus in Flammen, und irgendwann womöglich die ganze Häuserreihe! Sie würde sicher sehr berühmt werden, wenn man entdeckte, dass eine alleingelassene Kerze die Ursache für diesen schrecklichen Häuserbrand gewesen war! Welch eine Macht sie doch hatte über Leben und Tod! Allerdings würde sie nichts von ihrer Berühmtheit haben, ja sie wäre ja schon längst abgebrannt und im flammenden Inferno zerschmolzen. Also verwarf sie die Idee einer Karriere als Kamikerze.

Inzwischen hatte sich der soeben noch blutrot unterlaufene Himmel draußen in einen dunkelblauen Mantel gehüllt, so dass drinnen das aufgeregte Flackern der kleinen Kerze gespenstische Schatten auf die Küchenwand warf. Ich möchte eine wichtige Rolle spielen, dochte die Kerze weiter. Welche ist mir eigentlich ziemlich egal, Hauptsache sie ist bedeutsam. Sie merken an dieser Stelle, dass es sich um eine weibliche Kerze handeln muss, denn männliche Kerzen würden sich niemals wünschen, bedeutend zu sein – sie würden es allerdings auch nie werden, weil sie ihre Gedanken nie zuende dochten, denn sie waren leicht ablenkbar. Wo war ich noch gerade stehen geblieben? Ach ja, die bedeutsame Rolle. Nun, wenn Candela – so hieß unsere Kerze nämlich – weiterhin allein blieb und nichts passierte, das ihr eine wichtige Rolle zuspielte, würde sie hier wahrscheinlich abbrennen und als Wachshäuflein auf der Untertasse ihr Leben verglimmen.

Es klingelte an der Tür! Ja, es klingelte. Einmal, zweimal, dreimal, ganz viele Male. Der Kerze rannen vor Aufregung die Schweißtropfen nur so über den geraden Rücken. Nun mach doch endlich auf, Ines!! dochte Candela so laut sie nur konnte. Endlich! Ines hatte die Tür geöffnet und die Kerze vernahm eine ihr vertraute Stimme: das war doch der junge Mann, der sie gestern Abend schon besucht hatte – und ganz viele Abende zuvor. Immer hatten die beiden in der Küche gesessen und sich lange unterhalten – bei Candelas Schein (wäre sie eine englische Kerze, hieße es natürlich candle-light). Doch mehr war nie passiert und er war wieder gegangen. Vielleicht lag es ja auch an ihr, der Kerze. Schließlich war Candela ja nur eine armselige Haushaltskerze auf einer Untertasse, nicht zu vergleichen mit ihren vornehmen, schlank gewachsenen Schwestern in den mehrarmigen kupfernen Leuchtern. Wie sollte bei ihrem Schein eine romantische Stimmung aufkommen?

Sie kamen auch diesmal in die Küche, aber sie setzten sich nicht. Sie standen mitten im Raum, er umarmte Ines und dann – küsste er sie! Candela war Feuer und Flamme, sie leuchtete, bis ihr der Docht weh tat. Ja, sie hatte ihre starke Rolle! Und dafür gab sie alles, sie wachste äh wuchs förmlich über sich hinaus. Doch nach der innigen Umarmung und zwei bis drei langen Küssen löste sich Ines von ihrem Freund und ging auf die Fensterbank zu. Mit einem liebevoll gehauchten „hhhu!“ blies sie Candela aus, und wandte sich ihrem Geliebten zu: „Komm lass uns ins Bett gehen“, flüsterte sie und sie verschwanden im dunklen Flur. Zurück blieb eine glückselige Candela, deren Docht noch lange in der Finsternis weiterglühte.

 

© Bodo Mario Woltiri 2011

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.11.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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