Christina Stöger

Drachenkinder


Drachenkinder

Es war einmal, in einem Land nicht weit entfernt, ein kleines Mädchen. Es liebte alle Drachen sehr. Kleine, dicke, große, kleine Drachen - sie kannte sie aus ihren Büchern, Zeitschrift und auch von den vielen Bildern, die sie sich immer wieder gerne anschaut. Wenn sie mit ihrem Stoffdrachen sprach, dann war sie zufrieden, denn er hörte ihr zu, verstand ihre Probleme und konnte sie immer wieder aufheitern. Dann lachte sie herzhaft und alle Probleme schienen wie weggeblasen. Sie war ein glückliches Kind.

Die Jahre gingen ins Land und aus dem kleinen Kind wurde eine erwachsene Frau. Sie beendete ihre Schule, machte eine Ausbildung und war sehr fleißig in ihrem Beruf. Doch eines vergass sie dabei ganz. Ihre Liebe zu den Drachen. Sie musste lernen, dass es diese geflügelten Fantasiewesen nicht in ihrem Leben gab. Die Drachen konnten ihr nicht helfen, wenn sie auf dem Schulhof verprügelt wurde. Sie konnten sie nicht trösten, als sich ihr Vater und ihre Mutter trennten und sie waren auch nicht da, als sie ihren ersten Liebeskummer hatte. Sie hatte verlernt, auf ihren inneren Drachen zu hören und auf seine Kraft zu vertrauen. Sie hatte ihr Herz und ihre Seele hinter einer dicken Mauer versteckt, um die Lasten des Alltags besser ertragen zu können.
Sie wurde hart und Gefühle spielten in ihrem Leben keine Rolle mehr. So hatte sie es bis an die Spitze eines erfolgreichen Unternehmens geschafft. Sie war ihr eigener Chef, doch die Liebe war ihr versagt geblieben. Sie hatte keinen Mann und keine Kinder - und sie hatte das Lachen komplett verlernt. Kein gutes Wort kam mehr über ihre Lippen und die Leere in ihrem Inneren begann sie langsam aufzufressen.

Bis zu jenem Tag im Frühling.

Die Sonne war gerade glutrot hinter den Bäumen verschwunden und tauchte den Himmel in wundervolle Farben. Der Tag war wieder einmal sehr stressig gewesen, so dass sie sich an diesem Abend etwas Gutes tun wollte.
So setzte sie sich mit einem Glas Rotwein und einer weichen Decke auf den Balkon ihrer großen Wohnung. Von hier aus hatte sie eine wunderschöne Sicht auf den See, der direkt an ihr Grundstück grenzte. Normalerweise hatte sie nie Zeit, sich an diesem Blick zu erfreuen, doch heute Abend war alles irgendwie ein bisschen anderes.
Es war der erste warme Frühlingsabend in diesem Jahr und die Vögel auf den Bäumen vor ihrem Haus sangen fröhlich ihr Abendlied. Sie lehnte sich zurück um sich zu entspannen und schenkte sich den teuren Wein in ihr Glas, den sie sich heute extra besorgt hatte. Sie war es nicht gewohnt, so viel zu trinken, doch heute konnte sie einfach nicht widerstehen. So lehnte sie sich zurück und schloss mit einem Seufzer die Augen. Dieser Wein war etwas ganz Besonderes, das hatte sie schon beim Öffnen der Flasche gemerkt.
'Ach, wie gut das tat'. Warum hatte sie das nicht schon früher gemacht?
 
"Quak", machte es neben ihr und sie öffnete erschrocken die Augen. Auf dem Geländer saß ein kleiner, grüner Frosch und blies Luft in seine dicken Backen.
"Quak, quak" machte er wieder. Sie war so erschrocken, dass sie sich nicht rühren konnte. Was machte dieses Ungeziefer auf ihrem Balkon? Sie wollte aufstehen und ihn über die Brüstung werfen, sie wollte ihn verscheuchen, doch sie konnte sich nicht bewegen.
"Guten Abend", sagte der Frosch.
Er konnte sprechen? Irgendwie musste sie doch zu viel Wein erwischt haben.
"Guten Abend, Frosch", sagte sie zu ihm, ohne weiter darüber nachzudenken. Die Worte kamen direkt aus ihrem Herzen.
Der Frosch grinste über das ganze Gesicht und sprang noch näher zu ihr.
"Was willst du denn hier? Und warum kann ich dich verstehen?"
"Heute ist alles ein bisschen anderes. Ich kann dich ja auch verstehen." Der Frosch lachte und machte es sich bequem.
"Ich wollte mal bei dir vorbei schauen. Dachte der Abend ist geeignet dazu, quak. Was hast du nur aus deinem Leben gemacht? Was ist aus diesem lieben, netten Kind geworden, das wir alle so geliebt haben. Die Drachen brauchen dich doch. Sie vermissen dich so sehr. Deine Liebe und Wärme. Was hat das Leben dir nur angetan?"
Die junge Frau war so erschrocken, dass sie nicht einmal antworten konnte. Woher wusste dieses grüne Tier von ihr und den Drachen? Woher kannte er ihre Kindheit?
Heiße Tränen tropften auf ihren Handrücken, doch sie bemerkte es nicht einmal.
"Ich musste mich doch selber schützen. Das konnten die Drachen nicht. Sie haben mich nicht..."
"Ach quak! Sie waren immer für dich da, doch du hast sie aus deinem Leben verbannt. Du hast dein Herz in einer dunkle Höhle eingesperrt und ihm die Liebe verweigert. Wach endlich auf und mach was aus deinem Leben. Geld ist nicht alles. Die Liebe muss wieder her, und zwar zügig! Schau dich um, betrachte die Wolken am Himmel, dort wirst du deine Drachen finden. Schau dir die Steine am See an, auch dort wirst du sie sehen können, wenn du nur genau hin siehst. Und suche die Drachenhöhle. Dort kannst du sie finden - die Drachen mit dem reinen Herz. Quak!"
"Aber wie... ja, ich werde es versuchen!" stotterte sie.
"Dein Herz wird dir den Weg weisen, wenn du wieder lernst, darauf zu hören."
Der Frosch hüpfte auf sie zu, stieß ihr Weinglas um und schleckte die restlichen Tropfen genüsslich aus.
"Da fehlt die "Fliegeneinlage" und die "Teichwasser-Eiswürfel". Na, Frosch kann ja nicht alles haben, schmeckt trotzdem."
Dann leckte er sich noch ein mal mit seiner langen Zunge über die Lippen, warf ihr eine Kusshand zu und hüpfte davon.

Endlich konnte sich die Frau wieder bewegen. Die Starre war von ihr abgefallen.
Der Frosch hatte Recht. Sie hatte ein Herz aus Stein. Doch das sollte sich nun wieder ändern, lange genug war sie so gewesen. Außerdem war sie erwachsen geworden. Die Kinder aus der Schule konnten ihr nichts mehr anhaben! Mittlerweile hatten die Menschen Respekt vor ihr, doch die Liebe fehlte gänzlich.
Und hier, an diesem Abend musste sie ich das von einem Frosch sagen lassen!
Jahrelang hatte sie ihre Tränen zurück gehalten, doch nun liefen sie. Sie schluchzte so sehr, dass sie sich fast nicht mehr beruhigen konnte. Doch es tat auch unheimlich gut.
In dieser Nacht nahm sie sich vor, ihre Drachen wieder zu finden. Und irgendwo auf dem Dachboden musste auch noch ihr kleiner Stoffdrache sein...

Am nächsten Tag konnte sie sich noch gut an ihr Vorhaben und ihren Traum erinnern. Es war doch ein Traum gewesen, oder?
Sie staunte nicht schlecht, wie viele Drachen sie schon am Morgen sehen konnte. Auf ihrer alten, bunten Kaffeetasse war doch tatsächlich einer zu sehen. Und auch ihr Toast hatte irgendwie die Form...
Auf dem Weg zur Arbeit, den sie heute morgen zu Fuß zurück legte, kam sie an einem Schmuckgeschäft vorbei. Schon häufiger war sie diesen Weg gegangen, doch noch nie war es ihr aufgefallen. Sie blieb wie verzaubert stehen und betrachtete die Auslagen im Schaufenster. Und was konnte sie da sehen? Lauter kleine und große Frösche. Auch einige Drachen waren zu erkennen. Ohne lange nachzudenken öffnete sie die Tür und trat ein.
 
Nach ungefähr einer Stunde, in der sie fast alles über diese Firma und ihren Schmuck erfahren hatte, trug sie stolz einen Drachenring an ihrem Finger und einen Froschkönig um den Hals.
"Drachenfels Design" war der Name. Und der war Programm.
Als sie das Impressum der Schmuckbroschüre las stellte sie erstaunt fest, dass sich diese Drachenhöhle ganz in ihrer Nähe befand.
Spontan beschloss sie heute nicht zur Arbeit zu gehen. Die würden auch mal einen Tag ohne sie auskommen und Einige waren bestimmt froh, wenn sie nicht erschien. Das wurde ihr schlagartig bewusst. Sie musste das ändern. Gleich morgen. Doch heute hatte sie den Tag für sich. Die Sonne schien so wunderschön und auch kleine Wolken waren am Himmel. Sah da nicht eine aus wie ein Drache...?

Als sie nach einiger Zeit vor der Drachenhöhle stand, konnte sie schon die Wärme und Herzlichkeit spüren, die aus dem Inneren zu kommen schien.
Plötzlich öffnete sich die Tür, ohne dass sie geklingelt hatte und eine Dame stand im Türrahmen.
"Ich habe Sie schon erwartet. Kommen Sie doch bitte herein", sagte sie mit einem gewinnenden Lächeln auf ihren Lippen.
Die junge Frau trat ein und konnte ihren Augen nicht trauen.
"Darf ich Ihnen meine Drachenkinder vorstellen?" sagte die Drachenmama ganz stolz und zeigte auf die bunten Figuren. Einige standen in der Sonne, Andere schienen die Höhle zu bewachen und wieder Andere saßen ganz nah beisammen und es sah nach einem gemütlichen Kaffeekränzchen aus. Rote, Blaue, Grüne, Goldene und viele mehr strahlten ihr entgegen.

"Diese Figürchen haben alle so viel Liebe und Wärme, dass es in dieser Höhle nie kalt wird", erzählte sie weiter.
"Aus Pappmache entstanden, mit viel Fleiß und Hingabe ist jedes einzelne dieser kleinen Drachenkinder entstanden. Sie freuen sich sehr hier zu sein und die Freundschaft untereinander zu genießen. Schauen Sie sich ruhig noch ein bisschen um."
Mit einem Lächeln im Gesicht ließ sie die staunende, junge Frau in Mitten der Drachen allein.
Und plötzlich saß der Frosch wieder vor ihr. Sie wollte gar nicht wissen, wie er hier her gekommen war, doch auch er strahlte sie an und sagte:
"Du hast es geschafft, bist endlich angekommen. Hier ist dein Herz zu Hause. Lerne das Leben wieder zu genießen und freue dich an den kleinen Momenten des Glücks. Deine Drachen sind überall. Und Lach mal wieder!"
Ganz genau so war es auch. Sie konnte die Kraft spüren, die die Mauer in ihrem Herzen zum Einsturz brachte. Sie konnte endlich wieder leben und fühlte sich wie neu geboren. Ihre alte Kraft, die sie als Kind besessen hatte, war zu ihr zurück gekommen. Sie fühlte sich so frei und glücklich wie schon ganz lange nicht mehr.
Als sie sich schwungvoll umdrehte, stand die Drachenmama wieder vor ihr, reichte ihr ein großes Glas Wein und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Ob sie ihr die Geschichte mit dem Frosch erzählen sollte?
"Ich weiß, es ist noch früh, aber ich glaube, das können Sie jetzt gut gebrauchen. Setzten wir uns doch ein wenig und plaudern. Ich habe für heute auch Feierabend."
Und mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht nahm sie diese Einladung gerne an.

CS 27.3.2012

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.03.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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