Karl-Heinz Franzen

Der Tod auf Umwegen

Was soll ich Euch schreiben? So wie der Fischhändler nach toten Fischen stinkt, so stinkt der Schlachter nach toten Viechern und der Büroangestellte nach staubigem Aktenpapier. Alte Leute stinken nach alt. Einzig bei Babys ist es lohnenswert, in den Haaren zu schnuppern und über die Haut. Babys duften unvergleichlich angenehm. Ja, ja, ja. Wenn sie nach ihrer Brustmilchkur mit dem Aletezeug abgefüttert in die Windeln kacken, dann werden sie Tag für Tag so richtig menschlicher.
 
Als ich gestern Abend so auf meinem roten Sofa saß und darüber nachdachte, was ich als Kurzgeschichte oder Gedicht oder Aphorismus oder Zitat oder einfach nur als Klugscheißerei der Öffentlichkeit aus meinem Gehirnbrei vorstellen könnte, da zog plötzlich ein fürchterlicher Verwesungsgestank durch mein Wohnzimmer. Nanu, so denke ich noch, du hast doch gar keinen Wind streichen lassen. Und mies aufgestoßen aus dem Halse hast du auch nicht. Naja, denke ich, das wird von draußen hereinkommen. Wir wohnen nicht sehr weit entfernt von einem Sumpfgebiet und von landwirtschaftlicher Produktion. Wenn wir einen etwas stärkeren Süd- oder Südwestwind zu verzeichnen haben, dann kann es auch schon einmal … Nein, das kann es nicht sein. Es ist Winter, auch wenn es heute nicht so sehr kühl draußen geworden ist. Also, ganz sachlich und nüchtern betrachtet, stinkt es nicht von draußen herein. Außerdem weht der Wind aus Nordwest. Hmmh. Da ich von meinem Notizpapier, auf dem ich meine Geistesblitze sofort festschreiben möchte, noch nicht aufblicke, sondern lediglich schnuppernd und nachdenkend versuche zu ermitteln, was im Wohnzimmer so erbärmlich stinkt, habe ich auch noch nicht bemerkt, dass mir gegenüber auf dem roten Zweisitzer jemand Platz genommen hat. Erst, als ich ein Räuspern höre, das in ein: „Guten Abend, Heinrich!“, mündet, da werde ich richtig stutzig und schaue auf.
 
Da sitzt einer und grinst mich an. Oh, oh, oh. Da bin ich doch mehr als sehr erschrocken und denke, wie kommt der hier herein? Türen und Fenster sind verschlossen! Und schon sagt mein Besucher: „Richtig, Heinrich, alle Türen und Fenster sind verschlossen. Das ist für mich nicht wichtig. Ich komme überall und zu jeder Zeit hinein!“
 
Ihr könnt Euch vorstellen, dass mir jetzt aber doch „die Muffe eins zu tausend“ ging und ich vor Aufregung völlig ungebremst einen lauten Furz fahren ließ, der meinen Besucher tatsächlich zu einem lauten Lachen veranlasste. Dann verstummte das Lachen, und er sagte mit allem Ernst in einer hohen Fistelstimme: „Das war, lieber Heinrich, um bei den Tatsachen zu bleiben, Dein Letzter, den Du hast streichen lassen. Ich komme dich holen!“
 
„Nun ist es aber genug. Sie kommen hier herein, ohne zu klingeln oder anzuklopfen. Jagen mir einen fürchterlichen Schrecken ein, lachen mich aus und reden so einen Quatsch! Wer sind Sie, und was wollen Sie hier und von mir?“ Jetzt lacht dieser Witzbold weiter lauthals vor sich hin. Als sehr unangenehm empfinde ich das von einem ungebetenen Besucher! Ich schaue zu ihm hinüber und mustere ihn. Seine Schuhe könnte er auch mal putzen. Sein langer, schwarzer Lodenmantel wirkt speckig und abgetragen. Sein schwarzer Hut, der sich im Rhythmus seines Lachens auf dem Kopfe hin und her bewegt, ebenso. Wenn ich ihn so richtig anschaue, dann hat er … gar keine Augen … kein Fleisch auf den Wangen und … richtig, jetzt sehe ich es ganz genau, das, was der Schlapphut freilässt, das ist ein Knochenschädel. Blanker, fast weißer Knochen. Der sieht ja genau so aus, wie … „Ja, Heinrich“, meint er mir jetzt sagen zu müssen, „ja, Heinrich, ich bin es. Ich bin der Tod!“
 
„Das passt mir jetzt aber gar nicht in den Kram“, sage ich vor seinem Gestank erschaudernd und vor Angst zitternd zu ihm, „ich suche gerade nach einer neuen Story, die ich schreiben möchte.“ „Oho, oho, lieber Heinrich. Ich weiß es. Deshalb bin ich ja ebenfalls gekommen. Ich möchte auch einmal eine Geschichte, sozusagen von mir geschrieben, lesen dürfen … ha, ha, ha … und nicht immer nur Geschichte schreiben! Du verstehst?“
 
„Ob ich Dich verstehe oder nicht. Du wirst es aus meinen Gedanken bereits erraten haben, ob. Du willst nicht immer so anonym irgendwo auftauchen. Du willst Dir Deine Beute nicht aus Kriegswirren, Verkehrsunfällen, Krankenhäusern, Altersheimen, Wochenbetten, Badewannen … und wer weiß, woher, still und leise holen. Du willst erkannt und benannt schriftlich in eine Geschichte eingehen. So zum Beispiel durch meinen Bericht von Dir ins Internet, oder?“
 
„Ja!“
 
„Und warum gerade heute und bei mir, was?“
 
„Du warst in dem Moment, als ich zu der attraktiven Ria Müller wollte, Du weist doch, die ledige Mutter nebenan, gerade am Überlegen, was Du schreiben könntest. Und so war das eine treffende Gelegenheit für mich! Dann gehe ich später bei der Ria vorbei. Dann hat sie auch ihr Kleines schon zur Oma gebracht. Der kleine Umweg kommt ihr und mir sehr gelegen.“
 
„Hör doch mal an. Sentimental ist er! Ha, der Tod zeigt ein Mitempfinden! Und wie soll es jetzt mit uns weitergehen?“
 
„Nun ja. Im Grunde sind wir mit der Geschichte fertig. Du hast von mir geschrieben. Ich möchte auch nicht, dass mehr über mich in diesem Internet steht. Man gibt ansonsten viel zu viel von sich preis … ha, ha, ha! Ja, stelle diese Zeilen dort ein, jetzt ... Wir können gehen.“
 
„Wohin?“
 
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14. Februar 2012

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