Michael Stietka

Die Brücke

Brüderlein schien hell, sein kleines Schwesterlein brachte Dunkelheit und Ruhe mit sich. Die junge Welt war ihnen wie ein riesiger, lichtloser Spielplatz. So verbrachten sie gemeinsam die Zeit mit Spielen, Herumtollen und dem Durchlebten phantastischer Abenteuer. Sie waren so unbeschwert wie man als Kind nur sein kann. Sie passten auf einander auf, sorgten für einander, spendeten einander Trost.
 
Wenn sie herumzogen, um die Welt zu erkunden, ging er voran und leuchtete ihr den Weg. Die Brücke, die sie dabei oft zu überschreiten hatten, flößte ihr Furcht und Unbehagen ein. Sie konnte nicht bis ans andere Ende sehen. Der Abgrund, den sie überspannte, war so tief, dass der einzige Pfeiler in der Dunkelheit zu fußen schien. Er ging zuerst hinüber. Nachdem er ihr den Blick auf das gegenüberliegende Ende erhellte, schritt er zurück, reichte seinem Schwesterlein die Hand, nahm ihr die Angst und führte sie auf die andere Seite. So war es immer.
 
Als die Zeit näher rückte, den Lebewesen Tag und Nacht zu bringen, weinten die Geschwister bitterlich. Sie baten von der Aufgabe entbunden zu werden. Sie wussten, sie würden einander nie wieder nahe sein. Obwohl die Welt hart und grausam sein konnte, wurde Ihnen eine Chance gewährt, dem Schicksal zu entrinnen. Ihre Verbundenheit sollte jedoch einer Prüfung unterzogen werden.
 
Das gesamte Gewicht der Brücke lastete nur mehr auf dem Mittelpfeiler. Einer Waage gleich schwankte das mächtige, hölzerne Bauwerk über dem Abgrund. Sie stand am einen Ende, er am gegenüberliegenden. Als er den ersten Schritt über die Untiefe setzen wollte, um seine Schwester abzuholen, geriet die Brücke aus dem Gleichgewicht und beinahe stürzte er. So gern er zu ihr gekommen wäre, er würde ins Bodenlose fallen. Sie mussten gleichermaßen aufeinander zugehen und sich in der Mitte für immer finden, oder bis ans Ende der Zeit getrennt sein. So sehr sie versuchte, ihren Körper zu zwingen, den Schritt ohne seine Führung zu tun, ihre unaufhörlichen Mühen blieben vergeblich. Ihre Glieder gehorchten ihr nicht mehr. Sie war niemals alleine hinübergegangen. Sie konnte es nicht. Sie weinte.
 
War sie fern, stand er am Himmel, war sie am Firmament, war er nicht bei ihr. Jeden Tag leuchtete er für sie den Weg aus, den sie in der Nacht beschreiten würde. Das spendete ihm Trost, wenn er sie vermisste. Von nun an bis in alle Ewigkeit schenkte er den Menschen Licht, sie brachte ihnen Ruhe und Schlaf. Waren sie traurig, machten ihre Tränen, die vom Himmel fielen, das Land fruchtbar. Auch wenn er nicht bei ihr sein konnte, wenn sie unter den Sternen weilte, erhellte er mit seinen Gedanken an sie ihr Antlitz.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.01.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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