Dorothee Flach-Schlage

Später Holunder

95 Jahre alt ist Alma heute. Ein besonderer Tag, sagen alle. Die Dauerwelle stehe ihr ganz prima. Das Kleid wurde extra angeschafft. Alle meinen es gut mit ihr, organisieren dieses große Fest. Sie hat keinen darum gebeten. Offensichtlich hat das aber nicht interessiert. Sie haben tagelang gebacken, Besorgungen gemacht, jetzt laufen sie hin und her, nehmen dem Bürgermeister die Blumen ab, ordnen ihr noch einmal die Haare, als der Mann von der Zeitung ein freundliches Jubiläumsfoto macht, bringen beflissen die Brille, wenn sie eine Geburtstagskarte genauer lesen will. Sie erhebt sich und geht langsam zum halb geöffneten Fenster und blickt auf die stille Straße. Es ist Juni. Die Luft steht vor Hitze. Sie verspürt diese angenehme Wärme auf der Haut.
„Muttchen, jetzt bleib doch bloß im Sessel sitzen.“
Das ist Maria. Alma setzt sich schnell wieder und betrachtet angewidert die Geburtstagsgesellschaft. Maria ist ihre älteste Tochter.
 „Mutter, schau doch mal, die schönen Blumen“, ruft diese rüber. Eben hat sie einer Gratulantin drei Sonnenblumen abgenommen.
„Ja,,ja“, Alma ist so schlecht im Lügen.
Die hatte Alma schon immer gehasst, diese Hippieblumen, so symbolisch aufgeladen mit ewigem Optimismus, mit Idealen mit diesem “Wir sind doch alle Freunde.“ Das fand sie zum Kotzen. Die reine Heuchelei.
Warum belästigen diese Personen sie am Ende ihres Lebens mit ihren Anstandsbesuchen, sagen sinnlose Worte, die schon tausend Mal gesagt worden sind: „Herzlichen Glückwunsch“, „Alles Gute, besonders Gesundheit“. Welch ein Hohn! Noch schlimmer findet sie: „Viel Schaffenskraft“, das ist eine echte Beleidigung!     
Die Leute kommen, essen eilig Kuchen und verschwinden wieder bis zum nächsten Jahr. Keiner fragt sie etwas. Weshalb auch? Was gibt es schon zu fragen? Die wesentlichen Fakten kann jeder selbst sehen. Sie lebt noch. Mehr ist nicht zu sagen. Die Schwerhörigkeit ist unsichtbar. Sie ist das, was man als „rüstig“ bezeichnet. Damit ist alles gesagt.

Da sind ihre beiden Kinder, die fünf Enkel, zum Teil selbst schon wieder mit Kindern. Wenn sie heute alle ansieht, staunt sie und erinnert sich genau daran, wie sie sich früher ihr Leben ausgemalt hatte. Lange Zeit war sie mit Willi ganz allein gewesen. Schlecht war das nicht. Aber Willi wollte unbedingt Kinder. Das war normal zu der Zeit, doch manchmal hatte sie schon das Gefühl beschlichen, Willi brauche eben Kinder. Wozu? Um die leeren Stellen in ihren Gesprächen zu füllen? Die nahmen zweifellos zu, jedes Jahr ein wenig, jedoch im Großen und Ganzen so unmerklich wie das Ozonloch.
Aber nun, mit einmal ist Willi tot und sie sitzt hier im „Schoß der Familie“. Sie hat alles erreicht. Das Leben gelebt.

Der Bürgermeister sitzt neben ihr und macht Konversation. „Na, Almchen, alles frisch?“ Dabei klopft er kumpelhaft auf ihre Schulter. Obwohl er zwanzig Jahre jünger als die Jubilarin ist, hat sie stets großen Respekt vor ihm, vor seiner Erscheinung, vor seiner Stimme, vor seiner Rhetorik. Und wenn sie sich bisweilen auf der Straße begegnen, leidet sie an Wortfindungsstörungen. Wobei das nicht besonders stört, findet sie, denn er hat ja für jeden Anlass genug Worte parat.
„Na, schmeckt uns denn der Kuchen noch?“ Jetzt wird ihre Hand von seinen fleischigen Fingern betätschelt. Sie stochert in ihrem Erdbeerkuchen. Sie spürt langsam, ganz langsam ein Gefühl aus ihrer Magengrube nach oben aufsteigen. Eine Wut, eine beißende Wut. Die war nicht neu, die war ganz und gar nicht neu.    


Wer hat denn die Schlagsahne darüber gehäuft? Davon bekommt sie einen Würgereiz! Sie starrt auf ihren Teller und fühlt in sich plötzlich das kleine Mädchen, das sich auf Kindergeburtstagen nie getraut hat, den Bohnenkaffee mit Schlagsahne abzulehnen. Nur durch eine unendliche Anzahl von Zuckerstückchen hatte sie ihn trinkbar gemacht. Mit zusammengekniffenen Augen und scheußlichem Übelkeitsgefühl hatte sie sich während des Trinkens gewünscht, niemals wieder zu solch einem Geburtstag eingeladen zu werden. Mit demselben Grauen beäugt sie heute, achtzig Jahre später die feindliche Schlagsahne. Hilfe suchend starrt sie zu ihrer Freundin, aber Ilse sitzt weit abseits, gleich neben der Tür.

Ilse ist eine Dame aus bestem Hause. Sie hat eine bürgerliche Erziehung genossen: Latein, Griechisch und Klavierunterricht. Aus ihr hätte etwas werden können. Sie war so ein Vorzeigemädchen, das sich auch durchsetzen konnte in dieser Männerflut, die sie beide damals umgeben hatte. Aber Ilse war sehr eigensinnig.
Erinnerung. Das ist verinnerlichtes und vergangenes Leben. Es ist zwar vorbei, doch gleichzeitig umgibt es jeden wie der Hauch eines edlen Parfüms. Aber das ist es gerade, was sie mit Ilse teilt: die gemeinsame Erinnerung. Wenn Alma einen Satz beginnt, kennt Ilse meistens schon dessen Ende. Möglicherweise kann Ilse ihre Gedanken lesen. Das erscheint Alma manchmal unheimlich. Aber gerade in diesem Moment, in dem Alma ihre Hilfe bräuchte, bemerkt Ilse überhaupt nichts. Alma rutscht auf ihrem Platz hin und her. Sie kann doch nicht über die Kaffeetafel winken! Ihr wird heiß. „Schöner Geburtstag“, denkt sie.


Endlich treffen sich die Blicke der Freundinnen auf der Höhe der Ananastorte. Alma versucht Ilse zu signalisieren, dass sie etwas unternehmen solle, doch die sendet nur einen rätselhaften Blick zurück. Leider gibt es keine letzte Seite, wie im wöchentlichen Rätselheft, auf der Alma die Lösung hätte nachschlagen können.
In diesem Moment klingelt es.
 
„Mutter, hier ist ein alter Verehrer gekommen!“, hört man aus dem Flur rufen. Maria schiebt jetzt einen jungen Menschen ins Wohnzimmer. Er ist Anfang zwanzig, mindestens 1,80 groß, mit einem langen braunen Zopf: Johannes, der Zivi. Alma ist froh. Jetzt kommt er auf sie zu und umarmt sie ganz fest - mindestens eine Minute lang. Kaum einer isst mehr. Wenige sprechen. Stille. Alma flüstert ganz, ganz leise in sein Ohr, dann lächeln beide. Die Gesellschaft erwacht aus ihrer Versteinerung.
„Na, wer ist denn da! Unser Zivi! Aber heute ist doch nichts zu tun! Almchen schafft es allein zur Toilette, wir sitzen ja schließlich noch nicht im Rollstuhl!“, tönt der Bürgermeister.

Später wusste keiner mehr genau zu sagen, wie es passiert war. Hatte Alma sich zu plötzlich umgewendet und dabei die Kaffeetasse des Bürgermeisters mitgerissen oder war er selbst mit seinem Ärmel daran hängen geblieben?
Jedenfalls gab es einen kolossalen Lärm. Die Tasse lag am Boden und der Kaffee versickerte im Sakko des ehrenamtlichen Gemeindevorstehers. Dieser versuchte krampfhaft Haltung zu bewahren. Eine Frau kreischte kurz, andere sprangen von den Plätzen auf, um zu helfen. Maria kam sofort mit einer Serviette und tupfte hilflos auf der Brust des Bürgermeisters herum. Es herrschte einige Verwirrung.

„Luft“, seufzt Alma, „ich brauche Luft!“ Dann fühlt sie sich von starken Armen angehoben. Ihr wird etwas schwindlig und sie schließt die Augen. „Mutter, was ist mit dir?“, hört sie Maria rufen. „Hast du zu wenig getrunken?“
Almas Herz klopft stark. Ihr ist sehr heiß. Wie immer, wenn sie wütend ist und wenn sie Angst hat. Sie denkt dann jedes Mal an den Tod. Sie will noch nicht sterben. Jetzt wird sie aus dem Zimmer getragen, die Treppe hinunter, in den Hausflur. Alles geht sehr schnell und die kräftigen Arme halten sie ganz fest. „Der Notarzt ist bestimmt nicht nötig“, beschwichtigt Ilse unterdessen die Tochter auf der Schwelle. „Kümmer´ dich ruhig um die Gäste, Maria. Der Zivi und ich, wir machen das schon. „Keine Sorge“, ruft nun Johannes mit sonorer Stimme nach oben ins Treppenhaus, „ein bisschen Frischluft kann ihr nicht schaden. Wir geh´n kurz um den Block.“ Wenig beruhigt, aber einsichtig, wendet sich Maria auf dem Treppenabsatz um und geht in die Wohnung zurück. Vor dem Haus stellt Johannes Alma sanft auf die Erde, stützt sie mit der einen Hand und wischt ihr vorsichtig mit dem T-Shirt-Ärmel der anderen die Schweißtropfen aus dem Gesicht. Ilse fasst sie auf der anderen Seite unter. „Sehr gut“, flüstert Alma „und jetzt nicht zu schnell laufen! Maria beobachtet uns sicher vom Balkon aus. Es muss ganz natürlich wirken.“  

„Drei Stück Erdbeertorte ohne Sahne, die Herrschaften“, sagt die Kellnerin zuvorkommend, als sie die Teller absetzt. Sie sitzen auf einer Terrasse und Alma schaut in die Gesichter von Ilse und Johannes. Sie lächelt und dann lacht sie. Sie lacht aus vollem Halse. Sie lacht und lacht. Die Tränen laufen ihr übers Gesicht und sie hat kein Taschentuch. „Ich wusste ja nicht mehr, wie sich so etwas anfühlt“, schluchzt sie.
„Du hast grandios ausgesehen“, sagt Johannes, „ziemlich echt.“ „Obwohl das mit der Kaffeetasse eigentlich nicht geplant war“, fügt Ilse hinzu, „oder?“
„Nein“, erwidert Alma, lächelt verschmitzt und beißt genüsslich in die schönen Erdbeeren. Sie atmet den Holunderduft tief in sich hinein und spürt ihr Herz schlagen.


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.01.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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