Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie, Teil 31

Wider Erwarten verlief die Nacht ohne weitere Ereignisse. Als Michael erwachte, waren die anderen schon damit beschäftigt, sich reisefertig zu machen. Gähnend streckte Michael die von der Nacht auf dem harten Boden noch steifen Glieder und erhob sich. Neben ihm schnürte Glyfara gerade ihr Bündel zu. Michael, dessen Magen knurrte, sah sie erstaunt an.
„Wird nicht gefrühstückt?“, fragte er.
„Später“, erwiderte Glyfara. „Wir sind nicht allein hier. Grüneich behauptet, heute Nacht sei in einiger Entfernung eine Gruppe mit Fackeln vorbeigekommen.“
„Stimmt“, brummte der Troll, der damit beschäftigt war, seine Armbrust von der Feuchte der Nacht zu befreien. „Nur dem Umstand, daß unser Feuer bereits herunter gebrannt war, haben wir es zu verdanken, daß sie nicht auf uns aufmerksam wurden.“
„Vielleicht waren es nur ein paar harmlose Bauern“, hielt Michael dagegen, der ungern auf das Frühstück verzichten wollte.
„Das glaube ich kaum“, schaltete Streitaxt sich ein. „Bauern ziehen nicht mitten in der Nacht mit Fackelbeleuchtung durch die Gegend. Wir sollten daher auf jeden Fall vermeiden, mit ihnen in Berührung zu kommen und zusehen, daß wir von hier verschwinden. Je eher wir diesen Wald erreichen, desto besser.“
Grüneich nickte bestätigend.
„Brechen wir auf“, brummte er.
 
Im Schutz des Morgennebels, der noch in den Tälern hing und sich vereinzelt in den Ästen der Bäume verfing, brachen sie auf. Grüneich führte die Gruppe an, gefolgt von Grimmbart, der sich nicht sicher war, wem er mehr Aufmerksamkeit schenken sollte, der Umgebung oder dem voraus schreitenden Troll. Den Zwischenfall der vergangenen Nacht hatte er nicht vergessen. Im Gegensatz zu Glyfara bezweifelte er, daß die Aktion lediglich auf das Temperament des Trolls zurückzuführen war. Doch Grüneich verhielt sich so, als sei nichts geschehen. Ohne zu zögern führte er die Gruppe zügig nach Westen vorbei am Drachenzahnmassiv, wobei er sich jedoch auf jeder Hügelkuppe vergewisserte, daß kein Gehöft in der Nähe war. Auf diese Weise verging der Vormittag, und die Spannung verflog nach und nach wie der Morgennebel. Als die Sonne schließlich auch noch den letzten Rest Feuchtigkeit der vergangenen Nacht vertrieben hatte, empfand sogar Grimmbart wieder Zuversicht. Nur von kleinen Pausen unterbrochen, marschierten sie bis zum Nachmittag durch. Das Hauptmassiv des Drachenzahns lag inzwischen hinter ihnen, so daß sie nun zu ihrer Rechten die letzten Ausläufer des Gebirges passierten. Dem finsteren Gesichtsausdruck des Trolls nach zu schließen, näherten sie sich dem gewaltigen Waldgebiet. Michael fröstelte unwillkürlich. Er dachte an die verlassenen Bauernhäusern, an denen sie vorbeigekommen waren. Die leeren Fensterhöhlen in den vom Zahn der Zeit angefressenen Hausfassaden hatten etwas Bedrohliches gehabt. Nicht nur Michael war unwillkürlich ein Schauder den Rücken hinunter gelaufen. Sogar das Grün der Pflanzen schien von einem Grauschleier befallen zu sein und wirkte selbst in der warmen Mittagssonne krank.
„Dieser Düsterwald scheint seinen Namen zu Recht zu tragen“, bemerkte Michael. Nachdenklich strich er mit der Hand über seinen Kampfstab.
„Keine Sorge, wenn ihr euch dicht an mich haltet, werdet ihr ihn überleben, wenn ihr allerdings den Anschluß verliert oder meinen Anweisungen nicht folgt oder im Wächterwall auch nur einen falschen Schritt macht ......“
Der Troll ließ die Worte in der Luft hängen.
„Was ist der Wächterwall?“, wollte Grimmbart wissen.
Grüneich erklärte es den Gefährten.
„Bäume, die Eindringlinge mit ihren Wurzeln und Ästen einfangen und töten. Abgefahren, und das sollen wir dir abnehmen“, zweifelte Michael die Erklärung des Trolls an.
„Wenn ihr überleben wollt, tätet ihr gut daran, nicht an meinen Worten zu zweifeln. Meidet im Wald scheinbar freie Lichtungen und leicht zu passierende Stellen. Dort liegen meistens Fallen bereit. Wählt lieber den Weg dicht an den Stämmen vorbei, und quetscht euch durch das Dickicht. Am besten folgt ihr Schritt für Schritt meinen Fußspuren. Dann kann euch am wenigsten passieren. Eine Garantie kann ich euch allerdings auch nicht geben.“
„Schlecht“, brummte der Wühler, worauf Streitaxt lässig abwinkte.
„Dieser Axt hat bisher noch kein Holz widerstanden“, knurrte er und tätschelte demonstrativ das Blatt seiner Streitaxt, worauf Glyfara die Augen verdrehte.
„Zwerge“, murmelte sie, als sei damit alles gesagt.
 
Erneut folgten sie Grüneich, der einen ausschreitenden Schritt an den Tag legte. Auf diese Weise gelang es ihnen voranzukommen, ohne daß ihre Kräfte allzusehr in Mitleidenschaft gezogen wurden. Nachdem sie mehrere Stunden zügig marschiert waren, wurde die Landschaft wieder hügeliger.
„Dahinter liegt der Düsterwald“, klärte Grüneich die Gefährten auf. Mit der Hand wies er auf eine Hügelkette, die mehr an eine aufgeschüttete Barriere denn an eine natürliche Erhebung erinnerte.
Tatsächlich dauerte es keine weitere Stunde, bis sie den Waldrand erreichten, dessen Anblick sich nicht einmal im Ansatz mit dem deckte, was Michael sich darunter vorgestellt hatte. Der Übergang zwischen dem offenen Land und dem Wald verlief völlig abrupt, fast so, als habe eine höhere Instanz mit einem Lineal eine Grenze gezogen.
Wie ein Bollwerk ragten uralte Bäume vor Ihnen auf, deren Äste hoch oben zu einem undurchdringlichem Baldachin aus grünen Blättern verflochten waren, was dazu führte, daß in diesem Wald ein immerwährendes Dämmerlicht herrschte. Michael begann zu begreifen, wie der Wald zu seinem Namen gekommen war. Düsterwald, diese Bezeichnung paßte wirklich.
In dem fahlen, dämmrigen Licht, das zwischen den mannsdicken, schwarzen Stämmen der hoch aufragenden Bäume herrschte, kämpften die jüngeren Bäume mit dem Strauchwerk um das spärliche Licht. Etliche hatten den Kampf bereits verloren und reckten nun anklagend ihre toten Äste in den Himmel. Anscheinend fiel selbst Bäumen das Überleben in diesem Wald schwer. Michael fröstelte. Der Wald wirkte abweisend auf ihn. Feindselig. Gefährlich. Unwillig schüttelte er den Kopf. Was hatte er nur für abstruse Gedanken? Das war schließlich nur ein Wald, ein verdammt großer zwar, aber trotz allem eben nur ein Wald. Trotzdem vermochte er das ungute Gefühl nicht los zu werden, das ihn beim ersten Anblick beschlichen hatte. Offenkundig sahen die Gefährten das ähnlich, denn wie auf ein geheimes Kommando blieb die Gruppe zwanzig Meter vor dem Wald stehen.
„Bei den Äxten meiner Ahnen, dieser Wald kann sogar einem Zwerg Angst einjagen“, gab Grimmbart widerstrebend zu. Nachdenklich strich er sich durch seinen Bart, während seine Augen jedes Detail des vor Ihnen aufragenden Hindernisses wahrnahmen.
„Sieht nicht gerade aus wie der Stadtpark“, räumte Michael ein, der zu Grüneich hinüber schielte. Der Troll hatte die Keule vor sich abgestellt und stützte sich nun schwer mit beiden Händen auf den Griff, als ob eine Last auf seinen Schultern liegen würde, während er mit undeutbarem Gesichtsausdruck die aufragende grüne Wand musterte. Michael erinnerte sich an die Worte Lugors und glaubte zu ahnen, was in dem Troll gerade vorging. Ohne den Blick von dem Bollwerk aus Pflanzen abzuwenden, meldete sich Grüneich mit ungewohnt leiser Stimme zu Wort:
„Es gibt ein Sprichwort über den Düsterwald. Man sagt, er ist ein Jagdgebiet, und jeder, der sich hineintraut wird zur Beute. Früher oder später.“
„Unsinn! Wald ist Wald, und dort war ich bisher immer noch die Jägerin!“
Zuversichtlich klopfte Glyfara auf ihren Pfeilköcher.
„Nicht in diesem Wald Dieser Wald ist anders. Merkt es denn keiner von euch?“
„Was sollen wir merken?“, knurrte Streitaxt ungehalten, der nichts für Rätsel übrig hatte.
„Es fehlen die typischen Geräusche“, stellte Glyfara fest. Das war in der Tat ungewöhnlich und ihr bisher noch nicht aufgefallen. Aufmerksam lauschten die Gefährten und schauderten, als ihnen gewahr wurde, was die Elbin meinte. Sie konnten nur den Wind, der durch die Blätter pfiff und das Knacken von trockenen Zweigen vernehmen, aber kein Zwitschern von Vögeln, kein leichtes Rascheln des Unterholzes und kein Summen von Insekten. Da war nur ein Schweigen.
„Unheimlich“, brummte der Wühler. Sein Fell sträubte sich leicht.
„Ich frage mich, ob es wirklich klug ist, sich dort hinein zu begeben?“ Nervös musterte Michael die dunklen Stellen zwischen den Stämmen. Sie waren im Begriff, ein Schattenreich zu betreten.
„Zumindest wird uns keiner folgen.“ Wie immer sah Grimmbart das Pragmatische der Situation.
„Gut erkannt.“ Der Troll legte den Kopf in den Nacken und musterte den Stand der Sonne. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, so, als sei er sich über etwas nicht schlüssig. Mit finsterer Miene wandte er sich den Gefährten zu. „Die Zeit ist zwar knapp, aber wir können den Wächterwall noch durchqueren. Aber aufgepaßt, wenn wir erst einmal im Wald sind, dürft ihr auf keinen Fall von dem von mir eingeschlagenen Weg abweichen. Das könnte tödlich sein. Und selbst wenn ihr mir wie ein Schatten folgt, gibt es keine Garantie dafür, daß nicht doch etwas passiert. Ich hoffe, daß ist jedem von euch klar.“ Die Gefährten nickten betroffen. „Das ist jetzt die letzte Gelegenheit für euch umzukehren. Will einer von euch hierbleiben?“ Fragend sah der Troll in die Runde, doch die Gefährten schwiegen, wenngleich ihre Gesichter höchst unterschiedliche Entschlossenheit ausdrückten. „Also dann“, lässig schulterte Grüneich seine Keule und wandte sich dem grünen Pflanzenwall zu, „packen wir es an.“
Action“, stimmte ihm der Wühler zu.
 
Der Eintritt in den Wald glich dem Betreten einer fremden Welt. Selbst Glyfara, die den größten Teil ihres Lebens im Wald verbracht hatte und im Laufe ihres Lebens selbst zu einem Teil des Waldes geworden war, spürte, daß in diesem Wald andere Gesetze herrschten. Dieser Wald wirkte fremdartig und auf eine nicht zu beschreibende Art bedrohlicher als alle Wälder, die sie jemals durchstreift hatte.
Dies spürten auch die übrigen Gefährten.
Die grünbraune Finsternis, die durch das hoch über ihnen befindliche, nahezu undurchdringliche Blätterdach der riesigen Bäume bewirkt wurde, machte aus diesem Wald ein Schattenreich voll unbekannter Gefahren. Michael, der in der Schule gelernt hatte, daß in dichten Dschungelgebieten gerade einmal zehn Prozent des Sonnenlichts den Boden erreichte, so daß das unterste Stockwerk des Waldes normalerweise frei von Vegetation war, seufzte beim Anblick des Dickichts um sie herum. Warum sollte auf ihrem Trip zur Abwechslung einmal irgend etwas normal sein?
Der Weg, den Grüneich eingeschlagen hatte, war bereits nach wenigen Metern hinter einer Mauer aus dichtem, grünbraunen Pflanzenbewuchs verschwunden, so daß der Troll schon nach kurzer Zeit gezwungen war, sich mittels seiner Keule einen Weg durch das Dickicht zu bahnen. Michael knurrte verärgert. Wenn er jemals zurückkehren sollte, würde er seinem Erdkundelehrer erklären, wie es in einem Dschungel wirklich aussah. Er korrigierte sich, falls er zurückkommen sollte, wobei er sich den Schweiß, der nicht nur auf das feucht warme Klima, das hier herrschte, zurückzuführen war, von der Stirn wischte und sich bemühte, nicht den Anschluß zu verlieren. Zum ersten Mal fragte er sich, in welcher Klimazone er eigentlich gelandet war? Warm war es bisher immer gewesen, wenn nicht sogar heiß, doch das war es zu Hause im Hochsommer auch. Das feuchtwarme Klima dieses Waldes ließ jedoch eher befürchten, daß sie in tropischen Regionen unterwegs waren.
Angeekelt rümpfte er die Nase, als ihm die Ausdünstungen des Waldes in die Nase stiegen. Die schwülwarme, feuchte Luft war geschwängert mit dem Geruch von Moder und verrotteten Pflanzenteilen und sorgte dafür, daß nach und nach ein dünner Schweißfilm seinen gesamten Körper bedeckte. Wenn das so weiterging, würde er in ein paar Tagen stinken wie ein Iltis.
Wütend fegte er eine tief hängende Liane beiseite, während er den Gefährten hinterher tiefer in diesen Urwald stapfte. Als Junge hatte er wie die meisten seiner Altersgenossen davon geträumt, einmal einen echten Urwald zu betreten. Aber nachdem sie in der Schule den Amazonas durchgenommen hatten, hatte dieser Wunsch eine strikte Wandlung erfahren. Angesichts der Gefahren, mit denen man in so einem Gebiet rechnen mußte, konnte er sich nun eine Menge andere Plätze vorstellen, die er lieber aufgesucht hätte. Mit Schaudern dachte er an seinen Vortrag über die einheimische Population im Regenwald des Amazonas zurück, während er argwöhnisch den Boden vor sich musterte. Doch zu seiner Beruhigung konnte er weder große Jagdspinnen, noch Skorpione entdecken, die für Regenwaldgebiete typisch sind. Aber das mußte nicht bedeuten, daß es sie hier nicht gab, von den anderen Gefahren ganz zu schweigen. Dunkel erinnerte er sich an die vielen Giftschlangen und die verschiedenen Fliegenarten, welche die unterschiedlichsten tödlichen Krankheiten übertragen konnten. Michael spürte Ekel in sich aufsteigen bei dem Gedanken, was ihn in diesem Wald wohl für widerliche Insekten erwarten würden. Er konnte sie einfach nicht leiden, auch wenn sein Lehrer behauptet hatte, die Menschheit würde innerhalb von sechs Monaten aussterben, wenn es keine Insekten geben würde. Jedenfalls war Michael mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, ob sie mit der Durchquerung dieses Waldes wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatten.
 
Glyfara beschäftigten ähnliche Gedanken. Mit ihren Elbenkräften hatte sie probiert, sich einen Weg durch die dichte Vegetation zu bahnen, aber der Düsterwald hatte von ihren Bemühungen keine Notiz genommen. Nicht ein einziges Blatt sah sich genötigt, sich zur Seite zu biegen, um sie durchzulassen. Glyfara schluckte, als sie spürte, wie eine Gänsehaut ihren Rücken hinab kribbelte. Dies war kein Wald mehr, sondern ein feindlicher Dschungel, nahezu undurchdringlich für jeden, der sich hier nicht auskannte und bereit, sie alle zu verschlingen. Zum ersten Mal war nicht nur Glyfara dankbar dafür, daß sie den Troll hatten überreden können, sie zu führen. Die Elbin dachte an die Legenden, die sich um diesen Wald rankten. An die vielen Wagemutigen, die ihn betreten hatten und von denen keiner zurückgekehrt war. Allmählich begann sie zu glauben, daß an den Legenden etwas dran war.
„Das ist doch kein Wald.“ Unwillkürlich flüsterte Michael, doch obwohl er das Schlußlicht in ihrer Gruppe bildete, konnten ihn alle gut verstehen, denn abgesehen von dem Brechen der Zweige, die Grüneichs Keule verursachte, herrschte im Wald absolute Stille. Totenstille.
„Dschungel“, bestätigte der Wühler, der neugierig, wie er war, direkt hinter dem Troll herlief und nicht müde wurde, gelegentlich die eine oder andere Pflanze an zu knurren, wenn diese sich in seinem Fell zu verheddern drohten.
„Geht das etwa ewig so weiter?“, fragte Grimmbart ungehalten. In den Bärten der Zwerge hatte sich bereits ein Sammelsurium von Blättern verhakt, so daß sie wütend mit ihren Äxten auf alles eindroschen, was ihnen auch nur ansatzweise zu nahe kam.
„Nein, jenseits des Wächterwalls ist die Vegetation weniger dicht“, erläuterte Grüneich. „Allerdings heißt das nicht, daß sie weniger gefährlich ist.“
„Jetzt fühle ich mich gleich viel besser“, knurrte Streitaxt sarkastisch.
„Freut mich zu hören“, gab Grüneich mit einem Grinsen zurück.
„Glyfara“, sprach Grimmbart die Elbin an. „Von dir haben wir noch gar nichts gehört. Du kennst dich doch mit Wäldern aus. Was hältst du von diesem hier?“
„Er hat nichts mit den Wäldern meiner Heimat gemein.“ Sie seufzte. „Und es ist der erste Wald, der mir Angst macht. Meine Kräfte wirken hier nicht.“ Hilflos zuckte sie mit den Achseln.
„Nun bin ich endgültig beruhigt“, brummte Streitaxt.
 
Wider Erwarten verliefen die nächsten zwei Stunden ohne nennenswerte Ereignisse. Weder tat sich ein Schlund in der Erde auf, noch wurden sie von wild gewordenen Ästen oder Zweigen attackiert. Trotzdem war Michael überzeugt, daß der Troll sich dies nicht ausgedacht hatte. Gelegentlich waren sie unvermittelt auf eine freie Fläche gestoßen, um die er sie vorsichtig  in einem großen Bogen herumgeführt hatte. Michael hatte zwar bisher nichts Bedrohliches entdecken können, gleichwohl kämpften Ehrfurcht vor diesem einmaligen Wald und nackte Angst vor den tief in den Schatten verborgenen Gefahren in seinem Inneren um die Vorherrschaft. Besorgt beobachtete er seit einiger Zeit den Troll der jetzt immer öfter einen Blick zu dem dichten Blätterdach hinauf warf und im Anschluß noch heftiger auf die Vegetation einhieb. Der Grund war selbst Michael klar. Die Dämmerung stand unmittelbar bevor, und mit ihr begann sich der Wald zu verändern, so, als würde etwas unvorstellbar Böses erwachen. Michael schluckte nervös. Schon jetzt verschwamm die Umgebung allmählich mit den Schatten. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er Mühe haben würde, nicht den Anschluß zu der zehn Schritt vor ihm ausschreitenden Glyfara zu verlieren. Was erst passieren würde, wenn es völlig dunkel war, verdrängte er vorsorglich.
„Dauert es noch lange?“, fragte er, wobei es ihm nicht ganz gelang, das Zittern aus seiner Stimme zu verbannen. Der Troll zögerte einen Augenblick mit der Antwort, ohne daß er jedoch mit der Vernichtung der vor ihm befindlichen Vegetation innehielt. „Ich hoffe nicht“, kam schließlich ausweichend die Antwort. Michael wollte sich gerade über den Troll aufregen, als er plötzlich eine Berührung an seiner linken Wade bemerkte. Bevor er registrieren konnte, um was es sich handelte wurde er auch schon von den Füßen gerissen und schlug schwer auf dem feucht modrigen Waldboden auf. „Hilfe“, brüllte er entsetzt, als er gnadenlos über den Waldboden ins Dickicht gezogen wurde. Sofort eilten die Gefährten ihm zu Hilfe, Glyfara vorneweg. Mit einem Hechtsprung gelang es ihr gerade noch den rechten Arm Michaels zu erwischen, bevor dieser vollständig in die dichte Vegetation zur linken Hand des schmalen Pfades gezogen wurde. „Halte durch“, keuchte sie, während sie versuchte, Michael dem Zugriff des Waldes zu entziehen. Zugleich schlugen Grimmbart und Streitaxt energisch zu beiden Seiten eine Bresche in das Dickicht, um an Michael Bein heranzukommen. Der stöhnte, als er spürte, wie sich die Schlingpflanze immer enger um sein Bein schloß. Kleine Dornen durchdrangen  sein Hosenbein und stachen schmerzhaft in die darunter befindliche Haut, die taub zu werden begann. „Beeilung“, rief er panisch. Grüneich, der inzwischen die Stelle Glyfaras eingenommen hatte und Michaels Arme nunmehr in seinen Pranken hielt, machte ein besorgtes Gesicht, was nicht unbedingt dazu angetan war, Michael zu beruhigen. „Der Wächter ist erwacht. Wir haben nicht mehr viel Zeit“, teilte er den anderen mit düsterer Stimme mit.
„Schlecht“, ließ sich der Wühler vernehmen, der nicht so recht wußte, wen oder was er denn nun beißen sollte. Er war es nicht gewohnt, daß der Wald selber zum Feind werden konnte. Während er den Wald um sie herum argwöhnisch nach einem Wächter absuchte, ließ der Zug um Michaels Bein zu dessen Freude plötzlich nach. „War nur eine Schlingpflanze“, ertönte Grimmbarts Stimme aus dem Dickicht, in das er sich mittels kräftiger Axthiebe gnadenlos vorgearbeitet hatte. Dankbar befreite sich Michael von den Pflanzenresten und war unendlich erleichtert, als er wieder auf seinen Beinen zwischen den Gefährten stand.
„Für eine bloße Schlingpflanze hatte das Biest eine verdammte Kraft“, fluchte er während er die letzten Dornen aus seiner Hose zog. Die Haut darunter brannte, als sei sie mit einer Brennessel in Berührung gekommen.
„Kein Wunder, das war keine einfache Schlingpflanze, sondern ein Teil des Wächters“, klärte Grüneich die Gefährten auf. „Der Wächter ist nichts anderes als eine gigantische Pflanze, die zum Glück überwiegend nachtaktiv ist. Darum sind wir tagsüber eingedrungen. Das ist die einzige Chance, um hier durchzukommen.“
„Dann sollten wir zusehen, daß wir hier verschwinden“, bemerkte Grimmbart trocken mit einem bezeichnenden Blick zum Himmel. Das letzte Sonnenlicht tauchte gerade noch die oberen Astregionen in das schon bekannte grüne Licht, darunter wurde es beunruhigend schnell dunkel. Wie zur Bestätigung, begann es rund um die Gefährten in beängstigendem Maße zu rascheln. Wurzeln und Tentakel schoben sich plötzlich von allen Seiten aus dem Gestrüpp, um nach Beute zu tasten, doch noch wurde ihr Vormarsch kompromißlos von den Zwergen gestoppt, die mit ihren Äxten alles kappten, was sich bewegte. Doch das Rascheln wurde von Sekunde zu Sekunde bedrohlicher.
„Rennt um euer Leben.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, sprintete Grüneich los und brach wie eine lebende Lokomotive durch das vor ihnen liegende Gestrüpp. Die Gefährten folgten dicht auf, wobei sie jedoch immer mehr Schwierigkeiten hatten, sich der aufdringlichen Vegetation zu erwehren. Michael hatte zwar schon von Pflanzen gehört, die auf Bewegung reagierten wie Blätter, die sich plötzlich zusammenrollten oder Blüten, die sich öffneten und fleischfressenden Pflanzen, die nach Insekten schnappten, doch das hier übertraf seine Vorstellungskraft. Es war, als würde der Wald im wahrsten Sinne des Wortes zum Leben erwachen. Knirschend biß er die Zähne zusammen und kämpfte sich weiter durch das Dickicht. Mittlerweile gab es wohl kaum eine unbedeckte Hautpartie, der die aufdringlichen Pflanzen keine Schrammen zugefügt hatten. Er hoffte nur, daß sie nicht giftig waren. Hatte der Troll nicht irgend etwas über Pflanzen mit halluzinogener Wirkung erzählt? Im Hinterkopf machte Michael sich eine dringende Notiz, in Zukunft in Botanik besser aufzupassen. Zu allem Überfluß war das Sonnenlicht nun völlig verschwunden, so daß die Gefährten in dem schwachen Dämmerlicht halbblind durch den Wald stolperten und Schwierigkeiten hatten, sich an dem kaum wahrnehmbaren Schemen ihrer Vordermänner zu orientieren. Es war daher kein Wunder, daß es einen Augenblick dauerte, bis sie bemerkten, daß sich die Vegetation um sie herum drastisch verändert hatte. Soweit Michael das in der Dunkelheit ausmachen konnte, war der Boden um sie herum nunmehr annähernd frei von Vegetation. Ihre Stelle hatten verrottete Baumstämme, Pilze und abgestorbene Äste eingenommen. Der weiche Waldboden hatte sich in einen rutschigen Mulch aus verwesenden Blättern verwandelt, unter dem sich die Wurzeln der riesigen Bäume entlang schlängelten, über die Michael prompt stolperte und der Länge nach hinfiel. Während er sich fluchend wieder aufrappelte und versuchte, den Dreck von seiner Kleidung zu wischen, führte Grüneich eine Bestandsaufnahme durch.
„Wir sind durch. Haben es alle ohne Verletzungen geschafft?“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Nur der Wühler beschwerte sich über die Pflanzenreste, die sich in seinem Fell verheddert hatten. Er erinnerte Michael an ihren Komposthaufen zu Hause, nur daß der keine vier Pfoten hatte. Während er sich bemühte, ein Grinsen zu unterdrücken, war Glyfara dem verärgerten Wühler behilflich, die Pflanzenreste aus seinem Fell zu beseitigen. Grüneich schüttelte bei diesem Anblick mißbilligend den Kopf. Wie er mit dieser Truppe wohlbehalten durch den Wald gelangen sollte, war ihm schleierhaft. Er hätte sich nie auf dieses Unternehmen einlassen dürfen. Schon die erste Hürde hatten sie kaum bewältigt, und dabei war dies nur ein harmloser Auftakt gewesen. Die wirklichen Gefahren lagen tiefer im Wald verborgen. Schon die bloße Erinnerung daran ließ den massigen Troll schaudern. Prüfend glitt sein Blick über die Gruppe, während er sich fragte, wer wohl das erste Opfer werden würde, denn er hielt es für nahezu ausgeschlossen, daß die ganze Truppe wohlbehalten das andere Ende des Waldes erreichen würde. Die besten Chancen räumte er der Elbin ein, die sich in einem Wald zu bewegen verstand. Ihre Jagdinstinkte, Reflexe und Erfahrung mit Wäldern würden ihr helfen zu überleben. Bei den an die Zähne bewaffneten Zwergen sah es da schon anders aus. Nicht immer half die Waffe in der Hand, um mit den Gefahren dieses Waldes fertig zu werden, und dann waren da noch der Junge und sein zottiges Tier. Als Grüneichs Blick kurz auf ihnen verharrte, überkam ihn eine böse Vorahnung.
„Und wie geht es jetzt weiter? In der Dunkelheit können wir es wohl kaum wagen, weiter zu marschieren. Auf der anderen Seite bin ich nicht sicher, ob uns nicht hier Gefahr droht, wenn wir bleiben?“, knurrte Grimmbart ungehalten und riß den Troll damit aus seinen Gedanken.
„Gefahr droht hier überall, allerdings nicht von dem Wächter“, erwiderte Grüneich düster, der sich wieder auf das Naheliegende konzentrierte, und das hieß Überleben. „Wir haben sein Territorium definitiv verlassen. Heute nacht rasten wir hier.“
Grimmbart hatte da zwar seine Zweifel, behielt sie jedoch für sich, denn im Gegensatz zu dem Troll kannte er sich in diesem Wald nicht aus. Also beschloß er fürs erste, dem Troll im Hinblick auf die Einschätzung der Gefahren zu vertrauen. Trotzdem würde er wachsam bleiben.
 
Kurze Zeit später spendete ein kleines, flackerndes Lagerfeuer tröstendes Licht in der Welt der Schatten. Im Schutze eines umgestürzten Urwaldriesen kauerten die Gefährten nun erschöpft um das Feuer und nahmen ein karges Abendessen ein. Während alle schweigend kauten, bemerkte Michael, daß der Troll gelegentlich verstohlene Blicke zu Glyfara hinüber warf. Ob sein Interesse dabei der Elbin oder ihrem Lederbeutel, in dem sie das Artefakt aufbewahrte, galt, vermochte er nicht zu sagen. Möglicherweise war das Mißtrauen der Zwerge doch berechtigt, überlegte er. Da die Müdigkeit sich nach dem kargen Mahl spürbar bemerkbar machte, verschob er die Grübeleien auf den nächsten Tag und bereitete sein Lager für die Nacht. Bevor er in einen unruhigen Schlaf fiel, registrierte er noch dankbar, daß die Zwerge sich bereit erklärten, Wache zu halten.  


Wird fortgesetzt ....... kann aber dauern....

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.01.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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