Helmut Wurm

Reflexionen des Sokrates zu komischen Lehrertypen

Der Leiter einer großen Gesamtschule mit praktisch allen Schul-Abteilungen/Schulzweigen von der Sonderschule bis zum Gymnasium hat Sokrates eingeladen, an einer Anhörung von Eltern, Schülern und Kollegen zu den Beschwerden über einige durch Absonderheiten auffallende Lehrer teilzunehmen. Er würde auf sein eventuelles Urteil und seinen Rat Wert legen. 

Als Vorgeschichte und Erklärung für das Folgende muss man erwähnen, dass früher von den Lehrern ein allgemeines gewisses anspruchsvolles äußeres Aussehen, Auftreten und Verhalten erwartet und verlangt wurde. Dazu gehörte auch, dass die Lehrer am Schulstandort oder zumindest im Einzugsbereich ihrer Schule wohnen mussten. Eine solche Residenzpflicht, wie diese Vorschrift hieß, hatte den Sinn, dass die Lehrer auch das Umfeld ihrer Schüler kennen lernen und dass sie andererseits den Eltern bekannt sein sollten. Die Lehrer sollten damals noch Respektpersonen im nötigen Umfang für die Erziehung der Jugendlichen sein und nicht ältere „Schüler-Kumpel“, denn die Lehrer erzogen noch die Schüler und vermittelten nicht nur „Kompetenzen“, wie es heute so schwammig heißt.

Dann kamen die Zeiten, in denen als Gegenbewegung zur übertriebenen Ordnung und Disziplin der NS-Zeit in Deutschland diejenigen Kräfte, die eine möglichst totale allgemeine Lässigkeit und Freizügigkeit forderten, mit Lärm und Aggressivität auf den Straßen ihre gesellschaftlichen Gegenvorstellungen durchzusetzen versuchten. Als ihnen das nicht gelang, beschlossen sie den „langen Marsch“ durch die Institutionen“, d.h. sie wollten im Staatsdienst hauptsächlich als Lehrer, aber auch als Wissenschaftler aufsteigen und dann von diesen Positionen aus per Erlasse und Dekrete die Gesellschaft und die allgemeinen Normen ändern. Und das ist ihnen auch zu einem Teil gelungen.

So kam es, dass allmählich immer mehr Änderungen, besser müsste es heißen Lockerungen und Aufweichungen, in den geforderten Lehrerpersönlichkeiten und Lehrerverhaltensformen eintraten. Auch die Residenzpflicht wurde aufgehoben. Der Lehrer kann also nach Unterrichts-ende den Einzugsbereich seiner Schule verlassen und unbeobachtet von Eltern und Schülern ein zweites privates Leben beginnen, oft ganz anders als das dienstliche Leben.

Bezüglich des Auftretens der Lehrer wurde die Gewichtung in diejenige Richtung verschoben, dass die Schüler nun nicht mehr mit den Lehrern zurecht kommen müssen, sondern dass der Lehrer mit den Schülern zurecht kommen muss. Das heißt in der Praxis, dass der Lehrer sich so verhalten muss wie ein moderner Politiker, der mit seinem Programm, Auftreten und Public-Relation-Merkmalen in der öffentlichen Beliebtheit punktet. Dazu gehört, dass der moderne Lehrer um die Gunst der Schüler buhlen muss, dass er prüfen muss, ab welchen Anforderungs-ebenen er seinen Schülern „unlieb“ wird usw.

Und konsequent daraus resultierend darf ein Lehrer äußerlich immer mehr so auftreten, wie es ihm gefällt, wie er noch akzeptiert wird und wie ein Teil seiner Schüler selbst auftritt. D.h. es sind jetzt ungepflegte lange Bärte und Haare, ausgefranste Hosen, alte Pullis und zerlaufene Schuhe und geringe Sauberkeit möglich... Hauptsache, der Lehrer kommt mit den Schülern zurecht bzw. die Schulverwaltung hat mit ihm keinen Ärger, der lästige Fahrten zu den teil-weise weiter entfernten Schulstandorten nötig macht. 

Glückerweise treffen solche Tendenzen in vielen Schulverwaltungen auf keine Toleranz und kommen nicht an allen Schulen in Deutschland vor, aber leider zunehmend in Ballungsgebieten und an großen Gesamtschulen – und auch an derjenigen Schule, dessen Leiter Sokrates zu einem Beobachtungsbesuch eingeladen hat. Denn glücklicherweise sind nicht alle Eltern und Schüler bezüglich solcher Tendenzen tolerant, es gibt immer wieder Eltern und Schüler/Schülerinnen, die mehr Ansprüche von den Lehrern erwarten und die sich notfalls beschweren. Und es gibt glücklicherweise auch viele Schulleiter, die solche Tendenzen nicht unterstützen. Ein solcher Fall liegt hier an dieser Gesamtschule vor.

Sokrates wird in einen kleineren Konferenzraum geführt. Dort sitzen bereits eine Gruppe von Eltern und Schüler, 4 äußerlich sofort etwas auffällige Lehrer, ein Personalratvertreter und der Schulleiter. Sokrates nimmt neben dem Schulleiter Platz. Dieser eröffnet die Beschwerde-Sitzung.

Der Schulleiter: Ich habe zu einem mir wenig angenehmen Gespräch eingeladen. Schon mehrfach haben sich bei mir Eltern und Schüler über einige Lehrer an dieser Schule beschwert, wobei es sich nicht nur um den Unterricht als solchen, sondern auch um das Äußere und das Auftreten dieser Lehrer handelt. Ich habe nun heute eine Gruppe von Eltern und Schülern als Vertreter dieser Unzufriedenen und die betreffenden Lehrer eingeladen. Ich darf kurz deren Beschwerden gebündelt vortragen:

 - Zuerst einmal wird das äußere Erscheinungsbild der betreffenden Kollegen beanstandet. Es sei schmuddelig, ungepflegt, provozierend… Und einige Kollegen würden zusätzlich auf die Körperpflege wenig Wert legen.

 - Dann seien Auftreten und Sprache ebenfalls nachlässig und teilweise bewusst provozierend. Und die notwendige Distanz zu den Schülern fehle teilweise erheblich.

 - Und drittens mangele der Unterricht an häuslicher Vorbereitung, an einer klaren Ziel- und Methodenkonzeption und an einer straffen Unterrichtsführung.

 - Entsprechend sei viertens das Ergebnis der Stoff- und Kompetenzvermittlung am Jahresende unbefriedigend. Bekämen die Klassen dann andere Lehrer, seien diese oft entsetzt über die fehlenden Grundlagen.  

Bevor ich jetzt nacheinander die 4 Kollegen bitte, dazu Stellung zu nehmen, möchte ich noch dem Personalrat das Wort erteilen.

Sokrates hat in der Zwischenzeit diese 4 Kollegen genauer gemustert.

Der Erste ist eine hohe, breitschultrige Person, mit wilder Haarmähne und krausem Bart bis auf den Hemdkragen. Er sitzt barfuss in Sandalen ohne Strümpfe da, hat eine alte, geflickte Arbeitshose und eine ebenfalls alte, etwas verschmutzte Arbeitsjacke an und scheint seinen Ausdünstungen nach in größeren Mengen Knoblauch regelmäßig zu verzehren. Seine groben Hände sind schmutzig, die Fingernägel sind erdig-dunkel. Er macht den Eindruck eines Gärtners, der gerade von der Arbeit hierher gekommen ist. Er unterrichtet im Schulzweig Sonderschule mit Schwerpunkt Biologie und Deutsch.

Der Zweite ist relativ klein, sein Gesicht ist in dem Haar- und Bartrahmen nur teilweise zu sehen und er raucht kontinuierlich selbst gedrehte Zigaretten. Seine Kleidung ist aus grober Wolle, Hose und langer Pullover, er bevorzugt offensichtlich Naturfasern, aber diese Wolle hat viele Flusen und Haare festgehalten, besonders an den Schultern. Er lacht aus Angewohnheit häufig schon nach wenigen Sätzen und zeigt dabei seine gelb-braunen Tabakzähne. Er ist in den unteren Klassen im Fach Mathematik und Englisch eingesetzt. Er trägt ausgelaufene Tuch-Schuhe.

Der Dritte hat eine grün-graue, der Bundeswehrkleidung oder der Trekkingkleidung nahe stehende Bekleidung an, trägt ebenfalls nur Sandalen, aber wenigstens mit alten Strümpfen. Auf dem Kopf hat er eine grüne Schildmütze wie früher die Arbeiter. Seine Hose wird mit einem alten Gürtel mit großem  Koppelschloss zusammen gehalten. Seine Kleidung ist an verschiedenen Stellen gestopft, aber am Hintern befindet sich noch ein kleines ungestopftes Loch. Seine Hände und besonders die Fingernägel sind ebenfalls schmutzig. Natur und einfaches Leben in der Natur scheinen sein zentraler Lebensinhalt zu sein. Er wirkt sehr reizbar. Er vertritt die Fächer Biologie, Chemie und Erdkunde.

Der Vierte scheint eine Mischung aus einem existentialistischen Künstler, bewusstem Mode-Provokateur und Lebemann zu sein. Seine Haare sind lang, lockig gekringelt und an einigen Stellen mit Farbtupfern versehen. In den Ohrläppchen hat er auf jeder Seite mehrere Ringe.

Auf einem Handrücken und beiden Unterarmen ist er tätowiert. Er trägt eine etwas vertragene Lederjacke, darunter ein ebensolches vertragenes buntes Sporthemd. Um den Hals hat er einen bunten Schal, mit den Enden nach hinten hängend, geschlungen. Er trägt oben enge und unten weite bestickte bunte Leinenhosen und dazu verzierte, kurze und weiche Lederstiefel. Vorne auf der Brust hat er an einem Lederriemen eine Keramiktasse hängen, der man ansieht, dass sie zu regelmäßigem Kaffeegenuss benutzt wird. Er vertritt die Fächer Biologie, Kunst und Musik - eine etwas ungewöhnliche Kombination. Er hat sich frisch mit einem Körper-Deo eingesprüht.

Sokrates (sinniert): Man müsste jetzt einmal wissen, ob diese vier Lehrer auch schon als Lehramtsanwärter auf den Studienseminaren so auftraten oder ob sie diese Formen erst während ihrer Dienstzeit angenommen haben. Wenn sie früher auch schon so aufgetreten sind, wie konnten sie dann die Einstellungsabteilung in den Ministerien passieren und wie konnte ein Schulleiter bereit sein, sie bei sich anzustellen?

 

Aber welches Recht habe ich eigentlich, negativ über diese Lehrer zu urteilen? Auch ich war damals in Athen ein äußerlich sehr nachlässiger und wenig gepflegter Mann. Auch ich ging sommers wie winters barfuß bzw. ohne Strümpfe, auch ich bin kaum in die öffentlichen Bäder zur Körperpflege gegangen. Ich habe zwischenzeitlich gelernt, dass das nicht vorbildlich für einen Philosophen war. Aber andererseits war es damals in Athen gerade Mode zu testen, mit wie wenig der Mensch zufrieden leben kann. Diogenes war der Exponent einer diesbezüglich besonders radikalen Gruppe… Ich werde mich sehr zurückhalten müssen.

Der Personalrat (sehr verlegen): Diese Kollegen sind schon längere Zeit an dieser Schule. Sie wurden von dem vorigen Schulleiter eingestellt. Auch die Bezirksregierung hat keine Gründe zu Beanstandungen bisher gesehen. Zugegeben, es hat immer mal einige Beschwerden über sie gegeben... Aber über welchen Lehrer wird sich nicht mal beschwert. Der frühere Chef hat das aber immer als unwichtig unter den Tisch gekehrt... Nun sind die Kollegen hier seit Längerem  Beamte auf Lebenszeit und damit unkündbar... Das setzt allen Konflikten enge Grenzen... Man sollte die Eltern und Schüler dazu bringen, solche etwas unüblichen Lehrer wie etwas aus der Norm fallende harmlose Typen zu akzeptieren und mit ihnen zu leben, so wie wir Erwachsene das im Alltag auch tun müssen... Wir sind alle Menschen mit individuellen Sonderheiten... Man sollte noch mal ruhig mit ihnen reden... Ich halte mich hier raus.   

Sokrates (sinniert): „Diese Lehrer einfach so akzeptieren wie es unter Erwachsenen im Alltag üblich ist“ - ist dieses Argument hier begründet, einfach so tolerierbar?. Diese Lehrer stehen Jugendlichen gegenüber und Jugendliche suchen unbewusst und bewusst nach Orientierungen. Und diese Lehrer sind keine gute Orientierung... Aber wie war das damals in Athen bei mir und bei Diogenes? Wir waren auch Orientierung und zugleich äußerlich keine Vorbilder… Die Haupt-unterschiede zu diesen Lehrern heute liegen wohl darin, dass wir erstens damals junge Männer und Erwachsene als Schüler hatten, die sich nicht mehr so leicht von allem beeinflussen ließen. Weiter kamen diese jungen Männer freiwillig zu uns, sie mussten nicht mit uns aus Schulpflicht zusammen sein. Und schließlich stellten wir anspruchsvolle geistige Anforderungen an unsere freiwilligen Schüler. Wir regten sie zum eigenständigen Denken an, sodass sie selbstständig genug wurden, unsere Schwächen nicht als Vorbilder anzunehmen...

Hier und jetzt geht es aber um Jugendliche in noch zartem und sehr beeinflussbarem Alter, die gezwungen sind, mit eventuell schlechten Vorbild-Lehrern zusammen zu sein. Da müssen die Ansprüche höher sein und waren es auch zu unserer Zeit in den allgemeinen Schulen höher,   besonders in den Gymnasien. Man achtete damals bei uns in Griechenland allgemein auf gute Vorbilder für die Jugend… Man hat mir in meinem Prozess nicht ganz ohne Grund den Vorwurf gemacht, ich verderbe die Jugend…  

Aber heutzutage sind die Jugendlichen einer solchen Fülle schlechter Einflüsse ausgesetzt, dassman nur den Kopf schütteln kann, dass so etwas von staatlicher Seite zugelassen wird. Die Folgen sind überall erkennbar. Ohne die Orientierung vieler Jugendlicher an solchen schlechten Medieneinflüssen wären manche Jugendliche der Gegenwart weniger auffällig…

In der Schule und in den Typen der Lehrer hat Toleranz ihre Grenzen... Nachdem die damals überzogenen Aufbegehrer vor 40 Jahren viele ihrer gesellschaftlichen Forderungen und Ziele erfolgreich in die Gesellschaft und Schulen hineingetragen haben, ist als Ergebnis festzustellen, dass die Gesellschaft nicht besser geworden ist, wie das damals von diesen Revolutionären behauptet wurde, sie ist eher schlechter geworden...

Und eine Schwäche im deutschen Schulwesen ist die Verbeamtung und die damit verbundene Unkündbarkeit der Lehrer und die Schwierigkeit, in begründeten Fällen diese Unkündbarkeit wieder aufzuheben… Aber ich darf bei diesem Thema nur sinnieren, mich äußern sollte ich  vermeiden…    

Der Schulleiter: Ich kann der Einstellung und dem Vorschlag des Personalrates nicht einfach zustimmen. Natürlich müssen auch in den Schulen individuelle Persönlichkeits-Ausprägungen toleriert werden, aber nur bis zu gewissen Grenzen. Lehrer haben auch eine Vorbildfunktion und die Grenzte des Tolerierbaren scheint mir hier ebenfalls überschritten.

Ich möchte jetzt die eigentlich Betroffenen bitten, sich zu den Vorwürfen, die ich generalisiert gebündelt vorgetragen habe, Stellung zu nehmen.    

Der Gärtner-Lehrer: Ich komme aus einer ehrbaren Handwerkerfamilie mein persönliches Hobby ist die Gärtnerei. Ich trete entschieden dafür ein, dass der Abstand zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, die Verachtung des Handwerks, also der Arbeit mit den Händen, über die Schulen allmählich abgebaut wird. Deshalb bin ich Lehrer geworden und deshalb gewöhne ich meine Schüler an den Anblick des Arbeiters, auch wenn ich dadurch manche Schwierigkeit bekommen habe. Denn ursprünglich hatte ich mich für das mittlere Schulwesen beworben, dann wurde ich dem Sonderschulwesen zugeteilt... Heute denke ich, dass diese Schüler meine Ziele ebenso bedürfen... Und außerdem bekomme ich etwas mehr Gehalt...

Und abschließend: Schmutz ist gesund, er stärkt und normalisiert die Körperabwehr. Das ist eine wissenschaftliche Erkenntnis. Deswegen trinke ich gelegentlich sogar aus einer Pfütze, um meinen Verdauungsapparat positiv mit Bakterien zu konfrontieren… Das steril-saubere Leben der modernen Gesellschaft ist keine echte Orientierung für die Jugendlichen…

Zusammengefasst: Niemand wird mich dazu bringen, meine Lehrerphilosophie zu ändern.

Der Schulleiter (flüsternd zu Sokrates): Ich kenne zufällig etwas die Privatverhältnisse dieses Mannes. Sein Onkel, der Bruder seines Vaters, war ein anerkannter Arzt und Wissenschaftler,  sein Vater dagegen hatte es nur zum Metall-Handwerker gebracht. Der Vater hatte nun aus dem Gefühl der persönlichen Enttäuschung und aus Missgunst heraus seine Kinder so erzogen, dass sie das Handwerk höher schätzten als geistige Arbeiten. Als sein Sohn dann Begabungen zeigte und den Lehrerberuf anstrebte, fand man den Kompromiss des schmutzigen Arbeiters als Lehrer.   

Sokrates (sinniert): Das erinnert mich fast etwas an mich damals in Athen… Es gibt jedoch andere, weniger provokative Möglichkeiten, das Ansehen der körperlichen Arbeit zu steigern… Und geistige Ansprüche sind auch für einen Arbeiter ehrenwert… Was sagt den jetzt der nächste Kollege?

Der schmutzige Wollkleider-Lehrer (spöttisch): Die ganzen Vorwürfe entstammen dem bürgerlichen verkrampften Verhaltens- und Kleiderkodex. Ich habe mich davon befreit. Für mich zählt nur der Mensch in den Kleidern. Und ich muss zugeben, dass ich eine vermutlich vererbte Anlage zum Nachlässigen, Unordentlichen, Nichtsauberen habe. Ich fühle mich in Ordnung und Sauberkeit einfach nicht wohl. Wenn ich die modernen sauberen gefliesten Wohnungen sehe… Bei mir zu Hause liegt überall etwas herum… Wenn ich einmal in einem Hotel übernachten muss, dann verteile ich als Erstes einen Teil meines Kofferinhaltes auf den Boden und auf die Stühle, damit ich ein Gefühl der individuellen Behaglichkeit bekomme…

Ich bin nun mal so und das will ich auch hier an meinem Arbeitsort Schule bleiben. Mein Garten ist ungepflegt, da wuchert alles hübsch-hässlich durcheinander. Mein Arbeitsplatz an dieser Schule soll, nein muss genau so aussehen… Und ich bin nun mal Raucher, ein Laster hat jeder Mensch, und dazu bekenne ich mich. Damit muss meine Umwelt fertig werden.  

Der Schulleiter (flüsternd zu Sokrates): Ich kenne zufällig etwas die Privatverhältnisse dieses Mannes. Er lebt alleine und ist das, was man einen klassischen „Messie“ nennt. Die Räume in seinem Haus sind  voll gestopft mit allem Möglichen, mit alten Kleidern, Kartons, Essenresten, Möbeln… Teilweise gibt es nur schmale Gänge durch die Zimmer… Und es riecht natürlich dementsprechend übel in seinem Haus.  

Sokrates (sinniert): Ich hatte wenigstens noch eine tüchtige Frau, meine Xantippe, die den Haushalt in Ordnung hielt. Ein Messie, wie man heute sagt, bin ich nie gewesen… Ein „Messie“ ist in der Tat keine Orientierung für Jugendliche in zartem und sehr beeinflussbarem Alter…

Der Naturbursche-Lehrer (gleich etwas bissig): Das Ganze hier ist doch nur ausgekocht von diesen bürgerlichen heimeligen Familien-Menschen, die den ganzen Tag zu Hause im sauberen, gepflegten und sterilen Wohnzimmer hocken und Fernsehprogramme durchzappen oder am PC hocken. Ich bin jede freie Minute in der Natur. Ich wandere, ich beobachte, ich fotografiere, ich sammele draußen, was mir wichtig ist… Wandern und Natur sind mir Alles…Da wird man eben leicht schmutzig und man reißt sich leicht ein Loch in die Kleidung, wenn man durch den Wald kriecht… Bürgerliche Sauberkeit passt nicht zu einem Naturliebhaber. Ich war schon als Junge ein begeisterter Pfadfinder und diese Begeisterung habe ich bis heute nicht verloren…

Ich gehe gerne mit Schülern auf kleinere und größere Wanderungen und Exkursionen in die Natur, aber vorher sage ich ihnen, dass ich sie mit sauberen, sterilen bürgerlichen Jacken und Hosen nicht mitnehme, sondern dass sie sich alte Kleider aus dem Keller holen sollen… Und ich sage allen Schülern, dass sie zu Hause in den Gärten kein Unkraut mehr jäten sollen, denn die modernen Gärten sind sterile grüne Kunstflächen. Möglichst viele Gebiete sollen verunkrauten und sich allmählich wieder mit dichtem Wildwuchs bedecken… Der unberührte Naturraum soll möglichst große Teile Deutschlands wieder zurück erobern und unbeeinflusster Lebensraum für Pflanzten und Tiere werden. Das ist mein Ideal, das möchte ich in die Köpfe der Jugendlichen einpflanzen, das ist mein eigentlicher Auftrag, weswegen ich Lehrer geworden bin. Davon werde ich nicht lassen.

Der Schulleiter (flüsternd zu Sokrates): Im Grunde ist das ein sehr gebildeter und fähiger Naturkunde-Lehrer. Er hält  in allen Klassen einen vorzüglichen Biologie-Unterricht und wird deswegen auch von den Schülern geschätzt. Gerne hätte ich ihn zum Oberstudienrat gemacht. Aber ich kenne zufällig sein Privatleben etwas genauer. Er kommt aus einer sehr armen Bergbauernfamilie und ist in seiner Pfadfinderzeit stecken geblieben. Er ernährt sich so weit wie möglich aus seinem Garten und der Natur, lebt wochenlang nur von Obst, gesammelten Nüssen und Wildgemüsen, lehnt alle kulinarischen Verfeinerungen und moderne Fertiggerichte ab, besucht nie ein Restaurant… Im Grunde ist er ein hoch begabter Waldschrat, der den ausgewogenen Kompromiss zwischen Realität und seinen Naturvorstellungen nicht findet… Auch ist er Zeit seines Lebens Junggeselle, mit dem keine normale Frau zusammen leben kann… Schade.

Sokrates (sinniert): Schon wieder der Hinweis auf ein Junggesellenleben… Diese extremen Lehrertypen, heute mit einer guten Pension abgesichert, sind auch nicht gezwungen, sich etwas abzuschleifen und anzupassen. Sind das in ihrer Starrheit Vorbilder für Jugendliche? So starr war früher in Athen nur Diogenes… Wie äußert sich jetzt der letzte Lehrer?

Der musische Lehrer-Existentialist: Meine Vorredner haben deutlich gemacht, dass sie von ihrem persönlichen Stil nicht lassen werden und ich werde mich dem anschließen, auch wenn ich inhaltlich nicht mit ihrem Stil übereinstimme.

Für mich ist die moderne bürgerlich-technische Formen- und Farbenwelt kalt, langweilig und unakzeptabel, sowohl in den Möbeln als auch in der Kleidung. Bei mir muss alles immer etwas unüblich, ausgefallen, bunt, auffällig sein. So eine Mischung aus Existentialismus, Provokation, Dandy, Hundertwasser, Sportlichkeit und ewig-Jugendlichem ist mein Lebensstil und so kleide ich mich. Ich trinke gerne und oft Kaffee, Kaffee verbindet und deswegen trage ich auch diese Kaffee-Tasse immer mit mir herum, damit ich sie in jeder Pause und bei jeder Gelegenheit zur Hand habe. Ich ermuntere meine Schüler, diesen Stil und diese Freiheiten ebenso anzunehmen und zu praktizieren. Und ich kann zufrieden feststellen, dass gerade manches Mädchen sich nach mir orientiert.

Häufig wird mein Sexualkunde-Unterricht kritisiert. Er sei zu freizügig… Er ist bewusst locker und lustig. Wenn ich das Präservativ behandele, dann bekommt am Schluss der Stunde jeder Schüler und jede Schülerin eines ausgeteilt und wir blasen sie dann lustig zu Luftballons auf. Das beseitigt alle Komplexe und Hemmungen bei den Jugendlichen… Nur verkrampfte Eltern finden das natürlich nicht gut… Sex ist schön und die alte Moral gehört über Bord geworfen, genau so wie die traditionelle Formen und Farbenwelt.

Der Schulleiter (flüsternd zu Sokrates): Ich kenne zufällig etwas die Privatverhältnisse dieses Mannes. Er hat als Junge eine Waldorff-Schule besucht, musste diese aber wegen zu lockerem Schüler-Lebenswandel verlassen. Dann hat er in einer jungen Künstler-Wohngemeinschaft gelebt und sein Abitur extern gemacht. Er hatte verschiedene Liaisonen mit noch jugendlichen Partnerinnen, aber eine Ehe ist er bisher nicht eingegangen. Bei ihm zu Hause steht alles voll von künstlerischem Schnickschnack. Die Wände der Zimmer sind vielfältig bunt bemalt.

Ähnlich sieht unser Kunstraum aus. Nur Hundertwasser würde sich darin wohl fühlen. Die Putzfrauen wissen nicht, wo und wie sie sauber machen sollen. Man kann mehr von einem bunten Chaos als von einem Kunstraum reden. Sein Sexualkunde-Unterricht ist mehr eine Vorbereitung auf spätere Freuden als eine sachliche Aufklärung. Und mir ist eine Andeutung von Schülerseite zugegangen, dass er auf Klassenfahrten mit älteren Schülerinnen schmust.

Er hat unter den Schülern eine Anzahl von Anhängern, besonders unter den Mädchen. Die anderen 3 Kollegen haben bisher nur einen begrenzten Einfluss gehabt, glücklicherweise. Er hat dagegen eine gewisse Schüler-Fangemeinde, mit der er sich auch privat regelmäßig auf Musikveranstaltungen und Kunstausstellungen trifft. Dadurch entzieht er sich einer gewissen schulischen Beobachtung und Kontrolle. Ich muss also aufpassen.

Sokrates (sinniert): Bei diesem Lehrer geht es also nicht nur um ausgefallene und teilweise sogar wunderliche Leitziele, es scheint auch eine besondere emotionale Nähe zu Schülern, besonders zu Schülerinnen, mit im Spiel zu sein. Diese emotionale Nähe verstärkt noch seine Einflusswirkung auf Jugendliche. Hoffentlich hält er letzte Grenzen bei den Schülerinnen ein, so wie das Plato bei seinen erwachsenen Schülern gehandhabt hat.

Aber wie soll ich mich nun hier verhalten? Darf ich mich hier überhaupt kritisch äußern oder bin ich selber stellenweise in meiner eigenen Vergangenheit befangen? Zumindest kann ich äußern, was im Idealfall sein sollte.

 - Ein Lehrer in seiner zwangsläufigen Rolle als Orientierungsfigur muss im äußerlichen Auftreten wie in den Lehrinhalten gewissen Ansprüchen genügen.

 - Tut er das nicht oder nicht mehr, muss man ihn nicht resigniert ertragen, sondern es muss die Möglichkeit geben, ihn zu entfernen oder ihn an einer anderen Stelle, wo sein Einfluss geringer ist, zu beschäftigen.

 - Das Beste wäre, wenn solche Typen dahingehend beraten werden, nicht in den Schuldienst einzutreten bzw. dass sie nicht eingestellt werden. Später sind die Handlungsmöglichkeiten von Schulaufsichten und Schulleitungen erschwert. Dazu muss aber dort ein einheitliches Anspruchsniveau vorhanden sein und keine illusionäre oder ideologisch motivierte Toleranz notwendige Ansprüche verwässern.

Ich bin jetzt gespannt, wie der Schulleiter reagieren wird. Leicht wird er es nicht haben, denn die schwere Kündbarkeit oder besser die Unkündbarkeit verbeamteter Lehrer wird ihm enge Grenzen setzen. Ich werde mich jedenfalls mit meinem Urteil zurück halten. 

Welche Dialoge anschließend noch zwischen Eltern, Schülern und diesen 4 Lehrern geführt wurden, ob dieser Schulleiter Sokrates um eine Beratung gebeten und wie der Schulleiter dann gehandelt hat, ist hier nicht mehr so wichtig. Das Grundproblem wurde skizziert und auch die Schwierigkeiten der Reaktionen von Seiten der Schulleitungen und auch Schulverwaltungen.

Deren Möglichkeiten sind jedenfalls, wie Sokrates schon richtig erkannt hat, begrenzt. Der Schluss dieses Treffens/Gespräches soll also offen bleiben. Ein solches Treffen dürfte auch an den verschiedenen Schulen eventuell verschieden abgelaufen und verschiedene Konsequenzen gehabt haben.

 

(Verfasst vom discipulus Sokratis, der in der Eingangshalle auf Sokrates wartete und dann alles erzählt bekam)

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

            

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Helmut Wurm).
Der Beitrag wurde von Helmut Wurm auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.01.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Helmut Wurm als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Der Untergang der Allianz: Zukunft und Vergangenheit von Thalia Naran



Science Fiction Roman. Drei Freunde die einen Blick in die Zukunft werfen um dann in der Gegenwart, beschließen die Zukunft zu ändern.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Schule" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Helmut Wurm

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Sokrates und die Nachbarn und Putzfrauen einer Schule von Helmut Wurm (Schule)
Tod eines Lehrers von Rainer Tiemann (Schule)
Drei Minuten nach Fünf von Klaus-D. Heid (Satire)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen