Wolfgang Meiser

Das Experiment

Der Weg zum Gericht war lang, sehr lang. Er war mit harten Steinen gepflastert. Manche Hürde war zu überwinden bis ich im Gerichtssaal saß, auf der Anklagebank.
Vor mir die Richter, gnadenlos; der Staatsanwalt, voller Haß; und neben mir mein Verteidiger, keineswegs von meiner Unschuld überzeugt.
Der Saal war voller Zuschauer, bis auf den letzten Platz besetzt.
Direkt hinter mir, auf drei Bänken, hatten die Vertreter der Weltpresse Platz genommen, sensationshungrig, gierig nach Kroteskem, Abstraktem.
Jede meiner Bewegungen, meine ganze Haltung wurde genau studiert, definiert.
Niemand fragte warum ich eine so große Schuld auf mich geladen hatte. Für alle war ich die Bestie, die massenhaft Menschenleben vernichtete, ja, die den Fortbestand der ganzen Erde aufs Spiel setzte.
Und dabei hatte ich die Menschen retten wollen, hatte sie einem grausamen Tod entreißen wollen.
Doch alles was ich tat wurde falsch ausgelegt. Ich wurde in den Augen meiner Mitmenschen zum Mörder, zu einem reißenden Tier das aus reiner Lust am Töten tötet.
Doch hätte ich nicht so gehandelt, es würde keine Gerichtsverhandlung gegeben haben. Nicht deshalb weil ich nicht schuldig geworden wäre, nein, ganz einfach aus dem Grunde, weil es niemanden gegeben hätte der über mich hätte zu Gericht sitzen können.
Meine Argumente tat man als blödsinnig ab.
Trotzdem ich genau gewußt hatte, daß es einmal so kommen würde falls ich überlebte, trotz allem mußte ich weiterarbeiten, mußte versuchen das Leben und die Erde zu retten, wenn auch unter sehr großen Opfern.
Doch was sind schon ein paar millionen Menschenleben, gemessen an fast sechs Milliarden?
Doch ich will von Anfang an erzählen:
Als vor vielen Jahren das Gesetz zum Schutze der Umwelt verabschiedet wurde, war ich gerade sechundszwanzig Jahre alt geworden. Ich hatte mein Studium beendet und promovierte zusammen mit meinen späteren Freund Professor Dr.Ing. Christian Mattisch und zwanzig anderen Studenten zum Dr.der Physik. Anschließend studierten Christian und ich an der gleichen Universität Philosophie.
Wir behielten ständig die politische Entwicklung im Auge, besonders aber die stetige Umweltverschmutzung die von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag zunahm.
Immer mehr Menschen starben an Krebs. Doch niemand wollte über den Rahmen hinaus mehr tun als ihm vom Gesetz auferlegt wurde. Jeder dachte nur an sein Wohlergehen, an die Gesundheit seiner Mitmenschen dachte niemand.
Was interessierte die Hochfinanz wie es den anderen Menschen erging? Hauptsache war doch, daß ihr Konto stimmte!
Dann auf einmal, als die Produktion zurückging, zurückgehen mußte, schrieen die Unternehmer Zeter und Mordio.
Sofort wurden Schritte eingeleitet und fieberhaft gearbeitet. Aber es war bereits zu spät.
Nur einige wußten darüber genau Bescheid. Sie wurden zu strengstem Stillschweigen verpflichtet, damit nichts an die Öffentlichkeit dringen konnte.
Christian Mattisch und ich waren an diesen Untersuchungen unmittelbar beteiligt. Wir wurden von einem großen Chemiekonzern beauftragt den unaufhaltsamen Gang in den Tod zu stoppen, egal was es kostete. Geld genug stand zur Verfügung.
Nach sechs Monaten intensivster und härtester Arbeit fanden wir dann endlich einen Weg der Aussicht auf Erfolg versprach.
Er hatte nur einen Haken: Es sollten sehr viele Menschen sterben bevor eine Wirkung eintreten würde.
Wir legten die Ergebnisse unserem Direktor vor, der sie prüfte und sie dem zuständigen Gremium der Regierung übergab.
Nach drei Wochen wurden wir von der Regierung eingeladen. Wir sollten erläutern wie die Umwandlung vor sich gehen sollte und welche Folgen zu erwarten wären.
Wir betraten den Sitzungssaal am vierundzwanzigsten Oktober, morgens um neun Uhr fünfundvierzig. Alle Plätze waren besetzt, alle Mitglieder anwesend.
Sie begrüßten uns teils skeptisch, teils wohlwollend.
Christian ging zum Podium um mit seinen Erklärungen zu beginnen.
Neben mir saß der Bundeskanzler, das Gesicht von Sorgenfalten zerfurscht.
"Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren", begann Christian.
"Es sind ziemlich genau dreißig Jahre vergangen seit das Gesetz zum Schutz der Umwelt verabschiedet wurde. Es wurde viel getan, doch nicht genug um das Unheil, das wir selbst verschuldeten, wieder von uns abzuwenden.
Die Gesellschaft verlangte nach immer größeren Mengen Verbrauchsgütern und wunderte sich darüber, daß die Umweltverschmutzung in gleichem Maße zunahm. Sie gingen zum Demonstrieren auf die Straße, bedachten jedoch nicht, daß Angebot und Nachfrage in ganz engem Zusammenhang stehen.
Je mehr verlangt wurde, desto mehr wurde produziert, desto mehr hatte die Gesellschaft darunter zu leiden. Sei es durch Krankheit, Siechtum oder gar den Tod.
Der Mensch neigt dazu die Fehler immer bei anderen zu suchen und nie bei sich selbst. Darum wurde auch nie besonders auf die Erhaltung der Umwelt geachtet. Sollen doch die anderen ihren Müll ordnungsgemäß entsorgen, ich selber mache keinen Dreck. Nach diesem Motto wurde gehandelt.
Doch dies wollen Sie ja nicht hören, es sollte nur einmal erwähnt werden.
Lassen Sie mich nun zum eigentlichen Thema kommen.
Vor einiger Zeit wurden den großen Fertigungsbetrieben im einzelnen und uns Wissenschaftlern im besonderen zur Auflage gemacht wie wir die Uhr, die bereits auf zwölf steht, zumindest aufhalten können.
Dr.Mertens und ich machten uns mit viel Fleiß und buchstäblich dem Tod im Nacken an diese schwere und schwerwiegende Aufgabe. Nach sechsmonatigem unermüdlichem Forschen und Experimentieren fand Dr. Mertens endlich das Ei des Kolumbus.
Mit Feuereifer und neuem Antrieb beschafften wir uns die nötigen Materialien und kamen erstmals zu einem positiven Ergebnis.
Die Funktion wird Ihnen Dr. Mertens nachher im einzelnen erläutern, denn er, der Vater des Ganzen, weiß besser als jeder andere Bescheid.
Nur eines lassen Sie mich noch sagen: Es ist eine höchst gefährliche Angelegenheit, aber es läßt sich nicht leugnen, daß nur so die Erde und damit die Menschheit gerettet werden können".
Dies war das Zeichen für mich zum Podium zu gehen.
Ich hatte Lampenfieber, ich konnte noch nie vor viele Leute treten und eine Rede halten.
Da stand ich nun, die Hände auf das Pult gestützt und suchte nach Worten. Alles ging mir durch den Kopf, nur nicht das Stichwort.
Plötzlich fiel mir ein Zettel ein auf den ich mir Notizen geschrieben hatte. Ich nahm ihn aus meiner Jackentasche und hatte endlich den Anfang gefunden.
"Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren".
Meine Stimme war rauh vor Lampenfieber.
"Wie mein Freund und Mitarbeiter Professor Mattisch Ihnen bereits erklärt hat, geht es um die Rettung der Erde und damit der gesamten Menschen, Tiere und Planzen. Ich will mich darum nicht lange mit Vorreden aufhalten. Ich darf annehmen, daß ich es mit einem sachverständigen Kollegium zu tun habe".
Ich sah in die Runde, alle nickten.
"Bevor ich mit meinen Erklärungen beginne, möchte ich Ihnen zwei von Professor Mattisch und mir nach genauesten Beobachtungen und Berechnungen angefertigte Diagramme zeigen.
Das erste zeigt den Verlauf der Umweltverschmutzung von 1950 bis heute. Das zweite aber zeigt den Verlauf von heute bis zum Jahre 2020".
Ich klemmte den großen Bogen Papier an die dafür vorgesehene Tafel.
"Wie Sie sehen können, sind auf diesem Blatt zwei Kurven eingezeichnet. Eine in rot, eine in grün. Die rote zeigt an wie es uns erginge, würden wir wie bisher weitermachen ohne etwas zu unternehmen. Wir könnten hier, an dieser Stelle", ich zeigte mit dem Finger auf einen dicken roten Punkt," den Weltuntergang, respektive den Untergang der Erde erleben. Folgen wir aber der grünen Linie, so wird, wie hier dargestellt, zunächst bis Ende des nächsten Jahres die Umweltverschmutzung rapide zunehmen.
Es werden viele, sehr viele sterben. Vielleicht sind Sie dabei, vielleicht ich, wer weiß es.
In den nächsten vier Jahren bleibt diese Verschmutzung konstant, wird weder zu- noch abnehmen. Doch dann wird es sehr schnell gehen. Wieder werden viele sterben, weil sie nicht imstande sind sich den sich schnell ändernden Umweltbedingungen genauso schnell anzupassen. Es bleibt aber keine Zeit mehr nach einem Mittel zu suchen das diese Anpassung unterstützt. Nach den sorgfältigsten und genauesten Berechnungen wurde der letzte Termin für das Experiment auf heute in sechs Monaten festgesetzt. Es würde also genügend Zeit verbleiben die nötigen Materialien zu beschaffen und alles vorzubereiten. Vorausgesetzt Sie, meine Damen und Herren lassen sich nicht zu viel Zeit mit der Entscheidung.
Und nun möchte ich Ihnen die Funktion des Experimentes erklären".
Ich trank einen Schluck Wasser,weil mein Mund trocken geworden war.
"Wie wir alle wissen, befinden sich chemische und andere giftige Stoffe in der Atmosphäre und im Boden. Die Pflanzen werden mit diesen Giften angereichert und bilden eine nicht zu übersehende Gefahr für Mensch und Tier. Die giftigen Stoffe gelangen über die Lunge und die Haut in den menschlichen und tierischen Organismus. Wir alle sind mehr oder weniger vergiftet. Der Umstand,daß die Natur mit diesen Giften nicht mehr fertig wird, ist leicht zu erklären: Es gibt einfach zu viel davon, und es werden täglich mehr.
Meine Idee war es nun ganz von vorne anzufangen und diesen Giften mit Stoffen zu begegnen, die diese absorbieren oder umwandeln. Ein jeder kennt die Arbeitsweise der sogenannten Regenmacher. Man injiziert Trockeneis oder Silberjodit in die Regenwolken und kann sie so zum abregnen bringen.
Wenn ich nun ein Material oder eine Substanz fand, die, wenn sie entsprechend aufbereitet werden nur die Giftstoffe umwandeln und den lebensnotwendigen Sauerstoff nicht angreifen, dann könnte unsere Erde wieder sauber werden.
Wir hatten vor drei Monaten das unwahrscheinliche Glück an die Probe einer Substanz zu gelangen, die noch nicht im Handel erhältlich ist und uns nur zu Testzwecken überlassen wurde.
Wir begannen mit dieser Substanz zu experimentieren. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang uns endlich die lang ersehnte Umwandlung.
Die gasförmigen Giftstoffe kristallisierten und lagerten sich auf dem Boden des Reagenzglases ab. Wir haben errechnet, daß etwa drei millionen Tonnen dieser Substanz benötigt werden um die ganze Erde von den Giftstoffen zu befreien.
Zu betonen sei noch, mit dieser Substanz wurden noch keinerlei medizinische Tests gemacht.
Es liegt nun bei Ihnen zu entscheiden was geschehen soll. Ich möchte nochmals betonen, daß viele Menschen ihr Leben verlieren werden. Doch was sind schon ein paar millionen Menschenleben gegen das einiger Milliarden!"
Damit war alles gesagt was zu sagen war.
Ich wollte das Podium verlassen, als sich ein Mann mittleren Alters,mit dunklem, graumeliertem Haar zu Wort meldete.
"Herr Dr. Mertens, welche Sicherheiten gibt es bei diesem Experiment zu überleben?".
"Nun ja, lassen Sie es mich so sagen: Wenn wir das Experiment nicht durchführen, hätten wir nach unseren Berechnungen und wie auch aus dem Diagramm deutlich ersichtlich, noch etwa zehn Jahre eines qualvollen Lebens vor uns. Wird das Experiment aber realisiert, stehen die Chancen zu überleben etwa vierzig zu sechzig. Ich meine das müßte doch ganz eindeutig für das Experiment sprechen?".
"Sie lassen uns keine große Wahl. Sie sagten, diese Substanz befindet sich noch im Versuchsstadium und ist ohne jede medizinische Tests. Wie wollen Sie wissen, ob uns das Zeug nicht vorzeitig umbringt? Darüberhinaus sind drei millionen Tonnen eine ganze Menge. Wird es überhaupt möglich sein diese gewaltige Menge in so kurzer Zeit bereitzustellen? Dabei wird es nicht ausbleiben, daß der eine oder andere davon erfährt und die Öffentlichkeit informiert. Es wird schwierig sein, eine allgemeine Panik zu verhindern".
"Mit dem Problem der Sicherheit müssen Sie sich beschäftigen.
Die Produktion ist kein echtes Problem, da wir noch genügend Zeit haben. Die Substanz wird rechtzeitig zur Verfügung stehen. Wichtig ist nur, wir bekommen Ihre Zustimmung".
Zwei Wochen später erhielten wir die Erlaubnis der Regierung; wir konnten beginnen.
Christian setzte sich mit dem Chemiekonzern in Verbindung der die Substanz produzieren mußte.
Ich war in meinem Labor mit den Vorbereitungen für das größte, von Menschen jemals gewagte Unternehmen beschäftigt.
Ich hatte einen ganzen Stab Mitarbeiter erhalten, von denen nur ganz wenige den genauen Sachverhalt ihrer Arbeit erfuhren. Diese durften, ebenso wie Christian und ich nicht mit der Öffentlichkeit in Berührung kommen.
Wir wurden ständig von schwerbewaffneter Polizei überwacht, die sofort und rücksichtslos von der Waffe Gebrauch zu machen hatte, ohne Rücksicht auf die betreffende Person.
Die Mitarbeiter, die keine Kenntnis von der wahren Bedeutung des Projektes hatten, durften, aus Gründen der Sicherheit und Geheimhaltung natürlich kommen und gehen wie sie wollten, ohne daß ihnen jemand ein Haar gekrümmt hätte.
Wir alle, die wir das Gebäude nicht verlassen durften, in dem wir arbeiteten und untergebracht waren, sehnten den Tag herbei, an dem wir wieder wie freie Menschen durch die Straßen gehen, die Auslagen in den Schaufenstern betrachten, tun und lassen konnten was uns beliebte.
Obwohl es an Annehmlichkeiten nicht mangelte, konnten wir doch das Gefühl des Eingesperrtseins nicht überwinden und arbeiteten intensiv und mit größtem persönlichem Einsatz um die Fertigstellung des Projektes so schnell wie möglich zu erreichen. Natürlich saß uns auch die Angst im Nacken, die Angst vor dem Ende, dem Tod.
Unmittelbar mit mir arbeiteten drei der hervorragendsten Wissenschaftler.
Ingenieur Steinberg: Ein junger Mann von dreißig Jahren. Sehr groß, sehr blond und sehr sportlich, ein gutaussehender Mann auf den die Frauen flogen. Er war damit beschäftigt die benötigten Flugzeuge zur Aufnahme der aufbereiteten Substanz vorzubereiten.
Dr.Schiprovsky: Das genaue Gegenteil von Steinberg. Klein, grau, unscheinbar, doch in seinem Fach eine Kapazität. Er arbeitete an speziellen, eigens für dieses Projekt neu zu entwickelnden Mischern.
Und endlich Dr. Ilona Rathke: Der Typ einer Lolita, einer Frau die stets von Männer wie Ingenieur Steinberg umschwärmt wird.
Eine Frau, die genau weiß was sie will.
Sie arbeitete mit mir an der Zusammensetzung der Mischung.
Ja, und dann war ich noch da. Mit meinen zwei Metern Körperlänge der Längste des Teams.
Ich bin keine Schönheit. Mein rotes Haar hing mir immer wirr ins Gesicht. Die zerschlagene Boxernase trug auch nicht gerade zu meiner Schönheit bei.
Möglicherweise war das der Grund für die Komplexe dem anderen Geschlecht gegenüber. Ich hatte mit meinen einundvierzig Jahren noch immer keine Lebensgefährtin gefunden und war manchmal recht traurig darüber.
Wenn ich von meinem Freund Christian eingeladen wurde, kam ich mir immer recht fehl am Platze vor. Er war das genaue Gegenteil von mir. Gutaussehend und immer guter Laune. Er lebte sein Leben, hatte immer Freundinnen, jedoch nie ernsthafte Absichten.
Gab er eine Party, beschaffte er eigens für mich ein Mädchen, das mir aber nach einiger Zeit auf die Nerven ging.
Was waren das für Mädchen?
Mädchen, wie man sie auf jeder Party findet. Lebedamen, die sich für ein bißchen Glück dem erstbesten hingaben, die in ihrer Gier nach dem Leben, dem süßen Leben geiferten.
Ihre zweifellos hübschen Köpfe mit Sex vollgepackt, jedoch ohne die geringste Intelligenz. Hübsche Hohlköpfe.
Sie ödeten mich an. Ich bin nicht für eine geistlose Konversation zu haben. Ich will ein einmal gestelltes Thema voll ausschöpfen, mit all seinen Vor- und Nachteilen.
Bald war ich bekannt und als Miesepeter gemieden, was mich jedoch nicht im geringsten berührte.
Ich bin zu einem Einzelgänger, zu einem Eigenbrötler geworden mit dem man jeden Umgang mied. Ich lebte nur für meine Arbeit und hatte mit diesem Projekt die größte Anerkennung gefunden die sich ein Mensch, ein Wissenschaftler nur wünschen kann.
Abends, nach getaner Arbeit, wenn sich die Anderen von den Anstrengungen des Tages ausruhten, sich einen Film ansahen, lasen oder sich die Zeit auf irgendeine andere Art vertrieben, saß ich hinter meinem Schreibtisch vor schwierigen Berechnungen und arbeitete meist bis tief in die Nacht hinein. Solange bis der Körper sein Recht forderte um in einigen Stunden Schlaf wieder neue Kräfte zu sammeln.
Morgens war ich der erste, der an den Instrumenten stand. Lange bevor die anderen kamen.
Wir hatten unsere Arbeiten fast beendet, als Dr.Rathke abends, kurz vor Feierabend in mein Büro kam.
Ich sah erschrocken auf als sie mich ansprach. Ich hatte nicht bemerkt wie sie eingetreten war.
"Bitte entschuldigen Sie, aber Sie haben mein Klopfen nicht gehört", sagte sie mit ihrer warmen Stimme.
"Sie wünschen", antwortete ich barsch, barscher als ich beabsichtigt hatte. Auch mein Gesichtsausdruck muß sie nicht gerade ermuntert haben.
"Beeilen Sie sich bitte, ich habe noch zu arbeiten".
"Darum bin ich gekommen".
Sie sah mich aus ihren großen, tiefblauen Augen an.
"Wir sind fast am Ende unserer Arbeit. Wir haben geschuftet wie noch nie, Sie am meisten. Ist es da nicht recht und billig wenn wir uns ein wenig vergnügen? Wer weiß ob wir es später noch können! Heute abend veranstalten wir eine kleine Feier, zu der wir Sie herzlich einladen. Sie waren bisher nie mit uns zusammen, haben nur gearbeitet, waren abends der Letzte und morgens der Erste. Auch Sie sollten sich etwas Abwechslung gönnen. Man kann nicht immer nur arbeiten".
Als ich keine Antwort gab, fragte sie: "Können wir mit Ihrem Erscheinen rechnen? Ich würde mich sehr freuen".
"Ich weiß noch nicht. Wenn ich rechtzeitig fertig werde und meine Berechnungen beenden kann, werde ich vielleicht kommen".
Ich sah in ihr enttäuschtes Gesicht und es tat mir leid, daß ich so schroff zu ihr gewesen war.
"Würden Sie mich nun alleine lassen, ich habe noch viel zu tun".
Ich schickte sie hinaus und wünschte doch sehnlichst sie möge bleiben.
"Wir werden auf Sie warten", sagte sie, die Tür schnell hinter sich zuziehend, daß ich eine ablehnende Antwort nicht mehr anbringen konnte.
Gegen zweiundzwanzig Uhr betrat ich den großen Aufenthaltsraum. Ich mußte gehen, wollte ich nicht die Leute, die so intensiv mit mir gearbeitet hatten vor den Kopf stoßen.
Plötzlich, wie auf Kommando verstummten alle Gespräche. Sie drehten die Köpfe in meine Richtung und sahen mich erfreut an.
"Hallo Mark", Christian kam gutgelaunt auf mich zu. "Es ist schön, daß du doch noch gekommen bist".
Er nahm mich beim Arm und führte mich zu einem freien Platz neben Dr.Rathke. Ingenieur Steinberg bediente den Musikcomputer und die Paare begannen zu tanzen, alle, bis auf Dr. Rathke.
Sie sah mich aus ihren schönen Augen sehnsüchtig an.
Ich hatte wieder dieses beklemmende Gefühl, wie immer, wenn eine Frau etwas von mir erwartete. Nur heute war es schlimmer, viel schlimmer. Ich wußte, sie wollte mit mir tanzen, doch ich fand einfach nicht den Mut sie darum zu bitten.
Stumm wie ein Fisch saß ich neben ihr und starrte auf einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand.
Bewußt vermied ich es sie anzusehen, bemerkte jedoch ihre sehnsüchtigen auf die Tanzenden gerichteten Blicke.
Da kam Chris.
"He Mark, willst du eigentlich nicht tanzen?", sagte er mit einem kaum zu überhörenden Vorwurf in der Stimme.
"Nein, ich möchte nicht tanzen", hörte ich mich gegen meine Überzeugung sagen. "Ich bin nur auf einen Sprung hergekommen, ich habe noch viel zu arbeiten".
Ich erhob mich, nickte Dr.Rathke zu, "Sie entschuldigen mich bitte", und verlies fluchtartig den Raum.
Ich war wütend auf mich selbst, hätte mich ohrfeigen können.
Wie gerne hätte ich mit ihr getanzt. Aber diese verdammte Schüchternheit.
Ich hörte wie Chris sie zum Tanz aufforderte, doch sie lehnte ab und ich sah sie kommen.
Schnell drückte ich mich in eine Türnische. Sie sollte mich nicht bemerken.
Mit feuchten Augen und ohne mich zu sehen rannte sie an mir vorbei und verschwand in ihrem Zimmer.
Wütend über mich selbst begab ich mich in mein eigenes Zimmer. Wie konnte ein ausgewachsener Mann von einundvierzig Jahren noch so schüchtern sein?
Ich setzte mich auf mein Bett und überlegte ob ich zu ihr gehen sollte um mich zu entschuldigen. Doch sie mußte ja nicht wegen mir geweint haben. Genauso gut konnte sie aus verletzter Eitelkeit geheult haben. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, daß eine Frau wie Dr. Rathke so leicht in ihrer Eitelkeit zu treffen war.
Da mußte schon ein anderer Grund vorliegen der bei ihr diese emotionale Gefühlsäußerung hervorrief.
Im allgemeinen weinen Frauen besonders dann, wenn sie Liebeskummer haben. Sollte Dr.Rathke unglücklich verliebt sein?
Doch nein, der Grund warum sie in Tränen ausbrach war ich.
Nun war nur noch zu klären, was ich getan hatte, das bei ihr solche Gefühle hervorrief.
Nichts, rein garnichts hatte ich getan.
Aber war nicht gerade mein Nichtstun der Anlaß für ihr Weinen gewesen?
Das würde aber bedeuten, daß sie mich liebte; nur so konnte ich mir ihre plötzliche Gefühlsaufwallung erklären.
Aber wieso sollte sie mich, einen mürrischen Mann lieben?
Ja, würde ich wie Christian aussehen! Aber bei meiner Physiognomie!
Und dann noch von einer schönen, jungen Frau geliebt zu werden, von einer Frau, die von Männern umschwärmt wurde.
Sie sollte mich lieben?
Aber kommt es denn auf das Äußere an?
Sollte ich ihr sagen, daß auch ich sie...
Wer sagte mir denn, daß ich mich nicht lächerlich machte, daß sie mich nicht als alten Trottel ansah und, was noch schlimmer wäre, daß sie über mich lachte.
Ich konnte keine Ruhe finden, die Gedanken quälten mich. Am besten war, ich kümmerte mich überhaupt nicht um sie. Aber ich konnte nicht so dasitzen und meinen mich marternden Gedanken nachhängen; ich mußte versuchen mich irgendwie abzulenken.
Ich verlies mein Zimmer um ins Labor zu gehen und zu arbeiten.
Als ich in Höhe von Ilonas Zimmer war, öffnete sich ihre Tür und sie stand vor mir, bekleidet mit einem Bademantel.
Erschrocken sie zu sehen, raste mein Herz und pochte so laut gegen meine Rippen, daß ich Angst hatte sie könne es hören.
"Wollen Sie schon zu Bett gehen?" fragte ich sie, weil mir nichts besseres einfiel." Ich denke, Sie feiern noch mit den anderen".
"Herr Mertens, dürfte ich Sie einen Augenblick zu mir herein bitten".
Mit noch heftiger pochendem Herzen folgte ich ihrer Bitte.
In einem schweren Sessel sitzend wartete ich darauf was sie mir zu sagen hatte.
"Herr Mertens, ich muß Ihnen etwas sagen".
"Dazu bin ich ja wohl hier. Aber beeilen Sie sich,ich habe noch zu tun", sagte ich mit dem barschen Ton hinter dem ich mich so gerne versteckte.
"Ich möchte Sie fragen, ob und was Sie gegen mich haben?".
Sie sah mich dabei an wie eine Schlange ihr Opfer ansieht bevor sie es tötet.
"Nein, warum sollte ich etwas gegen Sie haben?".
Mir war garnicht wohl bei dieser Frage.
"Wie kommen Sie zu dieser Annahme?".
"Ich dachte an vorhin, als Sie so schnell wieder verschwanden.
Muß ich da nicht annehmen, es ist Ihnen unangenehm, wenn Sie sich in meiner Gesellschaft befinden".
Was sollte ich darauf antworten. Ich beschloß, ihr die Wahrheit zu sagen, selbst auf die Gefahr hin ausgelacht zu werden.
"Warum ich so schnell wieder weg bin ist ganz einfach zu erklären. Ja,ich fühle mich in Ihrer Gesellschaft unwohl, obwohl ich Sie sehr gerne mag. Gerade deshalb fühle ich mich in Ihrer Nähe gehemmt. Ich weiß, ich bin ein unmöglicher Mensch, ich möchte nicht, daß Sie sich ein falsches Bild von mir machen. Gerade Sie nicht. Ja,ich liebe Sie. Und nun können Sie mich auslachen und mich einen Trottel heißen. Ändern wird es überhaupt nichts an meinen Gefühlen. Schließlich kann ich lieben wen ich will".
Ich erhob mich, wollte gehen. Aber sie nahm mich am Arm, zog meinen Kopf herunter und küßte mich.
"So, das war die Antwort, und nun kannst du gehen".
Ich ging natürlich nicht, ich blieb die ganze Nacht bei ihr.
Es war die schönste Nacht meines Lebens.
Am Morgen setzten wir unsere Arbeit fort als sei nichts geschehen.
Meinen Mitarbeitern fiel auf, daß ich anders war als sonst, fröhlicher.
Nach der Mittagspause, die ich mit Ilona verbrachte, kam Chris zu mir.
"Sag mal Mark, was ist los mit dir, du bist doch nicht etwa krank?".
"Nein, warum sollte ich krank sein? Aber weil du mein Freund bist will ich dir als erstem sagen, daß ich mich gestern verlobt habe".
Er sah mich kein bißchen erstaunt an. "Es wurde aber auch langsam Zeit".
Er gratulierte erst Ilona, dann mir.
Unsere Arbeit war fast beendet. In zwei Tagen sollte die erste von fünf Teillieferungen der Substanz eintreffen.
Es blieben also nur noch zwei Tage Zeit die Anlagen genauestens zu überprüfen. Endlich war unsere Arbeit vollendet und damit unsere Gefangenschaft aufgehoben.
Dann kam der Tag an dem das große Experiment stattfinden sollte.
Christian und ich waren in dem großen Labor um die letzten Arbeiten zu überwachen.
Ohne Zwischenfälle konnten die umgebauten Flugzeuge mit der aufbereiteten Substanz beladen werden.
Am dreizehnten Februar gab ich das Kommando zum Start.
Nach der Rückmeldung, daß alle Flugzeuge ihre Positionen erreicht hatten, gab ich den Befehl zum Abwurf der Substanz.
Ein paar Minuten später befand sich das Material in den obersten Schichten der Atmosphäre.
Von diesem Zeitpunkt an würden in den nächsten vier Jahren viele, sehr viele Menschen, Tiere und Pflanzen sterben.
Aber mußte nicht die Hoffnung auf eine saubere Umwelt, auf eine lebenswürdige Umgebung dieses große und in seiner Tragik nicht zu überbietende Opfer rechtfertigen?
Im Herbst war die Atmosphäre grau und stickig, verhangen vom Smog.
Die nächsten vier Jahre sollte keine Sonne durch den dicken Smog auf die Erde gelangen. Doch dann wird die Atmosphäre wieder so sauber sein wie vor vielen tausend Jahren.
Ich hatte in unserer Wohnung ein Filter angebracht, das den zum Leben notwendigen Sauerstoff wenigstens notdürftig vom Smog befreien sollte. Spätestens alle zwei Tage mußte das Filter ausgewechselt werden, damit die Anlage arbeiten konnte.
Auf den Straßen sah es grau und trist aus, trostlos.
Menschen und Tiere litten an Atemnot. Die Schwachen starben, die Starken überlebten; aber nur so lange bis auch sie schwach waren und starben.
Es gab kein Fleckchen mehr auf der Erde wo man sich erholen konnte, überall war der tödliche Smog.
Weil die Sonne die dichten Dreckschwaden nicht mehr zu durchdringen vermochte, war es nicht verwunderlich, daß auch viele Pflanzen den Weg alles irdischen gingen.
Im Spätherbst, drei Jahre nach dem großen Experiment, konnte man ganze Landstriche völlig abgestorben sehen. Die Zahl der Menschen hatte sich stark reduziert. Es waren, wo man auch hinsah, keine alten Leute mehr zu sehen.
Die Kindersterblichkeit hatte in einem Maße zugenommen, wie es nie zuvor, seit der Geschichte des Menschen der Fall war.
Es gab so gut wie keine Krankheit mehr, weil nur die Gesunden und Starken überlebten.
Sah man Leute auf der Straße, waren sie dick vermummt, mit einer Maske versehen, die die Atemwege schützen sollte.
Ich war mit Ilona glücklich, so glücklich wie man unter diesen Umständen leben konnte. Wir hatten keine Kinder,weil wir es unter diesen Bedingungen nicht verantworten konnten Kinder zu haben.
Nur noch sechs Monate mußten vergehen bis die große Umwandlung stattfand. Am zehnten Januar erkrankte Ilona. Ich setzte Himmel und Hölle in Bewegung, bemühte sämtliche Beziehungen um ihr zu helfen. Aber alles war sinnlos.
Acht Tage vor der großen Umwandlung starb sie. Niemand vermochte ihr zu helfen, sie zu retten.
Und dann, am sechzehnten Februar, vier Jahre nach dem Experiment, stellten Meteorologen auf der Mount-Palomar Sternwarte einen Rückgang der Luftverschmutzung fest. Es dauerte noch einige Zeit bis die dichte Dunstschicht sich so weit aufgelöst hatte, daß die Sonne ganz zaghaft durchscheinen konnte.
Von da an wurde es von Tag zu Tag besser.
Die Erde lag unter einer dicken Staubschicht. Diesen Staub, der vorher als Smog in der Luft hing, galt es nun zu beseitigen. Es sollte Jahre dauern bis dieser Dreck beiseite geräumt war. Aber wohin damit?
Als einziger Ausweg blieb ein toter, unbewohnter Planet.
Da bot sich der Mond geradezu an.
Und so wurde der ehemals so romantisch besungene Erdtrabant zu einer riesigen Müllhalde, zur Kloake der Erde.
Vorsichtigen Schätzungen zufolge stellte man fest, daß etwa zehn millionen Menschen gestorben waren. Nicht nur viele Menschen, auch die Erde, das heißt, die Fauna und Flora waren bis zu fünfzig Prozent tot.
Es lag nun an dem Menschen das Wachstum so zu lenken, daß die Erde von einer starken Vegetation bedeckt wurde.
Daß dies gut gelang zeigt sich heute, zehn Jahre nach der großen Umwandlung. Dank der unempfindlich gewordenen Flora gibt es auf der Erde fast keine Wüsten mehr.
Doch so sehr sich auch die Umwelt gewandelt hat, der Mensch ist der gleiche geblieben in seiner Arroganz und Dünkelhaftigkeit. Nur in einem hat er sich geändert, er achtet mehr auf die Erhaltung seiner Umwelt, er versucht nicht mehr die Natur zu vergewaltigen. Doch sonst ist er geblieben wie er war, hochmütig und arrogant.
Und nur deshalb stehe ich heute vor diesem Gericht und versuche mich zu rechtfertigen obwohl ich weiß, daß alles zwecklos ist. Zwecklos deshalb, weil sich ein einzelner in Ihren Augen angemaßt hat über das Schicksal von zehn millionen Menschen zu bestimmen.
In Ihren Augen spielt es keine Rolle, daß noch mehr gestorben wären, daß der ganze Planet Erde gestorben wäre, hätte ich dieses Unternehmen nicht gewagt.
Dank meiner Initiative und der meiner Mitarbeiter können Sie heute wieder unbesorgt leben, können Ihre Kinder wieder in der Sonne spielen, was vor fünfzehn Jahren unmöglich gewesen wäre".
Damit war ich am Ende meines Berichtes angelangt.
"Sie geben also zu am Tode von zehn millionen Menschen schuldig zu sein".
Stehend, den Zeigefinger drohend auf mich gerichtet, vernahm ich die Stimme des Staatsanwaltes.
"Ja", lautete meine Antwort. "Wenn man es als Schuld betrachten kann die Erde und ihre Bewohner vor dem sicheren Untergang bewahrt zu haben, dann bin ich schuldig.
Der Tod so vieler unschuldiger Menschen war nicht sinnlos; sie sind gestorben damit andere leben können".

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.03.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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