Ute Abele

Der flüsternde Stuhl




Am Ufer lag da dieser Stuhl. Ich kannte ihn schon vom Sommer. Ich saß manchmal darauf, wenn ich mit meinem Hund vorbeikam. Ein Angler hatte ihn mitgebracht und stehen lassen. Nun war er umgeworfen worden. Vielleicht vom Wind. Oder vom Hochwasser. Inzwischen im herkömmlichen Sinne wohl etwas wunderlich geworden – ich hatte nämlich wie ein Kind wieder begonnen, auch mit Dingen zu sprechen -, sagte ich:

„Hallo Stuhl! Kannst ja ruhig noch ein wenig liegen bleiben und dich ausruhen.“ Und wandte mich mit meinem Hund zum Gehen.

Da hörte ich ein  wortloses Flüstern. Es war der Stuhl. Er sagte, er läge schon eine recht lange Weile so da. Ob ich nicht so gut wäre, ihn aufzustellen, so dass er den Fluss ein wenig betrachten könnte. Ich tat ihm den Gefallen gern. Als ich endgültig gehen wollte sagte er – nicht in Worten natürlich, sondern wie Stühle eben sprechen (viel deutlicher als es in Worten möglich wäre):

„Willst du nicht noch ein Foto von mir machen?“

Ich drehte mich um und betrachtete ihn. Er sah wirklich schön aus, wie er so im Abendlicht dastand. Er hatte absolut Recht. Ich sollte ein Bild von ihm machen. Während ich das tat, bekundete der Stuhl mir seine Freude darüber, einmal von einem "großen Menschen" gehört und verstanden zu werden. Er hätte schon mit so vielen Menschen versucht zu sprechen, aber kaum einer antwortete ihm. Diejenigen, die antworteten, seien ausnahmslos kleine Menschen gewesen. Kinder. Als ob die Großen die wortlose Sprache, die doch jeder Baum, jedes Tier und jedes Ding beherrsche, nicht verstünden.

„Dein Hund versteht sie auch, ich denke, das weißt du, oder?“, sagte der Stuhl.

„Oh ja“, sagte ich. „Natürlich. Aber die meisten erwachsenen Menschen verstehen sie wohl wirklich nicht mehr. Sie haben sie glatt vergessen!“

„Das ist wirklich traurig“, meinte der Stuhl und fragte. „Und was ist mit dir? Im Sommer hast du mich auch nicht gehört. Aber jetzt schon!“

„Ich...hmm“, ich überlegte. „Ich hatte sie auch vergessen. Aber ich wünschte sie mir sehr zurück. Ich merkte auf einmal, wie sehr ich sie vermisse und dass sie doch zu mir gehört. Mein Hund hat mir sehr geholfen, sie zu verstehen. Und jetzt ist es, als wäre sie niemals vergessen gewesen.“

„Wie schön!“ sagte der Stuhl.

Die Sonne begann, hinter dem Berg zu verschwinden. Es war Zeit zu gehen. Dem Stuhl war es sehr recht, an seinem einsamen Ufer zu bleiben. Er war nicht so gesellig, wie er mich wissen ließ, und war froh, nicht mit anderen Stühlen an einem Tisch stehen zu müssen, womöglich gar in einem Biergarten oder so etwas. Ich verstand ihn gut. Zum Abschied winkend zogen wir weiter.

Da hörte ich noch eine letzte Frage von dem Stuhl:

„Weißt du, weshalb du heute gerade hierhin und an keinen anderen Ort gekommen bist?“

Ich lächelte. „Oh ja, das weiß ich!“






Mein Bild zur Geschichte:
Der flüsternde Stuhl 





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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.01.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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