Irene Beddies

Das Testament


 
Hermine Bauer war schon reichlich betagt, als sie beschloss, ihr Leben ein wenig zu ändern, um aus ihrer Isolation herauszukommen.
Soweit ich mich erinnere, lebte sie bescheiden in einer Dreizimmerwohnung im Erdgeschoss eines Mietshauses. Ihr Mann war vor einigen Jahren im hohen Alter von 87 Jahren verstorben und hatte ihr die Pension eines kleinen Beamten hinterlassen nebst einer Briefmarkensammlung und einer goldenen Uhr, die aus den Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg stammte. Kinder hatte sie keine.
Hermine Bauer war meine Tante, besser gesagt, meine Großtante, eine Schwester meines Großvaters. Mein Großvater und seine weiteren fünf Schwestern hatten alle Kinder und Enkel.
 
Zu Tante Hermine hielten wir sehr selten Kontakt. Um ihren Geburtstag herum und in der Adventszeit lud sie jedes Jahr einige ihrer Nichten und Neffen samt deren Kindern ein. Dann füllte sich ihre Wohnung mit Verwandten, die sich eigentlich nichts aus ihr machten, aus Höflichkeit und der Tradition wegen aber kamen.
 
Tante Hermine war eine kleine Frau mit schütterem weißem Haar und unmodernen Kleidern. Wenn wir wieder einmal eingeladen wurden, gab es immer den gleichen Topfkuchen, Torteletts mit Mandarinenstückchen aus der Dose und Sahne, Kaffee oder Tee für die Erwachsenen und schrecklich schmeckenden Kakao mit Haut für uns Kinder. Unfreundlich war sie nicht, konnte jedoch keine wirklich herzliche Beziehung finden, zumindest nicht zu den Allerjüngsten.
 
Das Schema der Besuche bei Tante Hermine änderte sich plötzlich, wir gingen nun regelmäßig zu ihr. Dann half meine Mutter ihr unauffällig und putzte mal in der Küche, schickte mich mit dem Müll an die Tonne oder ließ mich kleine Besorgungen im Laden nebenan machen. Auch brachten wir der Tante Obst, eine Flasche Rotwein oder Kekse mit.
Mir waren die nun häufigeren Besuche bei Tante Hermine lästig, ich fand sie unnütz, eine Zeitverschwendung. Ich versuchte mich zu drücken, wo ich konnte. Ich musste zu meinem Leidwesen jedes Mal mit. Wenn ich Hausaufgaben vorschützte, um diesmal zu Hause bleiben zu können und fernzusehen, dann nahm meine Mutter einfach den Ranzen und sagte: „Die kannst du genauso gut bei Tante Hermine erledigen.“
 
Eines Tages, als ich am abgeräumten Kaffeetisch über meinen Rechenaufgaben bei ihr saß, läutete es an der Wohnungstür. Aufgeregt eilte Tante Hermine an die Tür und führte einen jungen Mann ins Wohnzimmer.
„Du entschuldigst doch, Marion, dass ich unsere Unterhaltung kurz unterbreche“, sagte sie zu meiner Mutter. „Aber gerne, Tante Hermine“, antwortete Mutti und starrte den jungen Mann schon fast unhöflich an.
„Gestatten, mein Name ist Moosbach. Ich bin der Vermögensberater von Frau Bauer. Ich möchte die Dame nur kurz über den Stand ihres Aktiendepots unterrichten. Es dauert nicht lange.“ Bei diesen Worten stellte er eine schmale Aktentasche auf einen Stuhl und entnahm ihr eine grüne Mappe.
Mutti ging in die Küche, um das Geschirr abzuwaschen, ließ aber beide Türen etwas offen, was mich wunderte. Wollte sie heimlich zuhören? Tante Hermine bemerkte ebenfalls mit einem kurzen Blick, dass die Türen halb offen standen. Sie sagte nichts und schien sogar erfreut, denn ein kurzes, kleines Lächeln huschte über ihre Falten im Gesicht.
Der junge Mann zeigte meiner Tante einige Papiere und sprach mit gedämpfter Stimme über irgendwelche Dinge, von denen ich natürlich nichts verstand.
Ich vergaß diese kleine Szene schnell wieder. Beim nächsten Besuch, etwa zwei, drei Wochen später, wurde unsere kleine Kaffeerunde durch das Telefon unterbrochen. Meine Tante machte eine erfreute Miene und unterhielt sich lebhaft mit einer Person über etwas, was mit Gold und Autos zu tun hatte. Dann legte sie auf und seufzte erleichtert:
„Das ist gerade noch einmal gut gegangen, Marion. Du musst wissen, der Markt ist gerade am Fallen.“ Mutti nickte mit dem Kopf und schien erfreut.
 
So ging das mehr als zwei Jahre.
Eines Tages klingelte das Telefon sehr früh am Morgen: Tante Hermine war am Abend von Onkel Hans tot in ihrer Wohnung gefunden worden. Alle Verwandten sollten sich am Nachmittag bei ihm im Haus einfinden, um über die Beerdigung zu beraten.
Ich durfte zu diesem Familientreffen natürlich nicht mitkommen. Mutti kam spät am Abend nach Hause und schimpfte wie ein Rohrspatz über ihre Schwester, ihre Cousinen und Cousins und die alten Onkels und Tanten. Was die sich eigentlich einbildeten, wo sie selbst doch die einzige gewesen war, die Tante Hermine in den letzten Jahren so selbstlos beigestanden hatte.
Wie sich am anderen Tag herausstellte, als Tante Jutta zu uns kam, waren alle anderen Verwandten ihr genauso oft und gern behilflich gewesen wie Mutti.
Tante Jutta drängte darauf, den Rechtsanwalt, bei dem Tante Hermine das Testament hinterlegt hatte, aufzusuchen, um zu erfahren, wann die Testamentseröffnung sein konnte.
 
Zur Beerdigung von Tante Hermine durfte, ja musste ich mitkommen. Ich war inzwischen zwölf Jahre alt. Trauer empfand ich nicht, eher die Erleichterung, dass ich niemals mehr zu ihr in die Wohnung brauchte, um dort meine Nachmittage zu vergeuden.
Ich fand alles spannend, denn ich hatte nie an einer Beerdigung teilgenommen. Der Blumenschmuck auf dem Sarg und in der Kirche war überwältigend. Ich fragte mich im Stillen, was Tante Hermine wohl davon hatte, jetzt, wo sie tot im Sarg lag. Vielleicht konnte man das alles doch irgendwie mitbekommen?
Schade fand ich, dass all die schönen Blumen dann auf dem Friedhof vergammeln sollten, wo niemand sie sah – oder nur wenige Spaziergänger vielleicht.
 
Eine Woche nach der Beerdigung kam der so lang ersehnte Termin beim Rechtsanwalt.
Ich habe Mutti nie so wütend gesehen wie an diesem Tag.
„Alles umsonst“, schrie sie meinem Vater entgegen, als sie ins Haus kam,  „die alte Hexe hat uns alle an der Nase herum geführt, damit wir ihr helfen und sie unterhalten!“
„Was stand denn im Testament? Hat sie alles etwa der Kirche vermacht?“
„Viel schlimmer! Im Testament steht, dass sie uns allen, die wir uns so aufopferungsvoll um sie kümmerten, von Herzen dankt, dass es aber nichts Nennenswertes zu erben gibt, nur die goldene Uhr ihres seligen Mannes. Und die bekommt ein junger Schnösel. Der, der ihr regelmäßig die Lage der Vermögenswerte mitteilte, erbt sie!“
Mutti stampfte mit dem Fuß auf die Erde.
„Er ist der uneheliche Sohn von Jutta, von dem nie jemand wusste. Jutta gab ihn als Baby zur Adoption frei, und Tante Hermine machte ihn, wie auch immer, ausfindig. Mit ihm hat sie die Pläne geschmiedet, um an uns Rache zu nehmen.“
 
In dem Moment ging mir auf, was hier gespielt worden war, wie geschickt Tante Hermine alles eingefädelt hatte! Ich musste schrecklich lachen. Mutti und Vater starrten mich verblüfft an. Als ich nicht aufhören konnte, stimmten sie unvermittelt in das Lachen herzhaft ein.
 
Die Sammeltasse mit Blümchen und Goldrand, die Mutti sich als Andenken aus Tante Hermines Haushalt mitgenommen hat, steht heute immer noch auf einem Ehrenplatz in der Vitrine neben dem blaugemusterten Meissner Porzellan.
 
©I. Beddies

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.03.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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