Jörn Meyer

Rot

Rot. Rot wie die Liebe, rot wie die Leidenschaft, rot wie die Rose.
Und ganz besonders: rot wie Sophies Haare. Noch immer konnte ich mein Glück kaum fassen. Ich saß allen Ernstes um knapp 16 Uhr nachmittags in der Schule und ließ mir von Sophie McGellar, meinem Schwarm, Nachhilfe geben. Und diesmal ist es nicht mal einer meiner Phantasien. Diesmal könnte ich sie wirklich anfassen. Bei dem Gedanken daran fühlte ich, wie mir das Blut in die Wangen steigt. Allein die Vorstellung daran verursachte bei mir schon gemischte Gefühle: die Hoffnung, das Glück, gepaart mit einer fürchterlichen, doch hoffentlich unbegründeten Versagensangst.
Mein Blick wanderte von ihren kinnlangen, feuerroten Haaren weiter zu ihren smaragdgrünen Augen. Verlieren könnte man sich darin. Diese Augen könnten einen Mann bis in alle Ewigkeit gefangen halten. Sie scheinen einen bis auf ihre Seele blicken zu lassen, nur um dort unten ein Abbild seiner selbst zu finden. Das Wort „Wunderschön“ scheint schon fast blasphemisch, wenn man diese Iris beschreiben will.
Ich war wirklich überglücklich. Sie redete; sie redete bestimmt schon seit fünfzehn Minuten, doch ich hörte ihr nicht zu. Wahrscheinlich spracht sie gerade über Äquivalenzumformungen oder ähnlichen Schnickschnack. Ihre Stimme kam Engelsgesang so nahe, dass sie mir das Grundgesetz vorlesen könnte, und ich läge ihr trotzdem zu Füßen. Hauptsache, sie redet mit mir, spricht mich an, sagt meinen Namen.
„Phil?“
Ja, genau so.
„Phillip? Hörst Du mir zu?“
Nur mit Mühe schaffte ich es, meinen verträumten Blick von ihren weinroten Lippen wegzureißen und ein verwirrtes „Äh, was?“ zu stammeln.
„Ich sagte: kannst Du diese Gleichung lösen?“
Ich war sofort auf den Beinen. Nicht, dass ich etwa dazu in der Lage wäre, schließlich sitze ich nicht umsonst hier und bekomme Nachhilfe, aber ihr zu widersprechen, Sophie einen Wunsch abzuschlagen, käme einem Akt der Selbstverstümmelung gleich. Ich sprang wie vom Blitz getroffen auf, nahm ein Stück Kreide auf, setzte es an und versuchte zu denken.
Seit ich eingeschult wurde, habe ich das Gefühl von Kreide an den Fingern gehasst, dieser mehlige Staub, der überall klebt, nur nicht da, wo er soll, und sich in der Luft festsetzt, bis man fast das Gefühl hat, nur noch Kreidestaub zu atmen. Ich hatte nie gewusst, was ich schreiben sollte. Ich hatte immer hier vorne gestanden, wo ich jetzt stand, und trocken geschluckt, weil ich wusste, was gleich kommt. Das Gelächter der Schüler hinter meinem Rücken, das resignierende Seufzen der Lehrerin. Man sollte meinen, mit 16 hätte man diese Angst überwunden, aber nicht ich. Schulisch gesehen war ich ein Versager. Was heißt schulisch? Ich bin durch und durch ein Versager, allein der Gedanke an Sophie müsste mir...
„Nur Mut, du schaffst das!“
Sophies Stimme riss mich wieder in die Gegenwart zurück. Richtig, sie hat recht. Für sie schaffe ich das! Ich würde diese Gleichung lösen, die Klausur gut schreiben und sie dann zum Dank zum Essen einladen. X auf die andere Seite, plus quadratische Ergänzung, wäre dann Wurzel aus zwei. Sie wird sagen, dass sie meine Gefühle erwidert, und wir werden uns lange und leidenschaftlich küssen. Das ganze dann in die binomische Formel, Wurzel ziehen, dann wäre X gleich...2,4535? Konnte wohl nicht ganz stimmen. Ich nahm einen Schritt abstand, um mir die ganze Gleichung noch einmal zu betrachten, doch vergebens.
Ich drehte mich um, um Sophie zu fragen, was ich falsch gemacht hatte und streifte mit meiner rechten Hand ihre Brust. Ich zuckte zurück, als hätte ich mir die Hand verbrannt, stolperte, strauchelte und fand gerade noch Halt auf dem Lehrerpult. Sie stand wohl näher hinter mir, als ich erwartet hätte.
„Ich, ähm, du, und“.
Ein ungewolltes trockenes Schlucken unterbrach meine gestammelte Ausrede. Sophie kicherte. Lachte sie mich aus? Mich an? Über mich? Mit mir? Egal, der Klang alleine reichte schon aus, um mich auf Wolken fliegen zu lassen.
Sie warf mir einen schelmischen Blick zu, den ich bis in die Magengrube spüren konnte.
„Du wirst es wohl nie schaffen, hm?“
Und wieder dieses Lächeln, das Eis schmelzen könnte.
„W-Was schaffen?“
Ich hing dem Gedanken nach, dass mein Kopf wohl platzen müsse, wenn ich noch mehr erröten würde.
„Mich zu fragen“, antwortete sie. Bevor ich nachharken konnte, was sie damit sagen wollte, legte sie mir eine Hand auf die Brust und drückte mich mit sanfter Gewalt nach unten, auf das Pult.
„Sophie, ich...“ Ich was? Ich will das nicht? Komm schon Junge, hör auf. Ich fühlte meinen Herzschlag in den Ohren rasen, schneller als eigentlich gesund wäre. Ein Traum! Klar, ich träume, gleich wach ich auf und muss in die Schule. Nein, das war kein Traum. Sophies Ohrringe verursachten ein klimperndes Geräusch, als sie sich die roten Haare aus dem Gesicht strich und sich über mich beugte.
Ich hatte das Gefühl, meine Sinne müssten explodieren, ich roch den Duft ihrer Haare, spürte ihr sanftes Gewicht auf meiner Brust, hörte ihren regelmäßigen Atem. Im Gegensatz zu meinem, den ich längst nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ich hechelte schon mehr, als das ich atmete. Das war zu viel auf einmal.
„Entspann dich“, hauchte sie, und sie war mir so nah, dass ich ihren Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. Ich sollte in der Hölle braten, wenn ich diesen Tag jemals vergessen sollte.
Und dann küsste sie mich. Sie legte ihre Lippen auf meine, weich und voll. Ich riss die Augen auf und machte einen unterdrückten Laut, doch sie schloss nur die Lider und verlagerte ihr Gewicht auf meine Arme. Warum zum Henker wehre ich mich eigentlich? Mein Kopf schlug auf das Pult, als ich mich entspannte und mich ihr hingab. Sophie setze die Lippen kurz ab und küsste mich noch mal. Diesmal war alle Zärtlichkeit und jedes Zögern verflogen, wild und animalisch presste sie ihren Mund auf meinen. Das war endgültig zuviel. Jeglicher Verstand und jahrelang aufgestaute Schüchtern- und Verlegenheit waren mit einem Mal vergessen, hinfort gespült von einer Welle aus Leidenschaft und Verlangen. Letztendlich ist ein Verlierer auch nur ein Mann.
Ich schlang meine Beine um ihre Hüfte, fuhr mit einer Hand über ihren Rücken, während die andere durch ihre Haar strich, ihr vollkommenes, seidenes Haar, als ob ich sie dadurch dazu anhalten könnte, mir noch näher zu sein. Sie stieß einen Laut aus, ich wusste nicht, ob es Widerwillen oder Erregung war, bis sie ihre Lippen öffnete und mit ihrer Zunge über meine Unterlippe strich.
Mein Wunsch war wahr geworden! Ich riss den Mund förmlich auf und verkrampfte mich, als ihre Zunge meine berührte. Es war der Himmel für mich. Sie führte das ganze fast als eine Art Wettkampf aus, sobald ich mich etwas weiter vor traute, kam sie mir zuvor, streichelte über meinen Gaumen oder meine Zähne, bis ich mich wieder ein Stück zurückzog. Unsere Zungen umspielten sich wie zwei Tänzer beim Tango, gelegentlich trafen sie sich, nur damit sie die Berührung kurz darauf wieder beendete. Ich würde ihren Geschmack nie mehr vergessen, er übertraf alles, was ich in meinem bisherigen Leben erlebt oder gefühlt hatte und ließ mich mit dem Wunsch zurück, für immer in dieser Umarmung leben zu können, für immer ihren Körper an meinem spüren zu können.
Ich weiss nicht wie lange wir dort lagen und uns stumm küssten. Es kam mir viel zu kurz vor, als sie ihre Lippen wieder schloss, die Augen öffnete und sich hochstemmte. Sie warf mir wieder einen ihrer Blicke zu und die Tasche über die Schulter und ließ mich allen ernstes hier zurück mit den Worten:
„Na, ich hoffe mal, du versaust die Klausur morgen nicht. Bye!“ Ich lag noch eine ganze Weile schnaufend auf dem Tisch und ließ das Erlebte noch einmal Revue passieren. Dieser Tag sollte mein Leben ändern. Ich wollte kein Verlierer mehr sein!
Doch für’s Erste blieb ich hier liegen, zumindest solange, bis ich wieder in der Lage war, ohne Probleme zu gehen...

~Fin~

-Jörn C. Meyer, 12.12.2002

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Jörn Meyer).
Der Beitrag wurde von Jörn Meyer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.03.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Jörn Meyer als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Heike und die Elfe von Ingrid Hanßen



Da ich der Meinung bin, dass die Kinder heute viel zu wenig lesen ( sehe ich bei meinen 11 und 13 ), habe ich mir Gedanken gemacht, was man machen könnte um dieses zu ändern.

Es ist nämlich nicht so, dass die Kinder lesen grundsätzlich "doof" finden, sondern, dass die bisherigen Bücher ihnen zu langweilig sind. Es ist ihnen in der Regel zu wenig Abwechslung und Aktion drin und ihnen fehlt heute leider die Ausdauer für einen reinen "trockenen" Lesestoff.

Daher habe ich mir überlegt, wie ein Buch aussehen könnte, das gleichzeitig unterhält, spannend ist, Wissen vermittelt und mit dem die Kinder sich beschäftigen können.

Herausgekommen ist dabei ein kombiniertes Vorlese-, Lese-, Mal- und Sachbuch für Kinder ab 5 Jahren bis ca. 12 Jahren.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Romantisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Jörn Meyer

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Flug des Phönix von Jörn Meyer (Skurriles)
Ein bisschen Liebe von Klaus-D. Heid (Romantisches)
Das Kind und "der liebe Gott" (kein religiöses Werk!) von Alina Jeremin (Trauriges / Verzweiflung)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen