Joachim Güntzel

Tschwei

 
Es ist schon in Ordnung, sag´ ich mir. Ich trag´s ihnen nicht nach. Auch heute nicht, nachdem schon eine ganze Zeit vergangen ist, seitdem ich den einen von ihnen von den Gleisen gezogen hab´. Was soll´s, sag´ich mir, die beiden – er und sein beglatzter Kumpel – werden heute wahrscheinlich wieder durch die U-Bahnhöfe ziehen, so wie damals, um Leute anzumachen und sie zu klatschen, wie sie das nennen. Harmlose und am liebsten schwache Leute, versteht sich, nicht solche Leute, die sich wehren könnten. Und am besten Leute, die irgendwie aussehen, als wenn sie aus fernen Ländern gekommen wären, natürlich direkt aus der dunkelsten Wildnis, hierher in die wärmende Sonne der Zivilisation. Hierher, in die pulsierende Hauptstadt der großen Kulturnation, deren bedeutendste Komponisten und Schriftsteller die Konzertsäle und Bibliotheken  der Welt füllen und deren größte Konzerne die Märkte der Welt erobern.

Vielleicht hab´ich die beiden damals provoziert. Vielleicht hab´ ich sie einen Moment zu lange angeschaut, kann schon sein. Aber ich schau´mir die Menschen, die auf mich zukommen, gerne an. Ich möchte wissen, mit wem ich es zu tun habe.
„Was glotzt´n so, Affenarsch?“ sagte der eine und sah zuerst mich an, dann seinen Kumpel.
„Was glotzt der Affenarsch so blöd?“ sagte er zu seinem Kumpel.
„Na wer weiß“, sagte der Kumpel, „vielleicht macht er sich gerade in die Hose. Da, wo er herkommt, macht man das wohl so.“ Die beiden gröhlten los.
„He, Affenarsch“, brüllte der eine, „bei uns kackt man nicht einfach in die Hose und steigt dann in die U-Bahn. Was meinst du, was die anderen braven Leute davon halten, wenn´s die ganze Fahrt über stinkt?“ Die anderen Fahrgäste auf dem Bahnsteig hatten sich entfernt. Ich stand allein zwischen den beiden.
„Kannste  auch sprechen oder bloß grunzen?“ Der Kumpel des einen verzog eine Grimasse, fing an, affenartig zu grunzen  und kratzte sich dabei mit beiden Händen seine Achselhöhlen. Der eine Kerl gröhlte. Ein  Fahrgast, der in unsere Richtung kam, wendete den Kopf ab und machte einen großen Bogen um uns. Seine Schritte wurden etwas schneller.
„Sag mal, Affenarsch, kannste überhaupt zählen?“ sagte der eine.
„Ja“, rief sein Kumpel,, „kennt ihr so was überhaupt in eurem Busch, Zahlen und so? Na los, sag schon, wie wieviele sind wir, mein Kumpel hier und ich? Hm?“
Ich antwortete, weil ich nicht riskieren wollte, sie zu reizen.
„Tschwei“, sagte ich. „Ihr seid tschwei.“
Die beiden schwiegen und glotzten. Sie sahen sich an. Dann brüllten sie los. Sie kriegten sich nicht mehr ein vor Lachen.
„Sag das nochmal!“ rief der eine.
„Ja“, brüllte der andere, „nochmal, nochmal!“
„Tschwei“, sagte ich. „Ihr seid  tschwei.“ Sie brüllten noch lauter. Als sie sich beruhigt hatten, sagte der eine: „Sag mal, Affenarsch, du willst uns wohl nicht zufällig verscheißern, oder was?“
Das wollte ich nicht. Ich habe diesen Sprachfehler seit meiner frühen Kindheit. Ich kann nichts dafür.
„Nein“, sagte ich.
Der eine sah seinen Kumpel an. „Der will uns verscheißern“, sagte er zu ihm.
Dann begannen sie mich zu verprügeln. Der Bahnsteig war leer.

Ich hatte Glück. Zwei gebrochene Rippen und ein ramponiertes Gesicht. Die Nase war heil, an einem Zahn fehlte ein Stück.Das fehlt jetzt immer noch. Ich nehme an, sie haben mich geschont. Vielleicht waren sie geschwächt vom vielen Lachen, vielleicht sahen sie deswegen  keine Bedrohung mehr in mir, sondern eher so was wie einen Pausenclown.
Ich hab´mir nicht gewünscht, die beiden wieder zu sehen. Ich hab´nicht nach ihnen gesucht, ganz bestimmt nicht. Aber gestern war es dann soweit. War ja auch klar, dass man sich in Berlin früher oder später über den Weg läuft. Sie gingen die Treppen zur U-Bahnstation runter. Was hätte ich tun sollen, ich musste die U-Bahn erwischen. Ein Taxi lag nicht in meinem Budget. Ich hielt mich so gut es ging von ihnen fern und passte auf, dass sie mich nicht sahen.
Der eine von den beiden hatte Ohrstöpsel im Ohr. Der andere ging voraus und rempelte im Vorbeigehen zwei Leute an. Der Verstöpselte folgte ihm. Der Bahnsteig unten war fast leer. Ich versteckte mich hinter einem Pfosten und wartete auf den Zug. Ab und zu sah ich vorsichtig hinter meinem Pfosten hervor. Ich wollte sehen, ob die beiden noch da standen, wo ich sie vermutete.
Irgendwann war dann einer von den beiden auf den Gleisen. Es war der Verstöpselte. Er schien etwas zu suchen. Der andere stand auf dem Bahnsteig und wippte unruhig von einem Fuß auf den anderen. Ich konnte, obwohl ich ein ganzes Stück weit von den beiden entfernt war, sein Gesicht gut erkennen. Andere Fahrgäste waren nicht mehr zu sehen.
Eine ganze Weile stand ich so da. Der Verstöpselte kramte auf den Gleisen herum, der andere stand daneben und glotzte. Dann spürte ich eine Vibration. Der Zug näherte sich. Ich sah zu den beiden. Der Verstöpselte schien nichts zu bemerken, sein Kumpel wippte immer noch desinteressiert hin und her. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Als die Lichter des Zuges an den Wänden der Tunnelröhre sichtbar wurden, rannte ich los. Der Verstöpselte hatte inzwischen die Gefahr bemerkt und versuchte, sich auf den Bahnsteig hochzuziehen. Doch er rutschte ab. Sein Kumpel stand daneben und hatte einen seltsamen Ausdruck im Gesicht. So als würde er eine Nacktschnecke betrachten, die auf einem weiten, leeren Steinboden von der gleißenden Sonne eines Sommertages langsam ausgetrocknet und versengt wird.
Als ich die beiden erreichte, kniete ich mich hin. Ich streckte meine Hand aus und versuchte, die Hand des Verstöpselten zu packen. Er griff nach meiner Hand und hielt sich daran fest. Die Stöpsel waren aus seinen Ohren gefallen und baumelten lose über seinen Schultern. Trotz des Lärms des herannahenden Zuges konnte ich aus den winzigen Lautsprechern stampfende Musik mit peitschenden Gittaren und tief brüllenden Stimmen hören.
Ich konnte ihn hochziehen. Er krabbelte über die Kante des Bahnsteigs und zog sich an meinem Arm vollends nach oben. Einen Moment später rauschte der Zug am Bahnsteig  ein.

Der Verstöpselte drehte sich auf den Rücken, blieb auf dem Bahnsteig liegen und schnappte wie ein Fisch nach Luft.
„Scheiße“, sagte sein Kumpel und beugte sich zu ihm hinunter, „das war verdammt knapp. Alles in Ordnung?“
„Ja“, sagte der Liegende keuchend, „keine Panik. Alles unter Kontrolle.“ Er rappelte sich hoch und klopfte sich den Schmutz ab. „Hab das Scheißding einfach zu spät kommen hören.“ Er sah mich an. Der Bahnsteig füllte sich mit aussteigenden Fahrgästen. Keiner interessierte sich für uns.
„Hast du mich hochgezogen? Mann, das rechne ich dir hoch an.Alleine hätt´ ich´s nicht mehr geschafft.“ Er sah seinen Kumpel an. „Wo warst eigentlich du?“ fragte er ihn.
„Ich… äh…“ stotterte der andere und begann wieder zu wippen.
„Schon gut, sag nichts“, sagte er. Dann sah er wieder mich an. Er brauchte eine Weile, bevor er mich erkannte.
„Verdammt, weißt du, wer das ist?“
Sein Kumpel glotzte, dann erkannte er mich auch.
„Das ist ja unser Affenarsch!“ rief der Verstöpselte und puffte den anderen in den Oberarm.
„Ja, das ist Tschwei!“ rief der Wippende. „Mann, dass mach dich wiedersieht, hätten wir nicht gedacht! Du traust dich ja was, dich  hier sehen zu lassen. Hast wohl noch nicht genug abbekommen, was?“
„Komm“, sagte der Verstöpelte und drehte sich um. „Lass ihn in Ruhe. Wir hauen ab.“ Die beiden gingen davon. Der Verstöpselte drehte sich noch einmal zu mir um, doch er sagte nichts. Dann stieß er seinen Kumpel in den Oberarm.
„Dass mich dieser Affenarsch hochziehen muss!“ rief er. „Wer weiß, was ich mir jetzt für Ungeziefer eingefangen hab´ “, sagte er und klopfte sich dabei von oben bis unten ab.
„Ich wollt´ dir ja helfen“, rief der andere, „aber da kam der Kerl schon angerannt und hat mich weggedrängt. Ich konnte echt nichts machen.“
„Halt´s Maul, sagte der Verstöpselte. „Halt einfach dein Maul.“
Dann waren sie verschwunden.
Wie gesagt, ich trag´s ihm nicht nach. Dem Verstöpselten nicht, den ich von den Gleisen gezogen habe, und seinem Kumpel auch nicht. Wahrscheinlich werden sie auch heute wieder auf den U-Bahnhöfen  nach jemandem suchen, den sie verprügeln können. Und bestimmt werden sie jemanden finden.

(c) Joachim Güntzel 2012

AKTUELL: Die Geschichte wurde in meinem soeben erschienenen Buch "Der Gefühlstütenwanderer. Dreizehn Geschichten am Limit" abgedruckt (bookmundo 2018, Hardcover), ISBN 9789463673181.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.02.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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