Steffen Lenk

Queen of Beauty

 

Queen of Beauty

 

 

 

Kapitel 1: „Profil“

 

 

Ich könnte im Rotlichtmilieu Geld verdienen.“, sagte sie mit einem kalten Unterton, geprägt von Überzeugung, als würde sie in Erinnerungen schwelgen. „Wie bitte?“, so er, noch halb in Trance und Erschöpfung durch das nur Minuten zurückliegende, gegenseitige Ausgleichen sexueller Spannung. Beide lagen nackt nebeneinander im Bett bei nahezu perfekter Dunkelheit. „Ich wohne nur einen Steinwurf entfernt von diesem Bezirk. Huren verdienen gut.“, fügte sie im selben Tonfall hinzu. „Bitte tu das nicht. Das hast Du nicht nötig.“, so er, als würde ihr Satz dadurch fortgesetzt werden. Jedenfalls hörte es sich danach an. Die Ironie daran war, dass ihm nicht klar war, dass er zwar beistehen, entgegnen oder zustimmen jedoch niemals etwas ändern könne, an dem, das hinter ihren schönen, aber starren blaugrauen Augen vorging.

Tom und Marilyn waren zu dem Zeitpunkt seit drei Monaten ein Paar. Ein Weiterer sollte folgen, bis Marilyns Lust auf Neues größer sein würde als ihre Vorstellung von Zusammengehörigkeit, abwechselnd definiert durch Trieb und materielle Belange, im Grunde die selben monotonen Elemente wie die von Millionen Menschen. Der Unterschied in dieser Partnerschaft bestand darin, dass ihnen kein emotionaler Tiefgang folgte, einem geheimen Ventil für Beide, um all dem Grau der Welt wenigstens hin und wieder zu entrinnen. Tom suchte in dieser Frau einen Halt, den es schon seit einer sehr langen Zeit nicht mehr gab, weder für sich selbst noch andere Menschen in ihrem Leben, lange bevor sie sich das erste Mal begegneten. Die Wogen und Hiebe des Lebens sorgten schon vor Beginn des Jahrhunderts dafür, dass Marilyn nur noch mit vielen Stilmitteln aus Romanen und Poesie dafür sorgen konnte, dass Andere im Idealfall nie erkennen, wie abgestorben der Kern ihres Wesens war, eine Wüste, in die selbst der heftigste Regen jemals etwas Grün bringen könnte. Im Anschluss an Lust, Zorn, Vergnügen und Neid endete das Spektrum möglicher Gefühlszustände, welches ihr gegeben war.

Auch wenn Instinkte ziemlich früh zeigen, binnen Sekunden während des allerersten Augenkontakts, dass diese personifizierte Egalität weder Anschluss noch Liebe sucht, sondern Bestätigung. So liegt es wohl auch in der Natur des Menschen, der damit konfrontiert ist, auf einen Irrtum zu hoffen und Impulse geben, die aufzeigen, dass man zu so viel mehr fähig ist als nur dem Glauben an Sex und Geld.

 

Das schicksalhaft Dumme an diesen beiden Menschen, Marilyn und Tom, war, dass diese Frau im Geiste ihre Trennung zu ihm durchspielte, während er sie das erste Mal küsste.
 

Etwas zu beginnen um dann etwas haben, das man selbst wieder beenden kann ist kalkulierte Selbstbestätigung. Es ist auch mehr reizvoll als der triste Alltag, ohne Jemanden an der Seite, der durch seine Unvollkommenheiten mithilft, das eigene Selbstvertrauen zu bestärken. Mitleid zu erregen beginnt entweder in Not oder Erfahrung. In ihrem Fall war es Letzteres. Und es funktionierte prächtig, brachte den gewünschten Kick, etwas das aber nicht laut identifiziert werden sollte. Geschieht es doch, so würde es Platz für den Nachfolger machen.

Die Eleganz von Marilyn hatte einen besonderen Zauber an sich, etwas das Interesse in jedem Mann erweckt, wenn sie Gebrauch davon machte. Tom, geprägt durch seine Vergangenheit, war prädestiniert darauf mit Sympathie zu reagieren, mehr in Marilyn zu sehen als vorhanden war, mehr zu hoffen als notwendig, denn aus ihrer Sicht war er nur einer aus zukünftigen Ex-Partnern und sie analog zu einem Schaf auf eine großen Weide. Man könnte dieser Frau keine Boshaftigkeit unterstellen, denn sie handelte auf der Basis ihrer Natur.

Marilyn und Tom erlebten trotz des ihm ständig unangenehmen Beigeschmacks besagter Oberflächlichkeit Einiges zusammen und hatten zahlreiche, oft bis in die Nacht hinein geführte Gespräche.

Als ich meine Mutter das letzte Mal sah, was jetzt zum Glück mehrere Jahre zurückliegt, erkannte sie mich nicht einmal, so betrunken war sie, in diesem Zustand ist sie quasi pausenlos, rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, verfault regelrecht auf ihrer Couch, dazu raucht sie Eine nach der Anderen und ist übergewichtig aufgrund purer Trägheit, es ist ekelhaft und jämmerlich. So viel Elend und Intrigen, so viele Jahre meiner Kindheit, verloren, aber nicht vergessen - Ich bin froh dass ich alldem entfliehen konnte.“, so sie, mit leiser, fast schon unverständlicher Stimme, jedoch deutlich spürbarer Rastlosigkeit, der Jagd nach einer Freiheit, die sie schon lange hatte, sich dessen aber nicht bewusst war. „Vielleicht muss ein Partner an ihrem Leben teilhaben, um ihre Freiheit spürbarer zu machen. Eine Partnerschaft schränkt sie etwas ein und irgendwann lässt sie das Gummiband zurück springen um den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen, indem sie alles beendet.

Diese und andere Theorien geisterten durch Toms Verstand. Abwegig war es nicht, denn das Wort „Freiheit“ zierte Marilyns alltäglichen Sprachschatz auffallend oft. Gab man ihr etwas, nahm sie es mit Selbstverständlichkeit. Sollte sie etwas geben, dann nie aus eigenem Antrieb heraus. Ihr die Worte „Bitte“ und „Danke“ näher zu bringen, und das mit dem Resultat dass sie sich nicht nach einem „Fick Dich selbst“ anhören – eine Sisyphusarbeit.

Hast Du in den letzten Jahren nie versucht, wieder neuen Kontakt zu Deiner Familie herzustellen?“, so Tom, beim gemeinsamen Abend in einem Pub, während die beiden ihre Gläser Guinness anstießen. „Nein. Wozu?“, so sie mit einem leichten Grinsen, „Es reicht mir, von ihr im Internet verfolgt zu werden. Speziell die ewige Leier meiner Mutter, von wegen 'komm doch wieder zu mir!' ist unerträglich. Wenn ich diesen Scheiß höre, könnte ich kotzen!“, so entgegnete sie darauf.

 

Man vermisst etwas erst dann, wenn man es nicht länger hat, so einem alten Spruch zufolge. Zutreffend ist er, auch wenn heute „Man vermisst zu viele Dinge an etwas, das man hat.“ ebenso bizarre Richtigkeit hat.

 

Marilyn sagte einmal: „Sollte das mit unserer Beziehung nichts werden, dann ist mir alles scheißegal, ich würde mich vergessen!“.

Tom mahnte daraufhin: „Du wirst Dir doch wegen mir nichts antun?!“, Marilyn korrigierte: „Nicht mir, sondern Dir. Solltest auch Du mich fallen lassen, dann werde ich Dich töten.“.

 

Tom schluckte daraufhin, das verzögerte die Antwort: „Ich habe nicht vor, Dich 'fallen zu lassen', so einen Quatsch habe ich noch nie gemacht und werde ich nicht machen.

 

Wir alle haben unsere Schattenseiten und Menschen, die lernen können, diese zu verstehen.

Womit ein Mensch jedoch niemals umgehen kann, ist eine nahezu aristokratische Selbstverliebtheit, welche Bestärkung sucht und im Gegenzug nichts anderes als Abwertung walten lässt, in Zeiten von Dunkelheit, gezeichnet von einer frustrierenden Grundstimmung, oder im Sonnenschein, in welchem Dinge wie Egomanie, gepaart mit Feindschaft gegenüber Menschen im Allgemeinen gerne übersehen werden.

 

Ich will keine Kinder in diese Welt setzen, jemals. Das habe ich bereits im Alter von 15 Jahren gesagt, als ich meine Frauenärztin das erste Mal um Sterilisation bat, was sie mir aufgrund meines Alters leider verweigerte. Das Gleiche wie damals sage ich nach wie vor aber auch Heute noch. Ohne triftigen Grund kostet der Eingriff bedauerlicherweise viel Geld, sonst hätte ich es schon längst machen lassen.“ - alleinstehend eine runde Sache, ein klares Motiv. Oder gab Marilyn auch in diesem Zusammenhang Grund, in ihr eine wirre Mentalität zu sehen?

 

Ich kann mit Kindern gut umgehen. Was ist wenn ich mich dafür entscheide, Kinder zu bekommen und Mutter zu werden? Auf jeden Fall will ich eine Katze.

 

Was wollte Marilyn damit gegenüber Tom ausdrücken? Dass sie etwas nicht will, das sie im Grunde doch möchte oder das Gegenteil davon? Beides wäre gleichermaßen vorstellbar. Eine interessante, wenn auch rätselhafte Logik, die manchen Leuten sogar Angst machen könnte. Bleibt zu hoffen, dass etwaiger Nachwuchs von ihr eines Tages unter diesem diabolischen Zwiespalt nicht allzu sehr zu leiden hat, auch wenn sich damit eine bereits bestehende Chronik in uniformer Weise fortsetzen würde. Vernünftig wäre, eben das zu fürchten. Es stellt sich die Frage: Zu welcher Zeit waren Menschen jemals vernünftig? Für Dummheiten war sich der Mensch noch nie zu schade und schließlich lassen sich eigene Verfehlungen schnell auf die umgebenden Mitmenschen schieben, man selbst ist eher selten Architekt davon, wie Tom in diversen Erklärungsversuchen von Marilyn zu hören bekam.

Er war hinterher genau so erstaunt wie davor, auf seiner Stirn das sprichwörtliche Fragezeichen.

Ich brauche Sicherheit in meiner Partnerschaft.“, sagte sie einmal, im Anschluss ein Gesichtsausdruck der Enttäuschung darüber, dass ihr dieser Satz herausrutschte. „Definiere Sicherheit. Zwischenmenschlich? Finanziell?“, so Tom darauf. Sie wusste darauf nichts weiter zu sagen. Aber das sprach Bände. Milliardäre haben in ihren Beziehungen die gleichen Sorten Probleme wie bettelarme Leute – wenn es um das Zwischenmenschliche geht. Und auch wenn über diese simple Wahrheit die Meisten Bescheid wissen, gibt es leider auch genügend Leute, denen das völlig egal ist, denn es ist ihre Natur, nur Dinge lieben zu können, die man auch in die Hand nehmen kann oder Andere für sie tun. Ein solches Verhalten bezeichnet einen Materialisten, im mildesten Kontext.

 

Sex sah sie als Mittel, um aus ihrem fatalistischen Selbst- wie Weltbild zu entkommen, wenigstens zeitweise.

Aus diesem Grund war ihr Verlangen, ihre Lust danach, stark ausgeprägt, was auch Tom auffiel, lange Zeit, monatelang, im positiven Sinne. Das dauerte an bis zu dem Punkt, an dem ihm klar wurde, dass es sich dabei um weit mehr als nur allein gesunde sexuelle Lust handelte. Auch neue Menschen, Männer wie Frauen, kennenzulernen, war unabhängig ihres eigenen Familienstands Alltag. In unveränderter Intensität pflegte sie neue Leute zu treffen, und das sinngemäß als die sprichwörtlichen Eisen im Feuer. Jeder davon nahm hierfür die Rolle des Strohhalms ein, dem Mittel zum Zweck, ihrem Leben mehr Substanz zu verleihen. Beherrscht das Mittel diese Qualität, ist es erwünscht, setzt es sie aus, so macht es damit umgehend Raum für seinen Nachfolger. Das Problem daran war, dass sich durch diese Angewohnheit niemals das entwickeln konnte, das Marilyn sich wünschte, denn Menschen zeichneten sich zu keinem Zeitpunkt allein durch Stärken aus. Und irgendwann bemerkt selbst der Dümmste, das er nichts weiter als ein Mittel zum Zweck ist.

 

Genauso wie persönliche Freiheit in zwischenmenschlichen Beziehungen verändert wird, so entsteht durch sie bei dem Paar gleichzeitig auch eine neue Form davon. Beiden Teilen gehen viele Dinge im Leben leichter von der Hand. Beide können durch den Anderen aufblühen. Es ist nur logisch dass in Beziehungen hier und da Freiheit eingeschränkt wird. Das hinzunehmen ist ein genau so unbewusster Akt wie Verliebtheit selbst, das Eine wiegt das Andere auf, bei vielen Menschen ist diese Wechselwirkung über einen sehr langen Zeitraum Alltag. Und kommt es trotzdem mal zum Streit deswegen, dann dürfen sehr wohl Beide das Motiv haben, ihn zu zerstreuen und dafür zu sorgen dass er nicht mehr entsteht.

sagte Tom einmal zu Marilyn, wissend dass es Menschen gibt, die immer und immer wieder Streit brauchen, wie eine Art Hobby, wohl um sich abzulenken oder lebendiger zu fühlen.

 

Meine Freiheit ist mir das Wichtigste. Sie ist wie sie war. Sie wird auch so bleiben.“, so Marilyns Reaktion darauf, wie aus der Pistole geschossen.

 

Tom war im Gegensatz zu Marilyn weniger begeistert von der Ideologie und den Taten der Baader-Meinhof Gruppe bzw. der Roten Armee Fraktion, einer Organisation, die als terroristische Vereinigung die späten 1960er und fast die komplette Dekade der 1970er Jahre prägte, und das nicht gerade in friedlicher und konstruktiver Art und Weise.

Insgesamt 34 Menschen, die dieser Gruppe im Weg standen, wurden durch sie kaltblütig hingerichtet. Interessant ist hierbei die Parallele, dass diese ehemalige Gruppierung nach Außen hin das hasste, das sie jedoch im Inneren definierte: Materialismus. Marilyn stimmte dem sogar oft zu, war jedoch nach wie vor stolz darauf, dass ihre Mutter langjährige Freundschaften zu Ulrike Meinhof und Rudi Dutschke höchstpersönlich pflegte. Ob dies tatsächlich der Wahrheit entspricht wird jedoch im Bereich von Spekulation bleiben, so Toms unerwähnte Gedanken zu jenen, ihren, Bekenntnissen. Ist das eine weitere Form von Jagd nach stärkerer Aufmerksamkeit ihr gegenüber? Durchaus vorstellbar. „Erschreckend, wohin sich Frau Meinhof und die RAF selbst hin manövrierte.“, so heute eine politisch neutrale Sicht dazu, die auch Tom verkörperte. Nun ist es zwar ehrenhaft, für seine eigenen Ideale zu stehen, jedoch nicht wenn man damit eine bereits stattgefundene Vergangenheit wiederholt, und das auch noch bewusst.

Vielleicht ist diese Gemeinsamkeit, Marilyns nicht mehr zeitgemäße, kopierte Einstellung und ihre persönliche Zukunft mehr in Harmonie untereinander als diese Frau es jemals mit anderen Menschen sein würde? Auch das ist vorstellbar, denn Beides verschwand schon vor langer Zeit und kann nur noch mit Worten künstlich wiederbelebt werden und dadurch minimale und kurzweilige Substanz haben.

Wie kann aus etwas Freiheit gedeihen, das nur aus Intrigen und Dogmen besteht? Ein Fehler, den viele historisch bedeutende Personen begingen. Wer im Inneren schon lange leer gewesen ist, der weiß auch mit neuem Inhalt nichts anzufangen, rebelliert, ganz egal ob die Welt um ihn nun etwas Gutes für ihn tut oder nicht. Aus diesem Grund bestand Marilyns Selbsterfüllung in Wahrheit nie wirklich aus zwischenmenschlicher Zweisamkeit, sondern einem öden Kontrollzwang. „Wer tut wann und was genau? Wer spricht worüber in welcher Weise? Wie urteile ich darüber und sorge mit meiner Einschätzung für mehr Anerkennung von Anderen? Und wie sorge ich am Effektivsten dafür dass niemand bemerkt, wie apathisch, kalt und starr mein Inneres ist und meine politische Ideologie nichts weiter als eine gestellte Kopie, ein Schauspiel? Und was, wenn auffällt dass dieses Vakuum meine ganze Persönlichkeit ausmacht? Bin ich dann noch attraktiv? Die Nervenheilanstalt integrierte mich wieder in diese Welt, aber reicht das um sinnvoll in ihr mitzuwirken?“ bildete ihren Alltag im Internet. Mit der Maus und Tastatur schaffte sie sich einen Weg, um einen faulen wie auch vorwiegend durch Feigheit geprägten Charakter durch ein Idealbild zu ersetzen.

Das Leben ist eine ungewöhnliche Mischung aus Gutem wie auch Schlechten. Sorge bereitet, was in Laufe der Zeit ganz einfach kein Gefühl mehr auslöst, dies früher jedoch tat. Oftmals ist es regelrecht amüsant mitzuerleben, wie weit voneinander entfernt Vorstellungen und Realität liegen. Man will zunächst daran glauben, das Gegenüber habe im Inneren glühende Leidenschaft, denn der Sex fühlt sich so an, bis einige besonnene Momente immer deutlicher werden lassen, dass man sich einer Illusion hingibt.

 

Marilyn sah rein gar nichts leidenschaftlich, mal abgesehen von den Dingen, die sie als schlecht und unfair einstufte. Im Partner das Schöne zu sehen und mit den Schattenseiten lernen, klar zu kommen, war Teil ihres Feindbilds. Im Gegenüber das Schlechte zu suchen und die schönen Seiten damit bewusst überzeichnen um für sich selbst damit Abschuss und Abschluss salonfähig zu machen war invertierte Romantik - Marilyns Romantik.

 

Und das ist eines der Dinge, wegen denen Tom Bedenken hatte. Er konnte in dem meist steinernen Gesichtsausdruck von Marilyn etwas lesen wie:

 

Ich bin nicht da, Du siehst, fühlst, riechst, hörst mich, aber Du könntest genauso gut mit einer Taschenlampe in Richtung des Sternenhimmels leuchten, in der Hoffnung den Mars zu erhellen, wenn Du glaubst, ich fühle irgend etwas. Verurteile mich und ich lächle kühl wie ein Mannequin, verwöhne mich, dann tue ich das Selbe, ignoriere mich, dann entsprichst Du meinem finalen Urteil über die Menschheit und ich grinse. Ja, was immer Du tust: Es ist ganz einfach bedeutungslos, meine wie Deine Existenz sind das nämlich auch. Würde mir eine Packung offene Milch aus der Hand rutschen, dann würde dieser Vorfall mehr Reaktion in meinem Inneren auslösen, als würdest Du genau vor mir tot umfallen, auch dann, wenn ich Dir zehn Sekunden davor sagte, wie sehr ich Dich liebe. Du bist Teil meines Lebens um es komfortabler zu gestalten, tust Du nur kurzzeitig etwas Anderes oder gar Ähnliches wie ich selbst, wechsle ich Dich schneller aus als Du zu Wort kommst.“

 

Marilyn instrumentalisierte Menschen mit kalkuliertem Selbstmitleid. Das brachte mehr Material in ihr Leben. Was ist, wenn durch diesen Trieb für sie selbst mehr verloren ginge als sie letztlich gewinnen würde? Ein Hin und Her zwischen Extremen wie Prostitution, Bildung, Kontrollwahn, Fantasiewelten aus Gedrucktem und eigener Kapitulation, stets begleitet von blindem Zorn machte aus ihr einen interessanten Menschen. Ihr Hass auf die Welt und ihrer Identität darin, mühevoll überzeichnet, pflasterte ihren Weg. Sie genoss und verabscheute zugleich.

Als Tom das bemerkte, machte er damit seinen Platz frei, in Marilyns Leben. Was könnte naheliegender für sie sein, denn der Fleischmarkt war noch nicht erschöpft. Nachschub folgt zeitnah, denn Autorität ist magnetisch, sogar dann wenn imitiert. Kinder würden davon lernen können. Und nach der Vorstellung von Marilyn können auch sie ihren Zweck erfüllen.

 

 

Kapitel 2: „Aufmerksamkeit“

 

 

Ich bin schwanger.“, so Marilyn zu Detlef. Ihre Beziehung zu Tom endete ein halbes Jahr zuvor. Detlefs Beruf war er, Menschen für Zeitarbeit anzuwerben, um ihnen ein Leben zu geben, dessen Reichtum darin bestand, durchschnittlich 85% der Einkünfte daraus für Miete ausgeben zu müssen, in fast allen Fällen ohne signifikante Verbesserung über mehrere Jahre.

Ah, alles klar. Muss los, bis später.“, so erwiderte Detlef, während er seine Jacke anzog und im Anschluss unter laut brummenden Leuchtstoffröhren zum Fahrstuhl ging.

Marilyn und Detlef wohnten zusammen in einem Apartment im 14. Stock. In jeder Himmelsrichtung von ihnen aus gesehen standen entweder ähnliche oder gleiche Gebäude. Der Eingangsbereich im Erdgeschoss war voll gesprüht mit Graffiti, auf dem Boden lagen hunderte von Zigarettenstummel, hier und da eine gebrauchte Spritze. Der Kinderspielplatz inmitten dieser Silos war ein beliebter Treffpunkt von Teenagern, welche täglich ab 11 Uhr vormittags die Gegend mit Hiphop beschallten und durch ein Meer aus verbeulten Bierdosen, Glasscherben und zerfetzten Plastiktüten wateten. Jeder davon hatte entweder einen Schlagring oder ein Klappmesser bei sich. Es verging selten eine Stunde ohne dass man Polizeisirenen hörte, tagsüber wie auch nachts. Die meisten Leute, die in dieser Gegend lebten, traf man selten draußen an. Nahezu niemand kannte die Namen seiner direkten Nachbarn, entweder weil das ignoriert wurde oder weil jene Namen zu häufig wechselten.

 

In der Tiefgarage angekommen, rannte Detlef zu seinem Auto, während er das Adressbuch seines Mobiltelefons durchging. Während er aufschloss, stellte das Gerät eine Verbindung her. „Du hattest Recht, Liebste. Das Ganze hat keinen Sinn mehr. Ich ziehe zu Dir. Köln nervt mich ohnehin und die Salzburger Zweigstelle der Firma ist sowieso moderner. Heute ist der 29., richtig?“ - „Ja. Und ich freue mich wahnsinnig dass Du Dich so entschieden hast!“ - „Lass' Deinen Vater einen Mietvertrag aufsetzen, der am Ersten beginnt, also Übermorgen.“ - „In Ordnung, wird gemacht, Detlef. Hast Du schon eine Umzugsfirma beauftragt?

Als Detlef am Abend zurück kam, lief er dieses Mal nicht allein durch die Tür des Apartments. Ihm folgten fünf Männer, von denen jeder zwei zusammengeklappte Umzugskartons trug. „Nur die Klamotten hinter den ersten beiden Schranktüren, den Computer, die Bücher aus dem Schlafzimmer, nicht die aus dem Wohnzimmer. Ach ja, und alle Ordner mit den gelben Etiketten, nicht die mit den blauen.“ - Die kräftig gebauten Männer nickten und begannen mit ihrer Arbeit. Detlef schaute auf seine Uhr, dachte: „Hoffentlich beeilen sie sich.“ während Marilyn sich aus diversen Internet-Chats und Foren ausloggte, wo sie täglich mehrere zehntausend Worte über ihre Tastatur an viele andere Menschen schickte.

 

Schmusipuh, hast Du an meine Schokoladenkekse gedacht?“, lautete heute ihre Begrüßung an ihren Partner.

Sie drückte die selbstgedrehte Zigarette in einem Haufen aus Stummeln auf dem Tisch aus, der den Aschenbecher darunter begrub.

Marilyn trug, wie jeden Tag, einen Bademantel und Schuhe aus rosafarbenen Plüsch. Beides hatte etwa zwanzig dunkle Brandlöcher. Die Frau wog inzwischen 131 Kilogramm. Die Raumtemperatur lag, wie immer, auf dem Niveau von Texas, was auch die schon wochenlang verdorrten Blätter der Zimmerpflanzen unterstrichen. Jeder Kaktus würde unter ihrer Obhut sterben. Die Lüfter pumpten überwiegend Rauch durch ihr Computergehäuse und die Tasten, über die sie in den letzten Monaten einige One-Night-Stands für sich organisierte, blieben manchmal wegen Essensresten dazwischen hängen, hier und da waren Spritzer von schwarzem Nagellack und alles, das ursprünglich weiß war, reflektierte einen gelb-stichigen Farbton.

Als Marilyn nach zwei Sekunden immer noch keine Antwort von ihrem Partner erhielt, loggte sie sich wieder ein, in jene künstliche Welt, in der sie sich so viel präsenter als außerhalb davon sah, denn dort, im Internet, hatte sie Autorität, dort verkörperte sie eine Persönlichkeit, deren Merkmale sie selbst erfand und auf breiter Basis glaubhaft machen konnte.

Während sie schnell atmend chattete, voll auf ihre virtuellen Gegenüber konzentriert, baute einer der Arbeiter der Umzugsfirma den Computer neben ihrem ab. Beide Geräte standen direkt nebeneinander auf dem selben Schreibtisch.

Der Mann packte Bildschirm, Kabel, Tastatur, Gehäuse in einen Karton, pfiff nebenher eine fröhliche Melodie vor sich hin. Im selben Zeitraum verabredete sich Marilyn mit drei verschiedenen Herren, jeweils für Freitag, Samstag und Sonntag. Gut wäre das Resultat Sex in einer der beiden Nächte, besser in zwei, so ging sie gedanklich dabei durch. Sie legte den „Zuhörer-Typ“ auf Sonntag, damit sie dann jemandem ihr Leid über diese oberflächliche Welt klagen kann, einer Gesellschaft, die immer weniger von Zusammenhalt, soliden inneren Werten und Empathie hält.

Während sich die anderen Männer lautstark unterhielten, über Themen wie „wie werden die Umzugskartons möglichst gleich schwer?“ oder „an welchem Tag und um welche Uhrzeit ist Einzug?“, war Marilyn inmitten einer Forendebatte mit dem Titel „Ist Sperma gesund?“, wo sie zwei streitende Mitschreiber ermahnte, weniger beleidigend zu sein, ansonsten würde sie das Thema schließen.

 

Einer der Streithähne entschuldigte sich daraufhin bei ihr und wurde somit zu Marilyns Verabredung für Montag. Der Mann war voller Vorfreude, eine solch vorbildhafte, zukunftsweisende Respektsperson kennenlernen zu dürfen. Die Frau zeigte durch ihr Auftreten im Internet, wie charakterstark, integer und aufmerksam ein Mensch sein kann. Nie würde sie etwas oder jemanden bewusst ignorieren, nie würde sie sich von Gleichgestellten zunächst den Segen einholen, bevor sie Entscheidungen trifft. Und nie würde sie ein Urteil mit dem sprichwörtlichen Blut unterschreiben.

 

Marilyn, eine Ikone der Ironie, real und virtuell: Ihre Welten, so harmonisch abgestimmt und gleichauf wie Nord- und Südpol.

 

Im Hausflur wurden unterdessen die voll beladenen Kartons gestapelt und beschriftet. Alle sechs Männer schwitzten, stapften in und aus dem Apartment. Nach etwa zwei Stunden war Detlefs Zeug in einem Kleinlaster, dessen Motor angeworfen wurde und daraufhin Kurs auf Österreich nahm. Detlef zog noch Mal das Flugticket aus seiner Jackentasche um sicher zu gehen, rechtzeitig am Flughafen zu sein, während er zu Marilyn ging. „Hier sind Deine Schokoladenkekse“, so er zu ihr, während er die Packung neben ihre Tastatur legte, auf der ihre Finger pausenlos den Klang eines winzigen Schnellfeuergewehrs erzeugten. „Ja … Das ist gut.“, sagte sie in stark verlangsamter Weise dazu, den Blick nicht für einen Moment vom Bildschirm weg gerichtet und ohne maßgebliche Änderung, was ihre Tastaturanschläge pro Minute betrifft. „Ich bin dann mal fort.“, so Detlef.

Marilyn war jedoch in derart viele, gleichzeitige Konversationen verstrickt, dass sie dies nicht mehr bewusst wahrnahm und deswegen nichts weiter laut aussprach. Detlef legte Haus- und Wohnungsschlüssel neben die Packung Schokoladenkekse und verließ das Apartment ein letztes Mal.

 

Zwei Wochen später rief Marilyn auf Detlefs Mobiltelefon an und eröffnete das Gespräch mit:

Hey, ich bekomme seit 24 Stunden keine Verbindung ins Internet! Wo bist Du überhaupt?! Ich habe Dich Gestern und Heute noch gar nicht gesehen! Du wirst mir doch nicht fremd gehen?! Und das Geld ist wieder alle! Was für eine Sicherheit soll das sein in unserer Partnerschaft?! Du gehst doch noch arbeiten? Du hast nicht mal eine SMS für mich übrig wenn ich hier den ganzen Tag allein bin! Und Sex könnten wir auch mal wieder.. Ach nein, sorry, den hatten wir ja gest.. Ach nein, sorry, vergiss was ich gerade eben sagte! Du bist aber trotzdem ein Arschloch! Du Ignorant! Ich hab so viel mehr gelitten als Du! Ich sage das! Hörst Du mir zu? Hey, ich rede mit Dir! ICH spreche mit Dir! Also gut.. Dann spreche ich eben nicht mehr mit Dir. So. Ich hab Dir jetzt alles gesagt. Du bist selber Schuld an all dem. Ich sage das. Meine Buddies denken auch dass Du ein Arschloch bist. Denen habe ich nämlich alles über Dich erzählt! Alles! Und weil ich so arg kaputt und leidend bin, glauben sie mir! Sei froh dass ich überhaupt anrufe, normalerweise schieße ich meine Macker per E-Mail in den Wind. Du ignoranter Geizkragen! Der Typ am Freitag hat mir und ihm zwei Pizzas bestellt als ich ihm sagte, ich hätte Mega-Hunger, und das um 23:45 Uhr. Da hat Eine 29 Euro gekostet. Der war voll nett. Aber dann hat er gefragt, ob die Flecken im Bett frisches Sperma seien, weil sie danach riechen. So ein Arsch. Den hab ich dann auch gekickt. Was ist jetzt? Hallo?!“.

 

Sie erhielt keine Antwort. Nach kurzer Zeit erklang eine Stimme, die ihr sagte: „Die maximale Aufnahmezeit von sechzig Sekunden ist erreicht. Vielen Dank für Ihren Anruf.

 

Detlefs deutsche SIM-Karte lag zu dem Zeitpunkt von Marilyns Anruf seit zwölf Tagen auf dem Grund der Salzach und ihr ehemaliger Besitzer im Bett neben seiner Partnerin.

 

Kapitel 3: „Exodus“

 

 

Balamm, bamm-bamm, Bumm-di-Bumm!!“, so Chuibacco zu seiner Mutter Marilyn, so laut er brüllen konnte. Sieben Jahre waren inzwischen vergangen. Der Knabe ging auf eine Sonderschule und hatte Marilyns neues 30m² Apartment fest im Griff. So fand er es besonders witzig, Erde aus Blumentöpfen zu holen und gegen Wände und Möbel zu schleudern. Alles das glänzende Oberflächen hatte, wie Fensterscheiben, Bildschirme, Spiegel, Töpfe und Pfannen, wurde von ihm mit Wachsmalstiften bearbeitet. Selbiges tat er auch gern mit Papierdokumenten und mit jeder einzelnen Seite von Büchern. Sein Stil war offenbar Surrealismus, denn man hatte einen enorm großen Spielraum, um die gezeichneten Werke zu interpretieren.

 

Ja, wie schön.“, so Marilyn mit monotoner Stimmlage zu ihrem Sohn. Sie wog inzwischen 205 Kilogramm und war mit Gotthilf zusammen. Gotthilf wurde 37 Jahre vor Marilyn geboren. Seine weißen Kopfhaare reichten bis über die Schulterblätter und sein Bart bis zu den Brustwarzen. Nur wenige Stellen an seinem Körper waren noch frei für künftige Tattoos. In jedem Ohr trug er zahlreiche Ringe, wie auch an jedem seiner Finger. Er besaß genau eine Garnitur Kleidung: Ein ursprünglich weißes T-Shirt, das von oben bis unten voller Kaffee, Bier, Ketchup und Essensresten besudelt war, eine völlig zerrissene Jeans, die stark nach Schweiß und Fäkalien roch und helle Tennissocken, aus denen alle zehn Zehen herausragten. Wann immer er sich nach draußen begab, zog er zusätzlich Gummistiefel und einen Regenmantel an.

Als sich Marilyn vor zwei Jahren ein Katzenpaar zulegte, vergaß offenbar der Verkäufer zu erwähnen, dass eine Katze männlich, die andere weiblich war. Deswegen bewohnten das Apartment später nicht zwei, sondern neun Katzen.

Die sehr aktiven Kleintiere waren jeden Tag damit beschäftigt, sich gegenseitig zu jagen, dabei laut zu kreischen und die Sitzpolster immer weiter in das Erscheinungsbild von Lametta zu versetzen. Chuibacco wirkte auch dabei gerne mit, indem er die Polsterfüllung heraus riss, an den Stellen, an denen die Katzen Vorarbeit geleistet hatten. Gab es hierbei Besitzstreitigkeiten zwischen ihm und eine der Katzen, schnappte er sie sich und warf sie quer durch den Raum ins Eck. Marilyn lag währenddessen regungslos mit halboffenen Augen auf dem fast nicht mehr als solches erkennbaren Sofa und schaute Quiz-Sendungen, in denen Aufgaben wie „Finden Sie den fehlenden Buchstaben in 'Auto_obil' und rufen Sie sofort an!“ gestellt wurden. Sie stand gelegentlich ächzend auf, um die Bildschirmoberfläche mit dem Ärmel ihres Pullovers von den Zeichnungen ihres Sohns zu befreien. Dabei knisterte und raschelte es unter ihren Füssen, wegen der vielen, herumliegenden leeren Chipstüten, Katzenkot, Schokoladenstückchen, Mikrowellengerichts-Verpackungen, gebrauchte Kondome, Pizza-Schachteln, zerfetzten Zeitschriften und einzelne, vollgekritzelte Buchseiten.

 

Wann immer sie sich ein neues Fertiggericht in den völlig verdreckten Mikrowellenherd schob und diesen mit einer patschenden Handbewegung so lange schlug, bis er ansprang, gingen im Wohnbereich alle Lichter aus, weil die Elektrik in den Wänden das letzte Mal 1959 inspiziert wurde. Ging Chuibacco das Papier aus, weil er die höher eingeräumten Bücher zu schwer erreichen konnte, zog er an den Wandtapeten, die sich ohnehin von selbst zu lösen begannen. Der Mieter im Stockwerk darüber verstarb vor einem Jahr in seiner Badewanne bei aufgedrehtem Wasserhahn. Es tropfte deswegen ständig in Marilyns Apartment von der Decke. Manchmal wunderte sie sich wegen des seltsamen Geschmacks des Wassers, wenn es in ihrem Gesicht landete. Sie konnte ja nicht ahnen, dass der Mitbewohner im Stock darüber inzwischen ein Skelett war, dessen Einzelteile in seinem Badezimmer hin und her gespült wurden. Ein Ambiente der gegenseitigen Aufmerksamkeit, wie es besser nicht zu ihrem Charakter passen könnte.

 

Beim gemeinsamen Mittagessen unterhielten sich die Drei gerne, nachdem sie den 50cm hohen Wohnzimmertisch vor laufendem Fernseher vom Abfall des Vortags befreit hatten. Dies war mit einer raschen, schiebenden Handbewegung erreicht. Es gab jeden Tag Fertiggerichte in Plastikschalen – für Alle.

Dazu gab es für Marilyn Apfel-Zitronen-Melonen-Pfirsich-Orangen-Karotten-Kiwi-Pflaumen-Ananas-Blaubeer-Kartoffel-Birnen-Kirschsaft mit sämtlichen Vitaminen, Mineralien und vielen weiteren tollen Sachen, die ihre Schönheit von Innen und schlanke Linie fördern sollten. So stand es jedenfalls auf der Flasche, Preis: 49 Cent vom Discounter: Musste also stimmen. Immerhin schaffte sie es bereits, sich auf Größe 9XL herunter zu hungern.

Für Gotthilf gab es Bier aus Plastikflaschen. Danach gab es für ihn Bier und nachdem er es leer hatte, gab es mehr Bier, woraufhin er dann Bier trank, bevor er sich das nächste Bier öffnete. Ob das nun vor dem Frühstück oder während des Mittagessens so lief, ist nebensächlich, denn einen Unterschied gab es nicht.

Marilyn ließ ihre Finger lautstark knacksen, schaute mit kaltem Blick in die Runde und stieß während eines Speckwürfel-Hustens hervor: „Essen gut?“ - „Yo.“ - „Balamm ...“ - „Fresse!“. Die Drei aßen und sprachen oft gleichzeitig, das Besteck vom Vortag in den Händen. Es blieb nach dem Essen immer auf dem Tisch liegen. Die Katzen kümmerten sich gern um die meisten Essensreste daran. So war es hygienischer, denn das einzig vorhandene Waschbecken war so voller Haare, dass man meinen konnte, zehn langhaarige Hunde hätten sich darin von Winter- auf Sommerfell umgestellt. Unter und neben jenem Becken wurde sporadisch Müll gestapelt, seit Jahren auch organischer.

Ich bin schön. Gotthilf?“ - „Häh?“ - „Sag mir jetzt dass ich schön bin!“ - „Häh? Schön. Bier schön. Che Guevara. Lenin. Also ich meine, dass ich jetzt zum gegenwärtigen Zeitpunkt besser nichts meinen, sagen oder ausdrücken sollte, es ist für den Freiheitskampf der Genossen, weil es gut ist und besser.“, so Gotthilf zu Marilyn darauf. „Aber ich bin doch schön!?“, so sie mit leiser, fast gebrochener Stimme. „Yo, ho ho.“, so er darauf, eine halbe Sekunde vor dem nächsten Schluck Bier.

So vergingen Tag für Tag, Woche für Woche, ohne merkliche Unterschiede, als plötzlich doch eine Veränderung einsetzte: Chuibacco fing nun das Schreien auch dann an, während Marilyn und Gotthilf beim gemeinsamen Liebesakt waren, bei Pornofilmen unter vollster Lautstärke im Wohnzimmer. Damit Gotthilf sich keinen mehrfachen Beckenbruch zuziehen würde, machte er dabei grundsätzlich den aktiven Part, oben. Er starrte dabei volltrunken auf den Bildschirm und stellte sich vor, der männliche Darsteller zu sein, der weibliche Part in den Filmen musste Marilyns Erscheinungsbild trotz Gotthilfs Zustand von beinahe-Delirium ersetzen. Der Mann hatte ein enormes Maß an Fantasie und die Beziehung deswegen - allein deswegen - ihren Bestand.

Marilyn lag dabei auf ihrem Rücken und würgte alle 30 Sekunden ein „Yeah Baby!“ hervor. Nicht selten liefen dabei die Katzen miauend über ihren Körper, was sie aber nicht weiter störte, genau so wenig wie Gotthilf, dessen Alkoholspiegel so gut wie nie unter vier Promille sank, da er sogar während dem Sex schmatzend an den Bierflaschen nuckelte und dabei die Hälfte des Inhalts an seinem Bart hinunter glitt und sich auf ihrem Körper verteilte. Oft rülpste der Mann dabei mit weit geöffnetem Mund über 10 Sekunden.

 

Marilyn erwiderte mit ihrer diplomatischen Seite, auf das Geschrei ihres Sohns: „Halt Deine Fresse, oder ich zertrümmere Deinen beschissenen Schädel, Du wertloses Stück Scheiße!“ und Gotthilf fügte „Yo, ho ho, Ru.. *rülps* ..Ruhe!“ hinzu.

 

Der kleine Chuibacco gab sich so schnell nicht geschlagen, griff eine der Katzen und donnerte sie in Gotthilfs Gesicht. Der Mann verlor dadurch das Gleichgewicht und stolperte erst auf den Boden und dann auf allen Vieren in Richtung des Fernsehers, welchen er mit dem Kopf von dem Tischchen stieß. Dabei knallte die implodierende Bildröhre so laut wie ein Feuerwerkskörper. Gotthilf wurde dadurch so sehr erschreckt, dass er um Luft ringend gekrümmt zwischen dem Müll am Fußboden lag, während sich Marilyn aufrichtete.

Dieser menschliche Koloss stapfte in Chuibaccos Richtung. Dieser warf eine weitere Katze, diesmal zielgenau in Marilyns Gesicht. Dort krallte sich das Tier fest, fauchte laut, während sich die Frau wie ein Kreisel um sich selbst drehte, abwechselnd in hohen und tiefen Tönen jaulte. Dabei verlor auch sie ihre Balance und stürzte auf Gotthilf. Dessen Körper konnte einem solch immensen Gewicht nicht standhalten: Sein Brustkorb wurde auf wenige Zentimeter Höhe zusammengequetscht, dabei hörte man ein Geräusch, das wie das Zerbersten von fünfzig Salzstangen klang.

Die Katze auf Marilyn hatte sich vom ihrem Gesicht gelöst und war nun dabei, mit seinen Krallen Marilyns Kopfhaare samt Kopfhaut darunter auszureißen. Wieder sprang die Frau auf, blutüberströmt, wie ein Schwein auf der Schlachtbank quiekend, riss die Arme erst in die Luft, griff dann die Katze mit beiden Händen und schleuderte sie mit der Wucht einer Kanonenkugel gegen die Wand, zusammen mit einer Fontäne ihres eigenen Bluts, das sich wie ein Wegweiser von Koloss Marilyn hin zu der Katze in der Wand über den Boden zog.

Die Frau hatte Kraft: Das Tier blieb in der maroden Wand stecken und gab keinen Pieps mehr von sich.

 

Marilyns Zähne waren aufeinander gestellt, ihr dunkelrotes Gesicht glich dem eines hasserfüllten Dämons, ihr Blut tropfte von Nasenspitze, den Wangen und dem Kinn, als sie sich erneut hin zu Chuibacco schleppte. Dieser rutschte geschickt zwischen ihren Beinen durch, was die Frau so sehr schockte, dass sie erneut die Balance verlor und Halt an einem Holzregal suchte, dessen oberste fünf Reihen mit verstaubten Büchern voll beladen war.

 

Das Regal kippte zusammen mit der Frau zu Boden und zersprang dabei in seine Bestandteile. Die alten Wälzer wurden dabei über den ganzen Raum verteilt. Sohnemann griff sich eines der größeren Exemplare davon und schlug es seiner am Boden, zwischen Holztrümmern liegenden Mutter mit einer Kante voraus ins Gesicht. Gleich im Anschluss leckten die verbliebenen acht Katzen das verspritzte Blut vom Boden auf: Endlich etwas Anderes als das billigste Hamsterfutter aus dem 20kg-Sack.

 

Die Frau rollte sich stöhnend zur Seite, die Augen auf Chuibacco gerichtet: „Nicht mit meinen Büchern! Meine Bücher!! Meine Bücher!! Meine Bücher!! Jetzt werde ich Dir Dein Herz raus reißen, Du widerliche Missgeburt! Aaaaah!! AAIIEEEH..AAARR!!“, nahm ihre letzte Kraft zusammen und sprang wie ein Karate-Kämpfer auf die Füße. Das erzeugte ein solches Beben, dass sich im Raum darunter eine Deckenlampe aus der Verankerung löste und mit lautem Knall zu Boden stürzte.

 

Marilyn stolperte diagonal durch den Raum, während sie mit dem Organ einer Opernsängerin schrie: „Ich bin eine gute Mutter! Ich bin romantisch!! Ich bin liebend!! ICH. BIN. LIEBEND. LIE-BEND!“.

Chuibacco entwich dem heran stapfenden Elefant nochmals, indem er sich zwischen die Füße der Frau warf. Bevor sich diese versah, war sie mit vollstem Schwung durch die geschlossene Balkontür gesprungen. Und nun lag sie da, im selbst-inszenierten Scherbenhaufen des eigenen Lebens.

 

Chuibacco tappte in langsamen Schritten zu ihr.

 

Sie war nahezu paralysiert am Boden gefesselt, röchelte leise, grunzende Laute vor sich hin und während Blut im Rhythmus ihrer Atmung aus Mund und Nase sprühte, robbte sie langsam zurück, auf dem Rücken liegend, in die Richtung aus der sie gekommen war. „Chuiblogga.. Chuimoddo..“, hechelte Marilyn, die Augen voller Blut, das von blankem Wahnsinn verzerrte und entstellte Gesicht übersät mit Glassplittern, “Chuikacka.. ach egal, Du bist .. Du bist wie Deine Väter, alle Männer.. Die Alle! Du ignoriertes Mitglied.. Du Ignorant, ich brauche sowas wie Dich nicht, weg, weg, weg! Thread schließen!.. Aber.. Aber.. Nein, Du bist doch mein Liebling. Komm zu mir, auf die Couch. Wir schlafen, uns in den Armen liegend, zusammen ein.. Komm zu mir! Ich bin doch .. liebend! Ich bin .. doch .. liebend. Ich .. Ich.. Ich.. Ich..

Warte bis ich Dich zu fassen kriege, dann ...“ - noch bevor Marilyn ihre erzieherische Maßnahme fertig formuliert hatte, wurde sie durch eine schwere, keilförmige Glasscherbe unterbrochen, die aus dem Türrahmen an seiner oberen Kante brach und in die Tiefe schnellte, direkt in Marilyns Hals.

Dieser ging in den letzten Jahren stärker in die Breite als ihr Kopf, wie bei einem Frosch.

 

Sie ruderte mit ihren monströsen, kegelförmigen Armen noch eine Weile, während ihre Beine zuckten, bis sie dann blubbernd ihren letzten Atemzug ausstieß: „Fo-rum ich?

 

Ihre mit Speck-Sauce, Blut, und Saft verschmierten Hände patschten mit einem machtvollen, dumpfen Geräusch auf den Boden, die Augen weit aufgerissen, bei größer-werdenden Pupillen, die nach und nach Marilyns Augenfarbe fast gänzlich verdrängten.

 

Erstmalig seit Langem brach die Sonne durch die dicke Wolkendecke.

 

Die in der Wand steckende Katze kam wieder zu sich, hüpfte zu Boden, sprang durch den Raum und stellte sich neben den Buben. Das durch seine Besitzerin gepeinigte Geschöpf schaute erst zu Chuibacco auf, dann zu der Frau am Boden. Der Kläger auf vier Beinchen schaute tief und lange in Marilyns Augen, aus nur wenigen Zentimetern Distanz, brummte leise.

 

Die Katze brummte lange.

 

Die Katze brummte sehr lange.

 

Die Katze dachte eingehend nach, kniff dabei leicht die Augen zusammen, schaute ernst.

 

Dann wandte sich das Tier elegant von ihr ab, zielte, übergoss das Gesicht der Dame mit dem Inhalt seiner Blase und gab dazu ein melodisches „Miau“ zu hören. Das Kätzchen stolzierte im Anschluss auf sehr langsamen Pfoten schnurrend davon.

 

Da das Schloss der Wohnungstür schon seit Jahren kaputt war, konnte man von draußen jederzeit eintreten. Und so kam es, dass der Hausmeister, alarmiert durch den vorangegangenen Lärm, Marilyns Apartment betrat. „Hallo?! .. Oh! .. Meine Güte, wie sieht es denn hier aus?! Jetzt darf ich schon wieder sanieren, bevor hier das Sozialamt einen neuen Mieter reinsteckt!“ grummelte der Mann vor sich hin, als er über den Teppich aus unter ihm knirschenden, beißend stinkenden Abfall lief und dabei nur beschwerlich voran kam. „Miau!“.. „Miaaauuu!“ .. Von allen Seiten das Selbe, dazu der unmöglich zu ignorierende Geruch von Urin, welcher wohl schon seit Ewigkeiten den Charakter dieses entstellten, nahezu zerstörten Wohnraums prägte.

 

 

 

Warum liegen Sie denn auf dem Boden?“, so der Hausmeister zu der liegenden Marilyn, die er mit der Fußspitze leicht anstieß.

Haben Sie eine Ahnung, wie viel Arbeit nun auf mich zukommt? Ich bin der Idiot, der den ganzen Müll hier entsorgen darf! Wobei ich noch nicht weiß, wie man SIE hier raus tragen soll! Wahrscheinlich braucht man dafür einen Kran! Ich muss mir was einfallen lassen!

 

Sohnemann lächelte unterdessen breit und zufrieden, als er auf das erstarrte Gesicht seiner Mutter hinunter blickte und verabschiedete sich von ihr mit:

 

Balamm, bamm-bamm, Bumm-di-Bumm!!“

 

Der Hausmeister drehte sich um und visierte die Wohnungstür an, als er den röchelnden Gotthilf bemerkte. „Hey Du Penner! Das kostet fünfzig Euro für zwanzig Minuten ohne Gummi! Gezahlt wird bei mir!“, so der Lebensgefährte mit zerquetschtem Brustkorb, am Boden kauernd mit krächzender, leiser Stimme.

Der Hüter des Wohnblocks 2474-A sagte nichts, schüttelte mit dem Kopf. „Hörst Du mich?! .. Wo bleibt die Kohle, Mann?! .. Wir müssen auch essen und .. Bier .. Viva la Rev...“ - Gotthilfs Kopf schlug auf ein zwischen dem Unrat liegendes Plüschtier, als auch er zum letzten Mal ausatmete. Er grinste dabei, denn er fand endlich seine Erlösung.

 

Es vergingen sechzehn Jahre.

 

Die Wüstenlandschaft aus Betonmeilern, die mehrere Quadratkilometer bestimmte, wurde ein kleines, ein sehr kleines Stückchen schöner, als die Mitarbeiter einer lokalen Reinigungsfirma damit begannen, Marilyns Parzelle zu säubern. Sie trugen Overalls aus gelber Plastikfolie, dazu Helme mit Atemschutz. „Schau mal, da liegen Knochen bei der Balkontür.“, so einer der Bediensteten zu seinem Kollegen, „Ist doch immer wieder das Gleiche! Erst werden Haustiere gekauft und dann verrecken sie weil dieser Abschaum, der hier haust, mit ihnen genau so umgeht wie mit Leuten!“. Die Männer benötigten vier Wochen, um ihr Werk zu vollenden.

Der letzte Müllsack, angefüllt mit einem undefinierbaren Durcheinander aus zerknüllten Buchseiten, Knochen, verwestem Bioabfall, Haaren und Katzenkot wurde mit einem ächzend mechanischen Geräusch in der hydraulischen Presse des Mülltransporters auf wenige Millimeter Dicke gebracht. Zwei menschliche Schädel zersplitterten dabei in Millionen Krümel.

Der Sohn des einstigen Hausmeisters machte währenddessen seinen Kontrollgang durch das frisch renovierte Apartment. Er schaute mit besorgtem Blick aus dem Fenster jenes sechsundzwanzigsten Stockwerks in die untergehende, orange glühende Sonne, flüsterte leise: „Was für eine Welt. So viel Eleganz, so viel Schönheit und so wenig Gutes. Wohin zum Teufel moderieren wir uns nur?

 

Auf der Brüstung des Balkons landete ein wunderschöner, in allen Farben schillernder Schmetterling.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Steffen Lenk).
Der Beitrag wurde von Steffen Lenk auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.03.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Steffen Lenk als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

REALWORLD - Stadion der Märtyrer von Michael Morten



Angriff auf ein Fußballstadion
Sharon Stockwell, eine britische Journalistin, wittert die Topstory Ihrer Karriere. Sie ist den größten Terroranschlägen aller Zeit auf der Spur.
Gemeinsam mit Max Redcliff, einem britischen MI5-Agenten kurz vor der Pensionierung, versucht sie die Pläne der Terroristen zu durchkreuzen.
Sie muss das schreckliche Geheimnis ihres undurchsichtigen Exfreundes enträtseln, der eine Schlüsselfigur im tödlichen Kampf gegen den Terror ist.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Drama" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Steffen Lenk

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Hotel Hughes von Steffen Lenk (Humor)
Abschiedsbrief einer fünfzehnjährigen von Rüdiger Nazar (Drama)
Problemlösung von Norbert Wittke (Glossen)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen