Julia Zipp

Auf der Suche nach Perspektive




Ich mag Nähe. Obwohl ich mich lange geweigert habe, das einzusehen.
Gelegentlich mag ich klassische Musik und verbale Brutalität, um zu schockieren. Um mir die Leute vom Hals zu halten, die mir auf die Nerven gehen. Die Karrieregeilen und Phantasielosen.
Ich mag symbollastige Filme und die Unvollkommenheit alter Sience- Fiction Movies. Das Kratzen von Schallplattenmusik und naturalistische französische Literatur. Beschwingten, aufrechten Gang. Und das Herbe in bestimmten Männergesichtern ist anbetungswürdig.

Unsympatisch ist mir die Hetze unserer Zeit. Schneller, höher, weiter. Wir schießen über das Ziel hinaus. Ich dachte immer, Intellekt hätte viel mit Weisheit zu tun. Hat er nicht. Intellekt ist vor allem elitär, abgehoben und Konstrukt einer Schicht, die am Erhalt ihrer Privilegien interessiert ist.
Die Moderne ist unbarmherzig und selektiv. Meine akademischen Fähigkeiten hätten mir längst einen festen Platz in diesem Gefüge verschafft. Was soll ich damit?

Ich liebe es, frischgeduschte Haut zu berühren. Die Hände in Acrylfarbe zu tauchen, so wie sich vielleicht ein Mörder am Blut seines Opfers berauscht. Ich liebe die rotfarbene, stetige Spannung zwischen Mann und Frau, ein sinnliches Krapprot mit einem Hauch von Gefahr. Ich weiß, unter der viellagigen Schicht aus Bildung und Ratio bin ich ein primitiver Sinnenmensch, der nach nichts anderem als der Befriedigung seiner Triebe strebt. Das gefällt mir. Dazu stehe ich. Deswegen male ich in letzter Zeit lieber, als in der Unibibliothek zu sitzen.

Ein Bekannter rief neulich mal wieder an. Und zum ersten Mal sprach er genau so zu mir wie einige der Nervensägen aus Soziologie. Wie schrecklich anspruchslos ich geworden sei. Daß man doch nur ein Mensch mit Niveau sei, wenn man sich den ganzen Tag den Kopf über diese schreckliche Welt zerbricht. Naja. Ich habe da so meine Methode, auf diverse Vorwürfe oder gelegentlich sogar Mitleid(!) zu reagieren, wenn verschiedene Erklärungen nur auf Unverständnis stoßen.
„Soll ich dir mein Geheimnis verraten?“ frage ich todernst in den Telephonhörer. Gespanntes Warten am anderen Ende. „Beim Malen und sowieso während des ganzen Tages denke ich nur noch an Sex. Was glaubst du, wie absolut phantastisch ich mich dabei fühle.“ Ein verwirrtes „wie bitte“ kommt von ihm. „Es ist, wie ich es sage: Ich denke nur noch an Sex und werde demnächst Mitglied einer tantrischen Meditationsrunde werden. Nicht aus Spiritualitätät, sondern weil ich dort die besten Möglichkeiten habe, mich sexuell abzureagieren.“ Das war dann das vorläufige Ende des Gesprächs.

In Soziologie läuft es etwas anders. Dort muß man sich zwischen den Vorlesungen meistens über berufliche Zukunftsaussichten unterhalten. Ich habe mir jetzt schon so oft anhören müssen, daß es ein Unding sei, aus persönlichem Interesse zu studieren(obwohl ich schon tausendmal erklärt habe, daß ich lieber ein erhöhtes Risiko der Arbeitslosigkeit in Kauf nehme als für den Rest meines Lebens in einem Beruf zu stecken, der mir überhaupt keinen Spaß macht), daß ich mir für besonders Hartnäckige eine passende Antwort konstruiert habe: „Also, ich muß innerhalb der nächsten drei Jahre im Rahmen meines Studiums mindestens einmal nach Indien reisen. Ich gehe fest davon aus, daß mich eine pakistanische Extremistengruppe entführt und dann umbringt. Aus diesem Grund ist es doch völlig sinnlos, mir jetzt Sorgen um einen Arbeitsplatz zu machen.“ Oder: „Schon von Kindesbeinen an habe ich mir gewünscht, Haremsfrau zu werden. Wenn es noch irgendwo in Indien einen Raja geben sollte, der sich einen Harem hält, so bin ich auf jeden Fall dafür zu haben. Warum also sollte ich mir Sorgen um die Zukunft machen?“
Das Seltsame daran ist, daß mir das tatsächlich schon Leute abgekauft haben. Es geht mir wirklich nicht darum, jemanden vor den Kopf zu stoßen oder mich gar über ihn zu stellen. Vielleicht will ich versuchen, ein wenig Schwung in diesen krampfhaften Anspruch zu bringen. Und vielleicht aber auch, meine Verärgerung über die Forderung zu zeigen, etwas intuitiv Gewähltes ständig rechtfertigen zu sollen.

Was will ich jetzt eigentlich genau sagen? Gute Frage. Ich glaube, ich wollte nur klarstellen, daß ich primitiv bin. Ja genau. Und daß es mein Ziel ist, den Grad meiner Primitivität noch zu steigern. Man sieht: Ich bin ein Mensch mit Perspektive.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.03.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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