Helmut Wurm

Sokrates ist niedergedrückt und tankt neue Kraft

 
1. Die Niedergeschlagenheit des Sokrates
 
Sokrates hat in der letzten Zeit bei seinen Bemühungen, die Menschen zu kritischem Denken anzuregen und sie dadurch ausgewogener und selbstständiger zu machen, Enttäuschungen, Rückschläge und sogar Niederlagen erfahren. Das bedrückt ihn und er überlegt, woran das liegen könne. Er setzt sich an den Fuß einer Säule, stützt den Kopf auf die Hand und sinniert…
 
Sokrates:Vorwürfe kann ich mir eigentlich keine machen. Ich habe mich redlich bemüht, die Menschen zum Nachdenken zu bringen. Ich habe mich dabei nicht aufgedrängt, ich habe mich nicht angebiedert, ich habe nicht bevormundet… Es muss an etwas anderem gelegen haben, dass ich in der letzten Zeit vermehrt Misserfolge verbuchen musste… Auch früher gab es schon solche Zeiten, in denen ich viele Menschen, und besonders führende Menschen, nicht zu einem sachlichen Nachdenken bewegen konnte… Wenn ich an die Zeit der Glaubenskriege denke, wenn ich mich an die Zeit der modernen Diktaturen erinnere… Da waren die bitteren Enttäuschungen noch häufig… Damals galt nur der Glaube und die Hingabe an erlernte oder aufgezwungene Vorgaben im Denken…
 
Aber dazwischen gab es immer wieder Zeiten des Bemühens um Wahrheit, Toleranz, Ausgewogenheit und Sachlichkeit. Und jetzt hatte ich gehofft, dass es nach der jüngsten Herrschaft knebelnder politischer Ideologien endlich zu einem weltweiten Hunger nach Wahrheit, eigenem Denken, Pluralismus und Mündigkeit kommen würde… Und jetzt diese Niederlagen beim kritischen Nachdenken über das deutsche Schulwesen…
 
Sicher, das ist nur eine Teilsparte im politischen und kulturellen Leben, aber eine sehr wichtige. Denn wer die Lehrer und die Jugend hat, der hat die Zukunft... Und jetzt erfahre ich, dass es wieder eine neue Woge des unkritischen Glaubens, Wünschens und Hoffens gibt, dass wieder Ideologien und Bevormundung an Macht und Einfluss gewinnen, auch in der Schulpolitik…
 
Ja, Glaube, Ideologien, unreflektiertes Hoffen, das sind meine größten Gegner, die vertragen sich nicht mit kritischem Denken, die müssen mich bekämpfen als ihren gefährlichsten Feind… Und dieser Felder bedient sich Mephisto zu gerne, wenn die Menschen nämlich das kritische Denken aufgeben. Dann kann er sie entzweien, auf-einander hetzten, sich Leid zufügen lassen, alles unter dem Schirm des Glaubens, des unreflektierten Hoffens, einer Ideologie…
 
Und diese Felder beginnen wieder an Bedeutung zu gewinnen, weltweit zu wachsen… Auch im Schulwesen, das eigentlich, wenn es sich um ein pluralistisches Schulwesen mit kritischem und pluralistischem Denken handelt, den Gefahren unreflektierten Glaubens und unreflektierter Ideologien wirksam entgegen arbeiten könnte…
 
Ja, zu meinem kritischen Denken gehört Pluralismus auf allen Gebieten und der nimmt in den Köpfen ab. Ob jetzt wieder eine Epoche kommt, in der ich weniger wirken kann?... Ich sollte mich darauf einstellen… Aber ganz aufgeben sollte ich nicht, es gibt immer noch Menschen, die ich zum kritischen Denken führen kann…
 
Am besten, ich spreche mal mit dem Chef oben, was der meint… Vielleicht will er mich künftig woanders einsetzen… Ich werde den Petrus bitten, mir einen Gesprächstermin zu verschaffen.
 
Damit steht Sokrates auf, besteigt seine Taxi-Wolke und entschwindet nach oben.

Einige Zeit später.
 
2. Sokrates und sein Gespräch im Himmel
 
Petrus hat dem traurigen Philosophen kurzfristig  einen Termin beim HERRN besorgt. Nun steht Sokrates vor diesem, bedrückt, den Kopf hängend…
 
Sokrates: Ich beginne wieder mal an meine Grenzen zu kommen. Dabei hatte ich voller Hoffnungen in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts meine Bemühungen verstärkt… Aber es mehren sich die Anzeichen, dass die Menschen nach der jüngsten Phase des Rationalismus und Realismus sich langsam wieder mehr dem Irrationalen zuwenden, dem Glauben, den Illusionen, den Ideologien… Und es mehren sich die Zeichen, dass Mephisto wieder Auftrieb bekommt, denn er braucht Menschen, die möglichst wenig kritisch denken… Das bedeutet, dass meinem Wirken wieder engere Grenzen gesetzt werden…Weshalb verfallen die Menschen nur so leicht dem Irrationalen, dem Glauben, den Ideologien?…
 
Und auch im Schulwesen, meinem eigentlichen Hauptbetätigungsfeld, nehmen der Irrationalismus, der Glaube, die Ideologien, die Theorien zu… Was soll ich tun?...
Hast DU ein anderes, besseres Betätigungsfeld für mich?
 
Der HERR: Ich bemerke Deine Niedergeschlagenheit und Deine Mutlosigkeit. Aber Dichtrifft keine Schuld - die trifft mich. Als ich den Menschen schuf, habe ich nicht alles gut und richtig gemacht. Ich gab dem Menschen bewusst den Drang zum Irrationalen, zum Glauben, damit er an mich glauben und mich verehren kann ohne Verunsicherungen und Zweifel. Denn ich bin rational nicht fassbar…
 
Aber Mephisto hat damals sofort erkannt, dass der Mensch durch diese Fähigkeit, durch diese Neigung zum Irrationalen auch unreflektiert an andere Ideen, Lehren, Ideologien und Ziele so glauben kann wie an mich. Das kann eine furchtbare Gefahr für die menschliche Gesellschaft werden... Aber als ich es bemerkte, war es schon zu spät. Ich hatte den Menschen bereits aus dem Paradies entlassen.
 
Nun muss ich die Schad-Aktionen des Mephisto, die er mit Hilfe dieser von mir dem Menschen mitgegebenen Anlagen zum Irrationalen, zum Glauben einfädelt, so weit wie möglich einzudämmen versuchen. Und dazu benötige ich Philosophen und Pädagogen wie dich. Du darfst mich nicht im Stich lassen. Denn es wird immer Menschen geben, selbst in den finstersten Zeiten des Irrationalismus und der Ideologien, die man durch Gespräche zum kritischen Denken hinführen kann. Dann musst du dich eben mit kleinen Erfolgen begnügen… Im Stich darfst du auch die Menschen nicht lassen, es kommen wieder bessere Zeiten für dich…
 
Gehe wieder hinunter zu den Menschen und unterhalte dich mit ihnen… Besonders mit Menschen, die im Schulwesen tätig sind… Ganz umsonst wird dein Bemühen nicht sein…
 
Damit ist Sokrates entlassen und kehrt zwar ernst, aber nicht mehr ganz so nachdenklich und niedergeschlagen zu den Menschen zurück. Und er nimmt sich vor, nicht aufzugeben in seinen Bemühungen, möglichst viele Menschen zum kritischen Denken zu bringen und dem Mephisto das Ackern und die Ernte zu verderben… Das macht ihn allmählich sogar wieder etwas froh.
 
3. Sokrates macht weiter
 
Die unsichtbare Taxi-Wolke des Sokrates senkt sich von selbst - oder wird sie von einer unsichtbaren Hand gelenkt? - vor einem großen Schulzentrum nieder, dessen Fenster offen stehen und aus dem heftige Streitworte zu Sokrates herunter klingen. Sokrates hört zu:
 
Die Stimmen (durcheinander): Das ist eine völlig veraltete pädagogische Konzeption, die hier abgeschafft werden muss… Das ist eine altbewährte Unterrichtsform, die die besten Erfolg bringt… Das ist der neue schulpädagogische Weg, der Weg der Zukunft… Darauf weisen die Betriebe immer wieder kritisch hin… Moderne Eltern haben andere Vorstellungen von Schule… Mit diesen Methoden lernen Schüler am liebsten… Ganz neue Untersuchungen haben gezeigt, dass es ohne Disziplin nicht geht… Trotz aller Reformen werden die realen Schülerleistungen nicht besser… Wir haben noch nicht genug reformiert bei Schulformen und Unterrichtsformen… Die Schüler von heute sind anders als früher… Den Schülern heute fehlt Kontinuität in der Erziehung… Selbsterfahrung und Eigenverantwortlichkeit müssen ab dem Kindergarten die Leitmaxime der Pädagogik werden… Reifen und Wachsen bedürfen einer Orientierung… Lasst Kinder wieder Kinder sein… Jugendliche benötigen Lehrer mit Ecken und Kanten… Wir werden mit unserem neuen Schulsystem die Wahlen gewinnen… Alte Zöpfe gehören abgeschnitten… Es ist viel zu viel reformiert worden… Andere Länder machen das ganz anders… Neue Lehrer braucht das Land… Ohne Erfahrungen geht es auch in der Schule nicht…
 
Sokrates (murmelt vor sich hin): Da bin ich ja gerade mitten in ein Gefecht der Meinungen und Zielsetzungen gelandet. Und das geht da oben ja heftig her…
 
In keinem anderen Bereich wird in Deutschland so viel theoretisiert, gelehrt, spekuliert, philosophiert, geglaubt, gehofft, ideologisiert, gemeint, spintisiert, phantasiert… wie in der Schulpädagogik und im Schulwesen.
 
Nirgends wird in Deutschland mehr gestritten, diskutiert, neu entwickelt, kreiert, gekämpft und bekämpft, reformiert, abgeschafft, sich geirrt, korrigiert… wie in der Schulpädagogik und im Schulwesen.
 
Nirgendwo in Deutschland besteht ein größerer Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, zwischen Plan und Erfolg, zwischen Einsatz und Ergebnis… wie in der Schulpädagogik und im Schulwesen.
 
In keinem anderen Bereich in Deutschland glauben alle mitreden und mitgestalten zu können, nämlich neben den Lehrern die Universitäten, die Politiker, die Soziologen, die Kirchen, die Eltern, die Wirtschaft… wie in der Schulpädagogik und im Schulwesen.
 
In keinem anderen Bereich wird in Deutschland mehr mit allen Mitteln um Einfluss und Posten gekämpft, gemobbt, ausgebootet, geheuchelt, blockiert, verdrängt, um die Gunst gebuhlt, nieder gemacht, gedemütigt, geschmeichelt… wie in der Schulpädagogik und im Schulwesen.
 
Aber das war schon immer etwas so im Verlauf der Geschichte der Erziehung und der Schule - aber besonders heftig war und ist es in Deutschland.
 
Und die Opfer, die Dummen dieser ganzen Konflikte und Streitereien sind die Schüler.
 
Ich glaube, in diesen Bereichen Schulpädagogik und Schulwesen kommt es in Deutschland nie zu Entspannung und Mäßigung. Es geht tatsächlich nicht ohne Bemühungen von außen um kritische Distanz und Ausgewogenheit - Ich muss weiter machen und ich mache weiter.
 
Ich sollte mal nach da oben gehen und versuchen, ob ich etwas ausrichten kann…
 
(Damit geht Sokrates in Richtung Schultür…)
 
(Aufgeschrieben von discipulus Socratis, der froh ist, dass Sokrates wieder Mut geschöpft hat)

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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