Wolfgang Scholmanns

Es ist nichts passiert



„Früh um sechs ist die Welt noch in Ordnung.“, höre ich einen alten Mann sagen, der Mühe hat ein kleines Wägelchen zu ziehen. Ein Zeitungsbote, und das mit bestimmt mehr als siebzig Jahren auf dem Buckel. Muss wohl seine Rente aufstocken, der Arme. Eine selbstgestrickte Wollmütze trägt er auf dem Kopf, die auf einer Seite ein Loch von der Größe einer Zweieuromünze hat. Die Hose sowie die Jacke sind alt und verschlissen. Der graue Schal hat wohl auch schon bessere Tage gesehen. Von den Fransen, sind an einem Ende zwei und an dem anderen noch eine zu erkennen. Auch seine Schuhe sind alt, abgetragen und ungeputzt.

„Was siehst Du mich so an?“, fragt er mich. „Das sind doch wohl nicht Deine Klamotten, die ich anhabe, was? Hab sie im letzten Jahr aus der Kleiderkammer beim Roten Kreuz bekommen. Sind nicht mehr die Besten, aber erfüllen ihren Zweck. Strenge Winter kennt man hier ja gar nicht. Ein paar frostige Nächte, ein bisschen Schnee und dann, Matsche. Na, was ist nun? In Büchern kann ich lesen, in Gedanken leider nicht.“

Ich klopfe ihm auf die Schulter und verabschiede mich.

„Finde ich toll, dass sie noch so rüstig sind.“

Er marschiert weiter, pfeift irgendein altes Wanderlied. Die Kleiderkammer vom Roten Kreuz, ja die gibt es Gott sei Dank. Könnte auch mal Ordnung in meinem Kleiderschrank schaffen und so einiges aussortieren. Manch einer freut sich bestimmt über ein gut erhaltenes Kleidungsstück. Muss ja nicht immer modern sein. Wie sagte der Alte noch, den Zweck erfüllen müssen sie. Schüler oder Auszubildende stehen an der Bushaltestelle, einige von ihnen Zigaretten qualmend.

„Scheiß Ausbilder“, höre ich einen Jugendlichen sagen. „Hat der mir doch gestern schon wieder eine Fünf verpasst. Der kann mich nicht leiden, hackt immer auf mir herum.“

„Hau ihm aufs Maul, wenn er Dich blöd anmacht“, mischt sich ein anderer mit kahlgeschorenem Kopf ein. „Solche Leute brauchen das. Etwas auf die Fresse und schon ist dieser Typ wie umgewandelt. Darf natürlich keiner mitkriegen, sonst fliegst Du raus. Irgendwo in einer stillen Ecke und dann ….“ – er macht ein paar Faustschläge in die Luft -.

„Nee, mit schlagen hab ich es nicht so, ist mir zu primitiv.“
 
„Und das was der mit Dir macht, ist das nicht primitiv?“
 
Der Bus kommt. Beim Einsteigen rutsche ich auf einer Stufe aus und verliere meine Brille. Zwei der Jugendlichen helfen mir beim Aufstehen, eine junge Frau reicht mir meine Brille. Sie stützt mich, nimmt dann neben mir auf den vorderen Sitzbänken Platz.
„Haben Sie sich verletzt?“, fragt der Busfahrer. „Ist schon okay, nichts passiert.“
Ich ärgere mich über meine blöde Antwort. Nichts passiert, stimmt doch gar nicht. Ich war gestürzt und zwei nette junge Männer, wohl südländischer Abstammung, hatten mir sofort geholfen. Auch die junge Frau, die meine Brille, die bei dem Sturz zu Boden gefallen war, aufgehoben hatte, scheint Türkin oder so zu sein. Sie trägt ein Kopftuch, ist sonst modisch gekleidet. Ein hübsches Gesicht hat sie. Zwei Haltestellen weiter steigt sie aus.
„Auf Wiedersehen und einen schönen Tag noch.“, sagt sie.
Ich bedanke mich herzlich und wünsche ihr alles Gute. Eine alte Dame steigt zu. Sie bleibt vorne stehen, hält sich an einer Stange fest. Obwohl mein Knie schmerzt, stehe ich auf und biete ihr meinen Platz an.
„Nee, nee, mein Junge, lass mal gut sein. Ich kann noch ganz gut stehen, bin doch keine Tattergreisin. Mit dreiundachtzig erledige ich noch alles alleine. Da kann sich mancher Schnösel ein Beispiel dran nehmen. Nur nie hängen lassen und dem neuen Tag entgegen gehen. Muss schon wieder aussteigen. Meine Enkelin ist krank und meine Tochter muss gleich zur Arbeit. Ich passe auf die Kleine auf, Tschüss.“
„Ich muss auch hier aussteigen.“, sage ich noch, aber die Oma ist schon verschwunden. Ganz schön flott, die alte Dame, alle Achtung. Nach fünf Minuten Fußweg erreiche ich meine Arbeitsstelle. Sture Gesichter, die sich, wenn überhaupt ein „Guten Morgen „ herauszwingen. Der Chef hat von einem Morgengruß auch noch nichts gehört.
„Wie sieht denn Ihre Hose aus, sind Sie gestürzt? Na ja, kann so schlimm wohl nicht sein, Sie laufen ja noch ganz ordentlich. Krankfeiern wäre jetzt sowieso nicht drin, wir sind mitten im Weihnachtsgeschäft und benötigen jeden Mann beziehungsweise jede Frau. Also, sehen Sie zu, dass der Fleck aus Ihrer Hose kommt und machen Sie sich an die Arbeit.“
Ich bleibe ruhig, lächele ihn an.
„Es wäre nett, wenn Sie oder einer der Kollegen mich zum Krankenhaus fahren würden. Es ist wohl besser wenn ich mein Knie röntgen lasse. Nicht, dass ich da noch irgendetwas verschleppe und hinterher für lange Zeit ausfalle. Wie sagen Sie doch immer so schön: - Auf die Gesundheit achten und dem Betrieb mit ganzer Kraft zur Verfügung stehen. – "
Ein Morgen auf dem Weg zur Arbeitsstelle – es ist nichts passiert.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.12.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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