Ewald Frankenberg

Öffnet die Tür (Teil4)

                                                   ***

Er öffnet die Tür, nachdem er sich noch einmal versichert hat,
dass alle Kerzen brennen. Die Kinder brennen vor Neugier auf
ihre Geschenke. Der Älteste knallt seine Jacke in die Ecke und
versucht sich am Vater vorbei zu drängen, hinein in die gute Stube.

     „Stopp! Erst die Jacke vernünftig weggehängt und dann alle
zusammen!“ Mürrisches Nörgeln als Antwort, dann sammelt sich
die Familie vor der Tür. Vater versucht, eine gewisse Andacht
zu erzeugen, was wie jedes Jahr hervorragend misslingt. Dann die
Tür auf: gemächlichen Schrittes folgt die Familie ihrem Oberhaupt.

     „Ohh!“
        „Ahh!“

Vater stimmt feierlich in die Weihnachtsplatte ein „Ihr Kinderlein
kommet ...“, während der Älteste „da sind die Geschenke“ die
Rasselbande zum Baum treibt.

Vater steht andächtig, richtet das Wort an seine Kinder: „Seht Ihr
denn gar nicht den tollen Baum, den hab ich gestern noch...“ Mutter
hakt sich bei ihm unter, bringt ihn mit einem lächelnden „Frohe
Weihnachten“ zum Verstummen. Na ja, Kinder halt.

Die Kamera! Um Himmels Willen! Er greift sich das Ding, kontrolliert
Einstellung, Blitzlicht, zielt und knipst – das enttäuschte Gesicht
seines Ältesten: „Aber Papa, ich wollte doch...“ Keine Zeit, das nächste
Bild, der Kleine reißt jubelnd einen Arm hoch, als er das Videospiel entdeckt.

Ja, Weihnachten ist doch was feines, besonders für die Kleinen. Einmal
im Jahr wenigstens kann man seine Kinder so richtig glücklich machen.

                                                    ***

Er öffnet den Kindern die Tür, gibt ihnen den Weg frei in den Flur
seiner mittelprächtigen Vorstadt-Villa, etwa zehn Taximinuten von
ihrem Friedhof entfernt, und es war ein verdammt schnelles Taxi.

Und es sind nette Menschen, immer wieder geben sie sich Gelegenheit,
lauthals loszulachen. Die beiden stehen ihrem Glück noch etwas skeptisch
gegenüber, denken noch mal an Pater Alonso, aber wenn sie nicht
erscheinen, bleibt für die anderen um so mehr, und was die Geschichten
angeht, Spaß haben kann man mit diesen Menschen sicherlich auch.

Im Flur steht ein kleiner künstlicher Weihnachtsbaum mit bunten
elektrischen Kerzen.

     „Das ist zwar der reine Kitsch, aber meine Frau findet das ganz toll.
Und, um ehrlich zu sein“, lacht einer der Männer, „ich denke, auch ich
möchte irgendwo nicht darauf verzichten, da werden Erinnerungen wach
an eine glückliche Kindheit.“

Ein Stoß in die Rippen lässt ihn kurz verstummen, aber gleich darauf
bemerkt er: „Ich hab es sicherlich besser gehabt als Ihr armen Würmer,
aber so unglücklich seht Ihr eigentlich auch nicht aus. Ach, und ich denke,
wir werden sicherlich auch noch einigen Spaß zusammen haben“ lacht
er jetzt wieder.

Die Gesellschaft findet sich im Keller wieder, einem großen Raum mit
gemütlich breitem Plüschsofa und dazu passenden Sesseln. In der Ecke
eine Theke, darauf eine Puppe, eine einfache Puppe, der man einen
Rauschebart und einen roten Umhang umgehängt hat. Witzig. Und der
ganze Raum, über und über mit elektrischen Kerzen und Sternen.
Äußerst weihnachtlich, möchte man meinen, um es nicht total verkitscht
zu nennen.

Auch die Kinder bekommen ein Glas Sekt eingeschenkt. Franciana lehnt ab.

     „Aach, komm“ kriegt sie zu hören, „Du hast wohl noch nie probiert. Aber
wann gibt es eine bessere Gelegenheit als zu Weihnachten.“

Jetzt lehnt auch Hernan ab.

     „Ach, lass sie doch“, wirft eine der Frauen ein und geht einen Fruchtsaft
holen. Man redet über Weihnachten, über Schenken, auch über Pater Alonso,
dass das ja okay ist, was er tut, und dass man ihm bei Gelegenheit ja
vielleicht auch einmal eine Spende zukommen lassen könnte.

     „Ich habe mir dieses Jahr zu Weihnachten einen alten Traum erfüllt und
ein Motorrad gekauft. Ach ja, meiner Frau hab ich eine Videokamera geschenkt,
die hält so gerne alles als Erinnerung fest. Ein ganzes Regal voll mit Fotoalben
haben wir bereits. Jetzt wird wohl noch eines mit Videotapes dazukommen.
Hol doch mal her das Ding, Du kannst doch schon so toll damit umgehen.“

Sie geht zum Gabentisch, kommt, die Kamera vorm Auge, zurück. Der Rest
des Tages wird wohl verewigt werden.

     „Ich hoffe, Ihr seid glücklich. Es gibt nichts Schöneres als strahlende
Kinder. Und gerade zu Weihnachten, das ja das Fest der Freude ist. Da
sollte man nicht nur ausschließlich an Familie und Freunde denken, sondern
auch einmal an die Ärmsten der Armen!“ spricht er.

     „Und vor allen anderen sollte man die Kinder beglücken“ wendet er sich
Franciana zu und öffnet mit diabolischem Grinsen seine Hose.

                                                           ***

Die Gesellschaft ist bester Laune. Die Sektgläser klirren, als man sich
zuprostet. Die Videokamera ruht mitten auf dem Tisch. Die Männer geben
deftige Scherze zum Besten: „Hast Du gesehen, was die Kleine...“ quittiert
von glockenhellem Frauenlachen.

     „Aber wie der Junge sich aufspielte...!“

Alles lacht in Erinnerung an die Vorstellung, die sie sich selbst beschert haben.

     „Das ist ein tolles Video geworden. Ich denke, an diesem Weihnachtsgeschenk
werden wir noch viel Freude haben.“

Franciana und Hernan hocken, leise wimmernd, engumschlungen, in der Ecke
hinter dem Sofa, die Augen geschlossen hinter dem Druck der Blutergüsse,
die die Lider haben anschwellen lassen.

     „Was machen wir jetzt mit den Kids? Behalten wir sie noch ein wenig?“

       „Schau sie Dir doch mal an, wie die zustehen, absolut unästhetisch, so
will die doch keiner mehr sehen, nee, die sind nicht mehr zu gebrauchen, die
können weg.“

     „Eigentlich schade drum, sie war solch ein süßes Objekt.“

Die Männer greifen die Kinder, die sich krampfhaft aneinander krallen,
aber nicht mehr die Kraft zur Gegenwehr haben, und schleifen sie aus dem
Raum. Die Frauen hören noch, wie die schwere Heizungstür ins Schloss fällt
und die Kinder zu lautem Wehgeschrei ansetzen. Dann hallt dumpf ein
Schuss durchs Haus und Franciana ist für immer still, während Hernan zu
einem letzten hysterischen Schrei ansetzt.

                                                         ***

Hysterisch tut der Junge seinen ersten Schrei in seinen schwarzen Händen.
Blutiger Schleim von der Haut des Neugeborenen klebt an seinen Fingern.

     „Ja, schrei nur, das macht Dich auch ein wenig warm“ spricht er liebend
auf das Kind ein, während er seinen Mantel auszieht, ihn auf dem Boden
zusammenfaltet und das Kind darin einschlägt.

Jetzt wendet er sich der Mutter zu, die in eine schützende Ohnmacht gehüllt
zwischen die Sitze sank, nachdem er ihr das Kind aus den Händen genommen
hatte. Er kontrolliert Puls und Atem und ist mit ihrem Zustand unter diesen
Umständen mehr als zufrieden.

Sein Denken gilt fortan ihrer aller Sicherheit, die Platzwunde über seiner
linken Augenbraue, von der es unaufhörlich auf seinen Pullover tropft,
beachtet er nicht, das ist jetzt nicht wichtig.

Auf den Knien krabbelnd zerrt er keuchend die Frau aus dem Gang zwischen
die Sitze, bringt sie in eine Seitenlage und schiebt sie unter den Sitz, so
dass sie von draußen nicht mehr zu sehen ist. Das Bündel mit dem nur noch
leise wimmernden Neugeborenen schiebt er dazu.

Was war er doch überrascht, sie hier zu finden und erschrocken über die
Szene, die sich ihm bot, als er nach panischer Flucht quer über den
Güterbahnhof, hindurch zwischen abgestellten Waggons, die Meute der
zehn Jugendlichen immer hinter sich wissend, die Tür zum hier auf seinen
nächsten Einsatz wartenden Hänger eines Nahverkehrszuges aufriss, um
sich zu verbergen.

Sie kniete, gerade entbunden, den glitschigen Fleischbrocken zwischen den
Knien, mitten im Gang und durchtrennte eben die Nabelschnur mit den
Zähnen. Er riss die Tür hinter sich ins Schloss und sprang ihr helfend bei.
Es zuckte leicht in ihren Mundwinkeln, als er das Baby an sich nahm und zum
Schreien brachte. Ein Lächeln? Dann sank sie nieder.

Wo waren seine Verfolger, die ihm an den Fersen hingen, seit sie ihm vorm
Sozialamt gegenübertraten. Etwa zehn reifere Jugendliche, nicht nur in
Bomberjacken, nicht nur mit kurzen Haaren, attackierten ihn, schlugen ihm
die Beine weg, dass er lang zu Boden schlug und knüppelten mit ihren
Baseballschlägern auf ihn ein, trafen ihn hart im Leib, am Kopf.

Erinnerungen wurden wach, an seine Heimat, als er vor einem Jahr bei der
Weihnachtsfeier im Festsaal der medizinischen Universität vor den Eltern
privilegierter Kinder in einer flammenden Rede den Appell an sie richtete,
etwas gegen die Unterdrückung eines Großteils der Bevölkerung zu
unternehmen. Gläser, schwere Aschenbecher und abgebrochene Flaschen
prasselten auf dem Podium nieder. Unter Polizeischutz musste er die Bühne
verlassen. Zu seiner eigenen Sicherheit nahmen sie ihn in Schutzhaft, um ihn
davor zu schützen, weiterhin öffentlich seine aufrührerischen Thesen zu
verbreiten. Als unterstützende Maßnahme setzten sie Schläge und
Elektroschocks ein, um ihn nach massiven Interventionen von außen etwa ein
Dreivierteljahr später des Landes zu verweisen.

Man setzte ihn in ein Flugzeug der Lufthansa, und nun prasselten hier die
Schläge auf ihn nieder.

Irgendwie gelang es ihm, auf die Beine zu kommen und sich aus dem Knäuel
zu befreien, um in wilder Flucht durch Straßen, Gassen und Büsche irgendwann
auf dem Güterbahnhof zu landen, wo keine Menschenseele zu sehen war, die
ihm hätte helfen können. Ab Mittag war Feiertag.

Was würde geschehen, wenn sie ihn hier fänden?

Was würden sie dem Kind antun, der Frau?

Dumpf hört er von weiter her das Gejohle der Meute, die mit ihren
Baseballschlägern die stehenden Waggons abtrommelten, um ihn aufzuschrecken
und wie ein Kaninchen weiterzujagen, hinaus aus diesem Land.

                                                       ***

Ich öffne die Tür, die vierundzwanzigste, eine große, zweiflügelige Klappe.
Heute ist der Heilige Abend und besondere Tage werden mit einem besonderen,
einem extra großen Stück Schokolade im letzten Feld des Kalenders begangen.
Genießerisch schiebe ich mir die stilisierte Schokoladenkrippe in den Mund.
Feiern tue ich schon lange Jahre nicht mehr. Weihnachten ist kein Grund zum
Feiern. Ich freue mich auf einen ruhigen Abend mit der Frau, die ich liebe und
zur Feier des Tages auch einmal auf eine ganz besondere Flasche Wein. Und dann
freue ich mich auf die Schlemmerei am ersten Weihnachtstag mit Wein, mit Bier
und abends mit Herman.(*)

Ein Lächeln umspielt meinen Mund, als wieder einmal Kindheitserinnerungen
Revue passieren: wie war das noch, wenn wir Zank hatten – das Christkind
klopfte einmal heftig und gleich herrschte Frieden.

                                                                                                 copyright: Ewald Frankenberg

(*) Damals spielte Herman Brood jedes Jahr zu Weihnachten ein Konzert im Hyde Park,
so hatten denn auch wir Weihnachtsverweigerer unsere festen Weihnachtsverweigererrituale.

Und heute: Mama freut sich immer (nicht nur zu Weihnachten) wenn sie ihre Lieben um sich hat.
Und ich kann durch die Winterstimmung mit langen Abenden mit schummriger Beleuchtung in
wohliger Wärme in melancholische Stimmung geraten ohne darin jetzt eine Verbindung mit
Weihnachten hineinzudeuten.

Das Fest des Friedens? Nein, dazu herrscht darum herum viel zu viel Krieg, nicht nur an den
Ladentheken.

Ich wünsche euch einen schönen Winter, auch einen besinnlichen. Die Welt wird sich nur ändern, 
wenn jeder einzelne für sich einen Weg findet und ihn nicht nur zu Weihnachten geht.

                                                                                                                       Ewald

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.12.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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