Rainer Nikisch

Der kleine Doll

Der kleine Doll

Ich wohnte lange Zeit in einer ziemlich ruhigen Strasse. Kleine Einfamilienhäuser, gehobene Mehrfamilienhäuser, alles unspektakulär und sehr ruhig. Wenn man diese Strasse zu Fuss entlang ging, dann war es sehr selten, daß einem einmal jemand entgegen kam. Eine reine Wohnstrasse halt.
Irgendwann einmal tauchte am Ende der Strasse, dort wo sie sich mit einer ebenso ruhigen und unspektakulären anderen traf, ein Junge auf. Er mag damals vieleicht 15 oder 16 gewesen sein. Ein wenig älter als ich jedenfalls.
Dieser Junge stand stundenlang am Strassenrand, an das Auto seiner Mutter gelehnt, und fing aufgeregt an zu winken sobald mal ein Auto oder ein Fahrradfahrer vorbei kam. Dabei bewegte er sich recht ungeschickt, aber er hatte stehts ein Lachen im Gesicht.
Anfangs habe ich ihn uebersehen, einfach in die andere Richtung geschaut. “Mann“ war ja schliesslich cool, hatte grade mittels Ferienjob die erste Lederjacke verdient, usw. Da winkt man schliesslich nicht in der Gegend rum, wie sieht denn das aus?
Aber der Kerl blieb hartnäckig, wann immer ich per Fahrrad, im Auto (auf dem Beifahrersitz natürlich) oder zu Fuss (hierbei setzte er noch ein vernehmbares “Hallo“ und “Wie geht´s?“ hinzu) vorbei kam, er winkte stets fröhlich.
Im Ganzen Viertel wurde er bald schmunzelnd “Der kleine Doll“ genannt. Und ehe sich hier jemand aufregt: Die Leute haben ihn durchaus gemocht.
Auch ich hab irgendwann aufgegeben. Anfangs hab ich auf sein winken noch lässig zurück genickt, später cool die Hand gehoben und irgendwann sogar richtig gewinkt, auch wenn´s uncool war.
Irgendwann hab ich sogar mal ein paar Freunde eingesammelt, und wir sind zu ihm gefahren. Markus hies er, und er war 6, wie er sagte. Tatsächlich dürfte er etwa 10 Jahre älter gewesen sein, aber 6 kam seinem Gemüt näher. Wir haben Verstecken mit ihm gespielt und uns ziemlich viel Mühe geben muessen, um ihn nicht zu sehen.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie seine Mutter aus dem Fenster geschaut hat. Eine sehr verhärmte Frau, die recht besorgt aussah. Vermutlich hatte sie zuerst Angst, wir würden uns über ihren Sohn lustig machen.
Jedenfalls stand “Der kleine Doll“ noch einige Jahre lang an “seiner“ Strassenecke, winkte den vorbeikommenden zu und freute sich, besonders wenn jemand zurückwinkte.
Und irgendwann war er weg. Zuerst fiel es nicht weiter auf, er hatte ja nie eine 24-Stunden-Schicht gehabt. Bald wurde aber klar, daß etwas nicht normal war. Aber irgendwie war der Übergang so fliessend...
Ich hab seine Mutter noch zwei oder drei mal gesehen, aber dann war sie auch weg.
Warum ich das erzähle? Das Ganze ist schon 15 Jahre her, aber jetzt ziehe ich endgültig aus diesem Viertel weg. Ich streife durch mein “altes Revier“ und nehme Abschied, erinnere mich an dies und das. Viel hat sich in all den Jahren hier nicht geändert. Das große Feld, auf dem wir ab und an mal Drachen fliegen ließen, da steht heute eine kleine Retortensiedlung. Hie und da sind neue Häuser gebaut worden, aber eigentlich hat sich kaum etwas geändert in all den Jahren. Und irgendwie fällt mir jetzt erst richtig auf, das er nicht mehr da ist. Jetzt, nachdem ich jahrelang kaum an ihn gedacht habe, an “den kleine Doll“.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.03.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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