Maryanne Becker

Wahnsinnig?


Die Vorstadtstraße liegt unter einem milchigen Nebelschleier, alles ist vollkommen still, nur die gregorianischen Gesänge in meinen Ohren zeugen von der Tatsache, dass ich lebe. Ich scheine zu schweben, meine Schritte berühren das Kopfsteinpflaster nicht, ich spüre mich nicht. Nirgendwo sind die Sänger auszumachen, ich muss sie finden!
Mein Haus: Irgendwie bin ich hingelangt. Ganz deutlich kann ich es sehen, die Konturen, jeden einzelnen roten Backstein. Die Sänger müssen drinnen sein, das ist sicher! Ich werde hinein gehen und sie bitten, ein wenig innezuhalten, ich will wissen, warum sie immer wieder dasselbe singen und niemals aufhören.
Während ich die Klinke ergreifen will, reihen sich – fallenden Dominosteinen gleich – lauter Backsteine vor die Tür. Von oben fällt eine Strickleiter herab. Irritiert schaue ich hoch und sehe sie im Fenster: Gestützt auf einem schmierig blauen Sofakissen, der riesige Busen in einem ausgeleierten grauen Sweatshirt, das wabbelnde Doppelkinn, die Leiterenden fest im Griff haltend! Ihr hämisches Grinsen verdeutlicht mir die Ausweglosigkeit meiner Lage. Sie bewegt die Lippen, aber sie redet nicht mit mir. Sobald ich versuche, die Stricke zu fassen, zieht sie die Leiter ein wenig höher. Sorgsam überlege ich die Worte: ich muss sie überzeugen, dass es mein Haus ist, dass ich die Sänger finden muss. Das Dröhnen in meinem Kopf lässt nicht nach. Ich habe keine Zeit zu verlieren, sie wird mir nicht freiwillig helfen, alles häng von der treffenden Formulierung ab. Warum redet sie nicht mit mir? Oder ist die Musik so laut, dass sie ihre Tiraden übertönt?
Suchend blicke ich umher, ich brauche ein Hilfsmittel, einen alten Gartenstuhl, einen Eimer, etwas worauf ich steigen und die Leiter erreichen kann. Da, ein Stuhl, die Rettung. Ich stelle ihn ans Haus und bemerke, dass ein Bein fehlt. Verzweifelt schaue ich hoch und sehe, wie sie genüsslich eine Säge hin und herschwenkt.
Plötzlich ein Blinken und Blitzen: Feuerwehr, Krankenwagen und Polizeiautos mit eingeschalteten Sirenen. Völlig lautlos haben sie sich angeschlichen und einen perfekten Halbkreis um das Haus geschlossen. Die Fenster sind vergittert. Heraus stürmen weiße, gesichtslose mit Messern und Degen ausgerüstete Gestalten. Ich presse mich fest an die Hauswand, versuche zu entkommen. Die Musik wird lauter und lauter. Jetzt weiß ich sicher, dass die Männer mich einfangen wollen, sie wollen mich fassen, ich mache mich ganz klein, entwische immer wieder und sehe entsetzt in ihre verzerrten Gesichter, wie sie ihre Münder weit aufreißen. Warum reden sie nicht mit mir? Ich schreie um Hilfe, es muss doch klar zu machen sein, dass nicht ich die Einbrecherin bin. Es ist mein Haus, ich muss hinein. Man hat mir meine Stimme geraubt, ich schreie und schreie, aber kein Laut dringt aus meiner schmerzenden Kehle. „Psychiatrie“ steht auf einem der weißen, vergitterten Autos. Alles Berechnung, sie lassen mich mit Absicht immer wieder fliehen und rennen, damit ich am Ende so erschöpft bin, dass sie mich mühelos in die Zwangsjacke stecken und abführen können. Meine gehetzten Schreie werden von einem seltsamen Nebel aufgesogen, der sich wie Watte über die Szenerie gelegt hat. Die Mönche singen laut und falsch, sie zu übertönen ist unmöglich. Noch lassen mich die weißen Männer entwischen, sie machen sich einen Spaß daraus, denn aus dem Kreis kann ich nicht ausbrechen. Die Frau im Fenster genießt ganz offensichtlich dieses Schauspiel: Logenplatz.
Sie haben mich, rütteln, schütteln und zerren an mir!
In Schweiß gebadet, zitternd mit wunden Stimmbändern wache ich auf. An meinem Bett stehen meine Kinder, legen beruhigend ihre Finger an die Lippen, streichen über meinen Kopf, bringen mir ein Glas Wasser. Mit krächzender Stimme frage ich, was geschehen sei. Ich kann meine eigenen Worte nicht hören. Die gregorianischen Gesänge dröhnen weiter in meinem Kopf: Tinnitus! Ich habe mein Gehör verloren, und ein Stück von mir.

Maryanne Becker

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.03.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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