Jennifer Kramer

Erwacht

Jessica, bleib sofort stehen! Jessica!“ Ihre Stimme überschlug sich. Sie rannte, so schnell sie konnte. Ihre Kraftreserven waren fast aufgebraucht. Sie verlangsamte ihren Schritt und rang nach Luft.
„Jessica!“ 
Doch in diesem Moment verschwand sie in der Dämmerung. Es war sinnlos. Sie würde sie nicht einholen können. 
Wo wollte sie bloß hin? Hier, mitten im Nirgendwo, kein einziges Haus weit und breit. In Kürze würde die Dunkelheit eintreten. Kathrins Herz schlug bis zum Hals. Wenn Jessica jetzt etwas zustoßen sollte, wäre das allein ihre Schuld. Warum musste sie auch hier anhalten? Doch sie konnte Jessicas Vorhaltungen nicht länger ertragen. Die Situation zwischen ihnen war eskaliert. Hätte sie denn ahnen können, dass Jessica die hintere Wagentür aufreißen und davon rennen würde? Sie war immerhin schon fünfzehn Jahre alt, warum war sie so unvernünftig? Nein, sie war erst fünfzehn! Sie war noch ein Kind! Doch irrte nun über fremde, menschenleere Straßen, ohne ein Ziel und ohne einen Cent in der Tasche. Panik breitete sich in ihr aus. Sie eilte zurück zum Wagen. Sie musste sie suchen! Weit würde sie zu Fuß nicht kommen.

Sie lenkte den Geländewagen aus der kleinen Haltebucht am Rand der unbefahrenen Landstraße und schlich im Schritttempo die Straße entlang, den Blick abwechselnd nach rechts und nach links gerichtet, in der Hoffnung, dort in der Dämmerung irgendwo ihre Tochter zu erblicken. Warum hatte sie diesen Streit so ausarten lassen? Immer wieder ließ sie sich von ihrer Tochter provozieren.„Mama, du bist so eiskalt! Du zeigst nie deine Gefühle, du bist wie ein Eisbrocken.“ Stimmte das? Aber sie wollte doch nur Herr der Situation bleiben. Natürlich war es für Jessica schwer. Welches fünfzehn jährige Mädchen wurde schon gern aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen? Doch hatte Kathrin irgendeine Wahl? Sie musste sich nach der Trennung von Jan ein neues Leben aufbauen. Ja, die Trennung von ihrem Vater. Jessica warf ihr vor, dass alles ihre Schuld war. Im vergangenen Sommer, auf dem Kreuzfahrtschiff, fing alles an. Der Anfang vom Ende. Der Abend an Deck in netter Runde. Es war heiß. Sie trank zu viel. Dann war da er. Mitte dreißig. Ein Schwede. Viel zu jung für sie. Doch das zählte in dieser Nacht nicht. Sie gab sich hin. Vollkommen. Vergaß alles um sich herum. Ihren Mann und ihre Tochter, die tief und fest in ihrer Kabine schliefen, nicht ahnend, was sie tat. Ein Moment, der ihr Leben für immer veränderte. Doch das war ihr nicht bewusst. Nicht in dieser Nacht. Dann der nächste Morgen. Es war nicht nur peinlich, es war erniedrigend. Jessica fand sie. Nackt auf einer der Liegen am Pool auf dem Hauptdeck. In den Armen dieses Schweden, dessen Namen sie noch nicht einmal kannte....

Intuitiv bog sie links in eine kleine Nebenstraße ab. Die Zimmerpalme auf dem Rücksitz, die Jessica unbedingt als Erinnerung an ihre alte Wohnung mitnehmen wollte, stürzte um. 
In einigen Metern Entfernung erspähte Kathrin eine Tankstelle. Sie beschleunigte und steuerte ihren Wagen direkt darauf zu.

„Haben Sie zufällig vor kurzer Zeit dieses Mädchen hier gesehen?“ Sie hielt dem alten Mann hinter dem Verkaufstresen ihr aufgeklapptes Portemonnaie entgegen und deutete auf das Foto von Jessica. 
„Nein, tut mir leid.“ Seine Stimme klang nach Rauch und Whiskey. Die Tankstelle wirkte heruntergekommen. An der Wand flackerte die Energiesparlampe in rhythmischen Intervallen und verlieh diesem Ort eine unbehagliche Atmosphäre.
„Ganz ruhig, Lady. Die Gegend hier ist nicht gefährlich.“ Er trat einen Schritt zurück und machte den Blick auf einen alten Kaffeeautomaten frei. „Kaffee?“
„Danke, nein. Ich...ich gehe jetzt besser.“ Kathrin wandte sich um und rannte zurück zum Wagen. Draußen war es bereits dunkel. Die Wärme des Spätsommertages hatte sich in eine ungemütliche, feuchte Kälte verwandelt. Sie kletterte in den Wagen. 
Polizei? Nein, sie ist noch nicht einmal eine Stunde lang verschwunden. Jan benachrichtigen? Doch er würde ihr nur vorhalten, dass sie weder als Ehefrau noch als Mutter dazu in der Lage war, ihren Pflichten nachzukommen. Wie konnte ihr das nur passieren? Wie konnte sie ihre eigene Tochter verlieren?

Hektisch riss sie das Handschuhfach auf, um ihr Handy hervorzuholen. Sie durchwühlte es, zog Karten, einen Eiskratzer und eine Parkscheibe hervor, nur das Handy schien sich in der hintersten Ecke zu verstecken. Plötzlich fühlte sie etwas Wollenes. Irritiert zog sie es hervor und hielt eine Wollsocke in ihrer Hand. Ein Stich fuhr in ihre Herzgegend. Vor ihrem inneren Auge erschien Italien, die Toskana, im Spätsommer vor sechs Jahren. Es goss in Strömen und die Temperaturen sanken in den Bergen unter fünfzehn Grad. Sie fror so sehr in ihren Sommersandalen und die Heizung ihres Landrovers war ausgefallen. Jan kaufte ihr in einem kleinen Shop ein Paar Wollsocken. Sie hatte sie seit dem nicht mehr gesehen und nun hielt sie plötzlich eine des Paares in der Hand. Ausgerechnet jetzt. Damals war ihr Leben noch in Ordnung. Heute schien es in tausend Teile zersplittert. Und alles nur wegen einer Nacht.

Sie schreckte hoch. Sie musste vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Ihr Herz pochte wild. Das Handy klingelte. Wo war es nur? Sie fand es auf dem Boden vor dem Beifahrersitz. Jan. Oh Gott.

„Kathrin? Wo steckst du?“
„Hast du etwas von Jessica gehört?“ Ihre Stimme zitterte.
„Sie ist bei mir im Wagen.“
„Geht es ihr gut?“
„Ja. Wie konnte das passieren, Kathrin?“
„Ich weiß es nicht. Ich....“ Ein Schluchzen entfuhr ihr. Plötzlich schien der Damm zu brechen. Heiße Tränen strömten über ihre Wangen.
„Ihr hätte etwas zustoßen können, Kathrin!“ 
„Es tut mir alles so leid, Jan. Ich weiß, ich habe alles kaputt gemacht.“
„Warum sagst du das jetzt?“
„Ich habe das alles nicht gewollt“, presste sie mühevoll unter Tränen hervor. Der Hörer wurde übergeben.
„Ich wollte nicht weglaufen.“
„Ist gut, mein Schatz.“
„Mama, weinst du?“
„Jessica, ich hatte so große Angst um dich!“
„Ich wollte dich nur wachrütteln.“
„Was?“
„Damit du wieder etwas fühlst.“
„Ach...“
„Warum hast du nie über all das gesprochen?“
„Ich hatte nicht den Mut, dich und deinen Vater um eine zweite Chance zu bitten.“
„Tu es jetzt.“
„Es ist zu spät, Jessica.“
„Nein, Mama. Jeder verdient eine zweite Chance.“ 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.03.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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