Julia Zipp

Metropolitain

Ist es nicht erstaunlich, daß es ein solches Phänomen wie die Stadt gibt? Eine riesige, zubetonierte Fläche, auf der es paradoxerweise von Leben wimmelt, obwohl das wirkliche Leben, die Natur, unter einem solchen Asphaltteppich längst erstickt wurde?

Stadt. Einmal schrieb ich in mein Tagebuch, daß die Stadt wohl der absolute Versuch des Menschen ist, sein naturabhängiges Selbst zu überwinden. Indem er an einem Ort lebt, den er sich selbst rein künstlich errichtet, weist er alles Natürliche von sich. Die Stadt genügt sich selbst, sie braucht die Außenwelt nicht.

Ich bin auf dem Land aufgewachsen, immer schon wollte ich in die Stadt ziehen. Nicht etwa, weil ich mich nach Menschenmassen gesehnt hätte, ganz im Gegenteil. Es gibt keinen Ort, an dem man sich so völlig in die Einsamkeit zurückziehen kann wie gerade die Stadt. Es ist das Paradies für den Einzelgänger, der plötzlich seinem Naturell folgen kann, ohne daß es anderen auffallen würde. Er geht unter in der großen Anonymität der Stadt. Da ist keine Zeit, keine Lust, keine Norm vorhanden, die irgendjemanden dazu antreiben würde, über den Einzelgänger die Stirn zu runzeln. Hier geht es niemanden etwas an, was ich treibe. Das schlechte Gewissen über meine angebliche Abnormität schwindet, die anonyme Flut der hektischen Menschen spült alle Straßen rein von neugierigen Blicken, erhobenen Zeigefingern, bornierten Hänseleien.

Es gibt da ein Gedicht, ein sehr schönes, französisches Gedicht von Maurice Fombeure, das ich damals, 1998/99 in Frankreich im Literaturunterricht interpretierte. Ich erinnere mich verschwommen, daß wir die Wahl hatten zwischen einem Textauszug aus Zolas „Das Tier im Menschen“ und eben diesem Gedicht; die meisten nahmen Zola, Gedichte sind immer eine heikle Angelegenheit. Mit den meisten Gedichten kann ich kaum etwas anfangen, aber dieses eine liebte ich vom ersten Augenblick an. Da ich nicht weiß, ob eine deutsche Übersetzung existiert, werde ich es frei übersetzen(Fehler bei Ausdrücken können vorkommen).


Solitude
Je marche sans arrêt
Dans cette énorme ville
Où gronde le murmure
Immense de la mer,
Où l´on percoit à peine
Le signe d´une étoile,
Le galop d´un cheval
Dans la rue, le matin,
L´agile des oiseaux
Sur les arbres de neige,
Le cri vert des bateaux
Dans les vagues de marbre.
Je marche sans arrêt
Perclus de solitude,
Dans ces déserts mortels
Tout luisants de regards.
J´entends autour de moi
Des plaintes étouffées,
Des soupirs de bonheur
Fragiles roses mortes.
Heureusement ma lampe,
Phare de mes automnes
Brille là-bas au loin
Dans le fond de mon coeur
Et m´attire invincible,
Tout gluant de ténèbres.
Je monte un escalier
Dans cette énorme ville
Où gronde le murmure
Immense du malheur;
O chat, lampe, famille,
Bonne humaine chaleur,
Sauvez-moi tous les soirs
Du naufrage intérieur
De l´éternel naufrage!

Maurice Fombeure, “Greniers des saisons“, 1942


Einsamkeit
Ohne Unterlaß laufe ich
Durch diese große Stadt
Wo das tiefe Murmeln
Des Meeres grollt
Wahrnehmen tut man es kaum
Das Funkeln eines Sterns
Das Galoppieren eines Pferdes
In der Straße, am Morgen
Die Flinkheit der Vögel
Auf den schneebedeckten Bäumen
Der grüne Schrei der Schiffe
Zwischen den Marmorwellen.
Ohne Unterlaß laufe ich
Eingehüllt in Einsamkeit
Durch diese todbringene Wüste
Mit glänzendem Blick
Um mich herum höre ich
Erstickte Schreie,
Freudiges Seufzen,
Zarte tote Rosen.
Glücklicherweise brennt meine Lampe,
Leuchtturm meines Herbstes
Tief unten
Auf dem Grund meines Herzens
Und zieht mich unwiderstehlich an,
Ganz von Dunkelheit verschluckt.
Ich erklimme eine Treppe
In dieser großen Stadt
Wo das tiefe Murmeln
Des Unglücks grollt.
Oh Katze, Lampe, Familie,
Teure menschliche Wärme,
Rettet mich jeden Abend
Vor meinem Untergang,
Dem ewigen Untergang!

Maurice Fombeure, „Dachkammer der Jahreszeiten“, 1942


Da rede ich von Stadt... lebe ich denn in einer Stadt, ist Leipzig eine Stadt? Nein. Sie wollen wissen, was Stadt ist? Paris ist Stadt. Aber das kann nur der nachvollziehen, der dort schon gewesen ist. Der, der im Dezember gesehen hat, wie kleine Kinder ihre Nasen an die Scheiben der weihnachtlich hergerichteten Schaufenster des Samaritaine pressen. Der, der die kaum sichtbaren Grenzen zwischen Arm und Reich auf dem Pariser Pflaster wahrnehmen kann. Der, der den Flirt der métro kennt, ein Lächeln, ein Blick, der sich für ein paar Stationen in den eigenen senkt, inmitten des Schimmelpilzgeruchs im Sommer, der in den U-Bahnschächten herrscht. Dann steigt der fremde Mensch aus und tritt nie wieder in das eigene Leben.
Derjenige, der Paris an grauen Regentagen kennt, wird wissen, wovon ich spreche. Die Dreckschlieren an den Häuserfassaden, die einen sonst an hellen Sonnentagen blenden. Der graue, alte Friedhof hinter dem Arc de Mitterand, grausamer Gegensatz zur Moderne. Die Drogendealer bei Les Halles, die Straßenkünstler vor dem Centre Pompidou. Die schwere Melancholie des Friedhofs Père Lachaise, auf dem ich mich verlief. Die Enge der Wohnung, in der mein Cousin für ein Jahr lebte und bei dem ich einmal übernachtete. Was kümmerte ihn der kleine Raum, wenn er doch Paris vor sich hatte, sobald er auf die Straße hinaustrat?
Die Hausboote auf der Seine, der kostenlose Tee zum Probieren im Naturladen unter dem Louvre. Und da gibt es einen kleinen Eisladen hinter Notre Dame, ein Geheimtip. Befragen Sie mich nicht über historische Fakten oder Sehenswürdigkeiten, davon weiß ich nichts, will ich nichts wissen. Ich erinnere mich nur an die vielen Kilometer, die ich durch Paris gelaufen bin, immer noch laufe, wenn ich dorthin komme, mit weitaufgerissenen Augen. Es gibt soviel zu sehen, so viele kleine Momente, die es sich lohnt, festzuhalten.

Paris stinkt zum Himmel, im wahrsten Sinne des Wortes mit all seinem Dreck und den gierigen Touristenfängern, den obszönen Photos des Rotlichtviertels am Montmartre, die einem aufdringlich entgegenleuchten. Ich schrieb zu Beginn, daß die Stadt etwas Unnatürliches ist. Paris ist unnatürlich, der Gipfel der Perversion. Es ist mir nie gelungen herauszufinden, wann genau und warum ich mich in diese abartige Stadt verliebt habe. Auf jeden Fall ist es schon sehr lange her, schon viele Jahre vor 98/99. Aber ich weiß, daß ich jedesmal, wenn ich mit dem Zug von Chartres aus in den Gare Montparnasse einlaufe, schon völlig hingerissen bin. Daß ich immer wieder dorthin zurückkehren muß, zu all dieser Perversion, die der Mensch entstehen ließ, diese riesige, verkommene, zubetonierte und eingemauerte Einöde, die er der Natur abgetrotzt hat. Eigentlich ist es doch widerlich, mit aller Gewalt diese verpestete Luft atmen zu wollen, sich vom Lärm der Stadt betäuben zu lassen, abends völlig erschöpft mit Kopfschmerzen auf das Bett zu sinken. Und dennoch, dennoch.

Ja, die Stadt. Ich messe ihr viel Bedeutung bei. Stadt berührt mich, Stadt beschäftigt mich. Die Natur war schon da, die Stadt ist Menschenwerk, Abbild des menschlichen Geistes, barbarisch, dekadent, arrogant, kindlich- trotzig, lüstern, kalt, heiß, stinkend, abweisend und doch anziehend. Diese Hölle aus Stahl und Beton ist es also, was dem menschlichen Geist entspringt. Wie dekadent und pervers bin ich eigentlich selbst, daß mich besagte Hölle so fasziniert?

Der pragmatische Teil meines Gehirns sagt mir, daß die Stadt rein funktionstechnisch entstand. Ein anderer Teil wiederum glaubt, daß die Stadt eine Seele hat, eine vom Menschen unabhängige Dynamik entwickelt, die ihn als Bewohner verändert, formt, vielleicht auch in den Wahnsinn treibt, ohne daß er sich dessen bewußt ist.

Diese Seele gilt es einzufangen, festzuhalten, sei es mit Hilfe von Malerei oder Texten. Ich hoffe, irgendwann einmal etwas hervorzubringen, das der Stadt, das Paris gerecht wird.
Eine schwierige Aufgabe.


14./15. 7. 2002

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