Harald Haider

BLUTRACHE - 9.Teil

12
 
Bei der Alten Traunbrücke, 20:09
 
Die Kälte lähmte meinen Körper, über mir konnte ich die Lichter der Straßenlaternen erkennen, welche die Stadt in ein gemütliches Licht tauchen ließen. Ich versuchte mit Leibeskräften an die Oberfläche zu kommen, doch ich kam einfach nicht voran. Vor Panik bewegte ich meine Arme unkoordiniert im Wasser umher. Immer mehr Wasser drang in meine Lunge, ich schnappte in Todesangst mit meinen Lippen, doch das einzige, was das zur Folge hatte, war noch mehr Wasser, welches meinen Mund füllte. Wieder tauchten die Bilder von damals vor meinen entsetzten Augen auf. Das viele Wasser. Der Wagen. Die Mädchen. Der Tod. Nur noch Wasser. Reiß dich zusammen, mahnte ich mich. Ich musste überleben. Meine Gliedmaßen hatten sich nach den ersten Sekunden der Lähmung langsam an das kalte Wasser gewohnt. Ich konnte spüren, wie ich mit steifen Bewegungen den Abstand zwischen mir und der rettenden Nachtluft verringerte. Es dauerte ewig lange und ich strampelte wie ein Wilder, um tatsächlich nach endlosen Sekunden mit dem Kopf aus dem Wasser herauszuschießen und gierig nach Luft zu ringen. Starker Hustenreiz ließ mich zusammenzucken, ich spie das Flusswasser förmlich angewidert aus mir heraus. Panisch ruderte ich mit meinen Händen, röchelte voller Schock ein und aus. Immer wieder musste ich husten, zu viel Wasser war in den Momenten zuvor in mich eingedrungen. Beruhige dich, Chris! Du lebst noch! Es dauerte einige Augenblicke, bis ich meinen Körper halbwegs unter Kontrolle hatte, um zum Ufer zu schwimmen. Es war nur wenige Meter und ich war schon dabei die ersten Züge dorthin zu machen, als eine Frage mich unvermittelt stoppen ließ. Das Holzkästchen? Wo war es? Ich blickte mich um, schwamm drei Mal im Kreis und entdeckte schließlich das gesuchte Objekt am anderen Ende der Brücke. Von oben vernahm ich die hysterische Stimme der alten Frau, die immer wieder zu mir herunter schrie: „Junger Mann, geht es Ihnen gut?“ Ohne eine Antwort zu geben schwamm ich hastig unter das Bauwerk und versuchte die Box noch einzuholen. Die Strömung war an diesem Abend wahrhaftig stark und so kreiselte sie immer mehr davon. Ich musste sie erwischen. Total durchfroren machte ich einen Schwimmzug nach dem anderen, kämpfte mich durch das Wasser. Ah! Nein, nicht jetzt! Mit Entsetzen nahm ich wahr, dass sich meine rechte Wade durch die Kälte verkrampfte. Es riss mich förmlich unter das Wasser und ich musste stark mit meinem anderen Bein werken, um sofort wieder aus dem Dunkel aufzutauchen. Mein Mund schnappte wie ein Fisch am Land hastig auf und zu. Lange würde ich das nicht aushalten. Fürchterliche Schmerzen schossen wie Pfeile durch meinen Unterschenkel und ließen mich beinahe in Panik geraten. Ich musste hier raus! Es war nicht nur körperlich, sondern viel mehr psychisch eine wahnsinnige Anstrengung, der ich in jenen Minuten ausgesetzt war. Es ging hier um mein Leben. Wenn ich es dumm anstellte, konnte es sein, dass ich in diesen verdammten Wellen gar meinen Tod fand. Welche Ironie des Schicksals! Mit meiner rechten Hand versuchte ich die Wade sanft zu massieren und tatsächlich sich der Krampf zu lösen. Ohne sie sehr zu beanspruchen, kämpfte ich mich weiter durch die Traun. Es konnten keine zehn Meter mehr zwischen mir und dieser Holzbox sein. Ich sah das Bild von Julia auf diesem Tisch in Gedanken vor mir, die Angst in ihrem Blick. Es war meine Pflicht hier die Zähne zusammenzubeißen, auch wenn ich mich kaum mehr über Wasser halten konnte. Obwohl mein Bein noch ziemlich Probleme machte, schaffte ich es tatsächlich dem Gegenstand in den Wellen näher zu kommen. Nur noch wenige Meter trennten mich davon. Es vergingen jedoch noch schier endlose Sekunden, bis ich das Kästchen tatsächlich mit einer Hand berühren konnte. Es war beinahe unmöglich ihn richtig fassen zu können, so glitschig war es. Ich peilte das Ufer an der linken Seite an und versuchte die Box mit meinen Schwimmbewegungen dort hinzubringen. Obwohl es nur ein paar Meter bis zur rettenden Betonplatte samt Steinstiege waren, fühlte es sich für mich wie eine halbe Ewigkeit an, bis ich die Holzbox schließlich aus dem Fluss hieven konnte. Dann stemmte ich beide Arme gegen die Mauer und zog mich darauf in die Höhe, um schließlich frierend und voller Erschöpfung auf dem kalten Boden direkt neben dem geretteten Gegenstand liegen zu bleiben. Bevor ich mein Bewusstsein verlor, vernahm ich ganz weit entfernt die Stimme der alten Frau. „Alles wegen einer dummen Kiste…diese jungen Leute heutzutage werden echt immer verrückter!“ Dann wurde alles schwarz um mich.
 
Ich war nur wenige Minuten weggetreten. Irritiert und durchfroren lag ich nur Zentimeter von der dunklen Traun entfernt, starrte auf das kleine Holzkästchen vor mir. Langsam versuchte ich aufzustehen, doch meine Wade zwickte erneut und ließ mich wieder auf den Boden stürzen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte ich einen zweiten Anlauf und wankte schließlich die Steinstufen hinauf zum parallel zum Fluss verlaufenden Fahrradweg. Mit klitschnasser Kleidung schlich ich mit der Box in meinen Händen zur Alten Traunbrücke zurück. Mein Sakko samt Eros‘ Handy lag noch beim Geländer, von dem ich hinuntergestürzt war. Während ein paar Fahrzeuge an mir vorbeibrausten und deren Lenker mir fragende Blicke zuwarfen, kam ich der Stelle, an der ich vorhin noch gestanden hatte, näher, doch ich sah sofort, dass mein Sakko nicht mal dort lag. Nein! Scheiße! Das musste diese alte Frau gewesen sein! Die hat mich einfach bestohlen! Obwohl ich mir ganz sicher war, die richtige Stelle anvisiert zu haben, ging ich holprig den Rest der Brücke ab. Keine Spur. Nein! Das konnte doch nicht sein. Mein Blick schweifte vom Brückengeländer an meinen Armen hinab zum hölzernen Gegenstand. Wenigstens konnte ich den aus den Wellen retten. Hoffentlich enthielt die Box etwas, was mir bei der Suche nach Julia sehr weiterhalf. Leider war sie mit einem kleinen Schloss versperrt. Daheim würde ich sie mit einem Werkzeug aufbrechen, dann sah ich weiter. Ich trat den Rückweg zu meinem Wagen an, die wenigen mir entgegenkommenden Fußgänger starrten mich an, als ob ich ein Außerirdischer von einem fremden Planeten sei. Mein ganzer Körper fror bis in die kleinste Pore, beim Gehen klapperten sogar meine Zähne. Ich ließ das Sommerlokal hinter mir und stand kurz darauf auch schon bei meinem Wagen. Hatte ich die Türe beim hastigen Aussteigen nicht offen gelassen? Misstrauisch starrte ich ins Wageninnere. Das konnte nicht sein! Auf dem Beifahrersitz lagen feinsäuberlich zusammengelegt mein Sakko und darauf das Nokia-Handy. Schnell stieg ich ein, legte die Holzbox hinter mich auf den Rücksitz und drehte hastig die Fahrzeugheizung auf. Mir war total egal, wie sich der Fahrersitz von meiner nassen Kleidung vollsog. Gierig auf die erwartete Wärme streckte ich meine Handflächen bereits dem Gebläse entgegen. Langsam, sehr langsam füllte sich der Innenraum mit angenehmen Temperaturen, bis es wohlig warm wurde und so saß ich da, in meinem Wagen, und verbrachte eine geschlagene Stunde damit mich aufzuwärmen. Dabei sah ich auch am Handy nach, ob ich eine Nachricht oder einen Anruf von Eros bekommen hatte. Fehlanzeige. Dafür war die MMS mit Julias Foto nicht mehr darauf. Eros musste es gelöscht haben. Bei näherer Betrachtung fiel mir auf, dass ein kleiner Schlüssel und das Eck eines Kuverts bei der Seitentasche meines Sakkos herauslugten. Mein Herz schlug auf die Stelle schneller und richtig heftig vor Aufregung. Sofort wusste ich, wozu ich dieses Metallstück gebrauchen musste. Einige Minuten später saß ich in meinem Wagen, total irritiert und voller neuer Gedanken. Diese mussten erst geordnet werden. Es konnte einfach nicht wahr sein, in welch wahnsinnige Situation ich hier geraten war. Ich brauchte etwas Zeit um die neuen schockierenden Erkenntnisse zu verdauen. Erst dann legte ich den Rückwärtsgang ein, lenkte aus der Parklücke und brach auf Richtung Vorchdorf. Ich musste dringend ins Bett, ich fühlte mich komplett ausgelaugt. Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich überhaupt schlafen können würde, brauchte ich neue Kräfte, musste morgen wieder halbwegs ausgeruht sein. Der nächste Tag würde ziemlich lange werden.
 
Vorchdorf, 22:10
 
Noch immer konnte ich es kaum glauben, dass Sarah nichts von meinem nächtlichen Badeausflug mitbekam. Ich parkte meinen Wagen direkt neben dem meiner Verlobten, versteckte die wieder verschlossene Holzbox in meinem Kofferraum und schritt, nachdem ich mich noch einmal nach eventuellen Beobachtern umgedreht hatte, Richtung Haustür. Ein einziger Tag hatte ausgereicht, um meine paranoide Ader zu entfachen. Ständig fühlte ich mich überwacht. Da wie erwartet wieder nichts zu entdecken war, trat ich ein und schlich ich so leise es ging in unsere Wohnung. Ich zog meine noch immer nassen Schuhe aus und bog sofort ins Badezimmer ein, wo ich mich von meinen halb getrockneten Klamotten entledigte und mich unter die Dusche begab, wo ich sicher eine halbe Stunde stand, bis meine Handkuppen schon komplett geschrumpelt waren. Danach zog ich mir einen bequemen Jogginganzug an und betrat das Wohnzimmer, wo ich meine hübsche Sarah schlafend auf der Couch liegen sah, während im Fernsehen die Wiederholung einer CSI-Folge lief. Ich schnappte die Fernbedienung und beendete das wilde Treiben mit einem Tastendruck. Dann beugte ich mich über meinen Schatz und gab ihr einen sanften Kuss auf ihre Wange. Verschlafen rieb sie sich ihre Augen und lächelte mir entgegen. „Hallo Schatz! Ich habe dich gar nicht gehört. Wie war eure Besprechung?“ „Ah, du weißt ja, der Nowak redet lauter Blödsinn daher. Hauptsache, ich bin jetzt wieder bei dir.“ Zufrieden sah mich meine kleine Schlafmütze an. „Komm Liebling, gehen wir in die Heia!“ sagte ich ihr und zog sie aus ihrer Liegestatt auf. Dann begaben wir uns Hand in Hand in unser Schlafzimmer. Keine fünf Minuten, nachdem wir das Licht der Nachttischlampe abgeschaltet hatten, war ich auch schon in einen unruhigen Schlaf versunken, der mich zurück führte an den schrecklichen Herbstabend vor zwei Jahren. Das Lachen. Der Wagen. Das viele Wasser. Die Schreie der Mädchen. Der Kampf ums Überleben. Das unglaublich viele Wasser. Die starren Augen. Das Entsetzen. Das viele Wasser. Einfach nur Wasser, Blut und der Tod. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.03.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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