Florence Siwak

8 Quadratmeter


Max ging seine Liste zum wiederholten Mal durch.
 
Es blieb dabei: nur ein Name stand auf seiner zweiten Liste. Nur ein Mensch verdiente es, von ihm „berücksichtigt“ zu werden.
 
Er seufzte und dachte an die vergangenen Tage. Er wollte, er durfte sie auf keinen Fall vergessen. Wie war das noch gleich?
 
Ach ja, er hatte als erstes  Konstantin besucht, seinen älteren Bruder. Der lebte schon seit Jahren im Altenheim und war dort gerade in die Pflegeabteilung gewechselt.
 
Die  würde er – Max – wahrscheinlich auch bald brauchen! Er wurde vergesslich! Nicht einfach so vergesslich, wie es einem 77-Jährigen zugestanden wurde, nein,
er war noch klar genug, um bemerkt zu haben, dass dieses Phänomen anders zu bewerten war. Sein Leben entglitt ihm; seine Erinnerungen verschwanden – irgendwohin.
Er benötigte auch morgens immer länger, um in Gang zu kommen; seine Beine zitterten, seine Hände gehorchten ihm nicht mehr so wie noch vor kurzem.
 
Was tun?
Zum Arzt gehen - klar. Irene hatte ihm diesen Rat schon oft gegeben. Sie hatte es als erste bemerkt und – sie hatte ihn gedeckt, so gut sie konnte und vor ihrem Mann Lars,
seinem Neffen, in Schutz genommen.
Lars – ja – Lars war ein besonderer Fall.
Ihm war der Anteil von Max‘ Pension für Kost und Logis durchaus Recht. Da sein Talent, Geld auszugeben größer war als das, welches zu verdienen, hatte er seinem
verwitweten Onkel vor drei Jahren bereitwillig angeboten, in das 3. Zimmer zu ziehen, das leer stand, seit Felix, der Sohn, nicht mehr zu Hause wohnte.
Für dieses Privileg beteiligte sich Max großzügig an den Lebenshaltungskosten, vor allem, um es Irene zu erleichtern, die sich in  mehr als 20 Jahren Ehe vollständig von
Lars abhängig gemacht hatte – zu Max‘ großem Leidwesen.
 
Max hatte sich Zeit gelassen, an diesem Morgen – viel Zeit. Er besuchte Konstantin in letzter Zeit nicht mehr gern. Er wollte mit seiner Zukunft nicht ständig konfrontiert werden.
Sein Auto ließ er in letzter Zeit immer häufiger stehen. Der Bus fuhr direkt bis vor die Tür des Pflegeheims.
 
Es stand – gediegen und von heiterer äußerer Freundlichkeit – in einer kleinen Straße. Diskret, ruhig, aber mit guter Verkehrsanbindung und nicht „weit vom Schuss“.
Auf den Eingangsstufen hatte er wieder – wie schon bei den letzten Besuchen – die reizende alte Dame getroffen, die auf ihren Sohn wartete. Jedes Mal.
„Haben Sie meinen Sohn gesehen?“ fragte sie Max. Als er den Kopf schüttelte, beugte sie sich zu ihm und flüsterte verschwörerisch:
„Wissen Sie, ihm gehört dieses Hotel. Ich wohne nur hier, bis mein Haus renoviert ist. Dann gehe ich wieder nach Hause.“
Max tätschelte ihr die Schulter und eilte an den bequemen Sesseln vorbei zur Rezeption, die der Halle tatsächlich den Eindruck  eines Hotels vermittelte.
 
„Konstantin…“ Verdammt, der Familienname von Konstantin fiel ihm nicht ein. Er war sein Halbbruder, hieß nicht Krüger wie er. ‚Das stimmt doch hoffentlich‘ dachte er voll Panik, ‚
dass ich  m e i n e n  Namen noch weiß?‘
„Mein Bruder, er ist verlegt worden…“
„Ja“ antwortete die in diskretes Hellgrau gekleidete Empfangsdame beflissen.
„Konstantin Bergmann, ich weiß. Sie haben ihn ja schon einige Male besucht. Sie finden ihn im 2. Stock. Aber vielleicht ist gerade die Physiotherapeutin bei ihm…“
Als Max sie fragend anblickte, ergänzte sie „Wir versuchen, unsere Gäste so lange wie möglich fit zu halten.“
Sie musterte ihn abschätzend, so als nähme sie schon Maß für ein Bett oder einen Sarg dachte Max erbost.
 
„Sie können sich im 2. Stock bei der diensthabenden Pflegeleiterin erkundigen,“ beeilte sie sich ihm mitzuteilen. Sie hatte seinen scharfen Blick bemerkt.
„Vielleicht“ rief sie ihm hinterher, „vielleicht möchten Sie sich ja etwas bei uns umsehen. Unsere Einrichtung hat ihren Gästen allerhand zu bieten.“
Max ignorierte sie und nahm den Fahrstuhl in den 2. Stock.
 
Als er abends müde und abgespannt nach Hause gekommen war, wollte er nur eines: Die Eindrücke, die Gerüche, die lauten Stimmen, die Hoffnungslosigkeit in
einem langen heißen Bad abspülen. Und sich am liebsten selbst mit dem duftenden Schaum durch den Abfluss jagen.
Er wollte die Bilder vergessen. Alte Menschen, die wie Kinder um Tische herumsaßen und Dinge bastelten, die niemand je brauchen würden – am wenigsten sie selbst.
Beschäftigung, einfach nur Beschäftigung. Bei Kindern – gut und schön. Sie wurden ja älter, bei ihnen wurde aufgebaut. Aber hier? Er sah sich selbst dort sitzen… Nein.
Aber gut, wem es gefiel!
 
Gottlob war Lars nicht zu Hause und Irene stellte nach einem Blick in sein abgezehrtes Gesicht mit den verzweifelt trostlosen Augen keine Fragen.
 
„Essen kannst Du nach dem Bad, Max. Vielleicht können wir ja noch ein Glas Wein zusammen trinken. Lars kommt erst spät heim heute.“
 
„Heute?“ hätte er fragen können. Er tat es aber nicht. Sollte sie sich ihre Illusionen doch erhalten. Wenn es ihr so besser ging.
 
Nach dem langen Bad hatte er sich noch zu ihr gesetzt.
 
„Wie war’s denn so“ hatte sie ihn gefragt.
 
„Was?“
„Na, wolltest du nicht Konstantin besuchen?“ Sie blickte ihn prüfend an.
„Ach, ja, natürlich. Es ging so. Ihm geht es nicht so gut. Ich werde wohl nicht mehr hingehen.“
Er hatte ihr verschwiegen, dass sein Bruder, ihn kaum noch erkannt hatte. Nur dann und wann flackerte so etwas wie Erkennen in seinen Augen auf.
So als ob eine Erinnerung verzweifelt nach oben wollte, ans Licht – aber vergebens. Bis vor wenigen Monaten hatte er noch Schach gespielt mit zwei Männern aus dem Heim.
Einer war verstorben, hatte ihm die Pflegerin flüsternd anvertraut; der andere…naja…der war noch da, aber nicht mehr bei sich.
„Sie verstehen, was ich meine?“ Er verstand natürlich. Und der Dritte – sein Bruder – war auch nicht mehr bei sich.
 Er hatte Irene nichts weiter erzählt; er wollte sie nicht belasten. Sie hatte ihren Schwiegervater bis vor kurzem noch regelmäßig besucht, was Lars aber unterbunden hatte.
Von seinem Vater war nichts zu holen, also stand ihm auch keine Aufmerksamkeit zu.
 
„Die Leiterin hat mir einige Zimmer gezeigt. Doppelzimmer und Einzelzimmer.“
Die Räume im Parterre und ersten Stock waren recht nett gewesen. Zwar klein, aber er hätte einige Möbel mitbringen können.
Die billigeren Doppelzimmer boten natürlich nicht viel Platz für Privates, aber das würde er ja wahrscheinlich nicht mehr lange vermissen, dachte er bitter.
Wie mein Gehirn jetzt wohl aussieht?  hatte er sich gefragt.
Die Falten – sind sie schon flacher, ist alles schon glatter? Löse ich mich auf?
Würden seine Träume zuerst ausgebügelt werden oder blieben sie ihm noch. Vielleicht ja, die Erinnerungen an früher soll man ja angeblich zuletzt verlieren.
 
 „Man hat da so zwischen 7 und 8 Quadratmeter für sich. Und natürlich die allgemeinen Einrichtungen. Spiel- und Fernsehzimmer und so…“
 
Irene hatte ihn in Ruhe gelassen. Sie verstand und mochte ihn.
 
Dann auch noch diese Ungeschicklichkeit! „Hoppla – Entschuldigung!“
Beschämt versuchte er, den Rotwein mit einer Papierserviette aufzuwischen. Das Glas war ihm aus der Hand gefallen. Einfach so.
 
„Lass nur, das kriege ich schon hin. Das passiert mir doch auch oft genug“ hatte Irene ihn mit sanfter Stimme beruhigt.

 
‚Ja‘ dachte er sarkastisch, ‚aber nur, wenn Lars dabei ist, und dich wieder mal verunsichert‘‚
 
„So geht es nicht mehr weiter, Irene.  Etwas muss passieren.
„Ich muss mir was überlegen. Aber nicht heute oder morgen. Nächste Woche weiß ich, was ich tun werde.“
 
Irene hatte seine magere, braune Hand gestreichelt, genickt und war  in ihr Schlafzimmer gegangen. Die Tränen standen ihr in den Augen. Sie ahnte, was Max meinte,
wenn er davon sprach, etwas zu “tun“.
Lars hatte schon des Öfteren davon gesprochen, seinen Onkel in ein Heim zu geben, wenn er „lästig“ werden würde.
 
„Ein billiges natürlich“ hatte er eiligst hinzugefügt. „Seine Ersparnisse sind zwar ganz nett, aber wenn er noch Jahrelang lebt, kann ein gutes Heim ganz schön teuer werden.
Aber – wenn er so endet wie mein Vater, merkt er es ja nicht mal mehr.“
 
„Wie kannst Du nur, Lars. Er ist dein Onkel, er liebt dich und hilft, wo er kann. Ohne sein Geld könnten wir diese Wohnung nicht mal halten…“ empörte sich Irene,
was ihm nur ein schiefes Grinsen entlockte.
 
„Du bist zu weich, Liebling, dafür sitzt er doch schön im Warmen hier. Du kümmerst dich doch geradezu rührend um ihn, wie um ein Baby.“
 
Er gluckste vor Lachen und lehnte sich satt im Sessel zurück, nicht ahnend, dass Max in der Tür stand und alles mit angehört hatte.
 
Er wusste schon seit langem, dass Lars nichts taugte, aber etwas zu ahnen und dann die kalte Wahrheit zu hören, waren schon zweierlei Schuhe.
 
Das hieße also, wenn er – Max – nicht mehr bei sich war, würde nur die billigste Heimunterbringung in Frage kommen, um die Ersparnisse zu schonen.
 
„Der arme Onkel – er merkt es ja nicht mehr.“ Er hörte ihn förmlich so argumentieren.
Und Recht hatte er ja – eigentlich – vielleicht aber auch nicht.
Vielleicht bekamen diese Menschen ja viel mehr von ihrer Umgebung mit, als ihre Angehörigen und Pfleger vermuteten.
Und  – Würde, Würde war doch etwas, was man einem Menschen nie nehmen durfte, niemals, ob er nun „bei sich“ war oder bei was oder wem auch immer!
Das hatte ihn am meisten gestört: Dass die Pflege so „öffentlich“ war. Die Türen wurden geöffnet und geschlossen, egal, ob jemand mit Unterhosen im Raum stand.
Das war das schlimmste für ihn: sich lächerlich, sich klein zu fühlen.
 
Er hatte kaum geschlafen in dieser Nacht, die auf den Besuch bei Konstantin folgte.
 
Am zweiten dieser bedeutungsvollen Tage hatte sich Max in der JVA angesagt, um den Menschen zu besuchen, der vor ihm in dem kleinen Zimmer gewohnt hatte, seinen Neffen Felix.
Inzwischen war er 23 und würde bestimmt nicht mehr zu Hause wohnen, schon weil er sich mit seinem Vater nicht verstand.

Irene hatte ihn so oft sie konnte besucht und war immer völlig aufgelöst gewesen.
„Der arme Junge – er ist doch nicht schlecht. Er ist nur in schlechte Gesellschaft geraten.“
Das glaubte Max zwar auch, aber auslöffeln musste Felix das Süppchen schon, so salzig es auch war.
Er mochte den Jungen und freute sich, ihn zu sehen, zumal er nach einem Jahr Haft bald entlassen werden würde.
Er sah gut aus, fand Max, als er ihm im Besucherzimmer gegenüber saß.
„Du bist schlanker geworfen“ meinte er anerkennend.
„Ja, ich mache Sport. Wir haben hier viele Möglichkeiten. Abends spiele ich Schach mit Gerhard, der ist schon 70, aber fit wie ein Turnschuh.“
Das klang alles so wunderbar normal für Max, fast als wäre das hier ein richtiges Zuhause.
„Klar, wir haben auch ein paar schwere Jungs, aber überwiegend doch keine Gewalttäter, bis auf Gerhard, der hat im Affekt seine Frau erschlagen. Urkundenfälschung,
Betrug, Diebstahl – wie bei mir.
Ich habe sogar schon eine Stellung, wenn ich in vier Wochen entlassen werde. Zwar keine Vertrauensstellung, das muss ich mir erst wieder erarbeiten, aber ich freue mich schon, abends meine Wohnung abschließen zu können, wann ich will.“
Er lachte seinen Onkel an.
„Und wie geht es Dir? Gut siehst du aus.“
Er stockte. „Und Opa…?“
Er hatte immer sehr an seinem Großvater gehangen und es nicht verwunden, dass sein Vater ihn sofort bei den ersten Schwierigkeiten in ein Heim gesteckt hatte.
„Du solltest ihn sobald wie möglich besuchen, Felix, er taucht immer mehr ab. Gestern hat er mich kaum noch erkannt. Versuch doch, Urlaub zu bekommen“ bat Max seinen Neffen,
dem die Tränen in den Augen standen.
„Ja, probiere ich gleich heute“ versprach dieser und wischte sich sein Gesicht ab.
„Wie groß ist deine Zelle eigentlich?“ lenkte Max ihn ab.
„Und machst du außer Sport noch was in deiner Freizeit?“
„Klar, Schach – sagte ich ja schon – und Lesen. Ich lese neuerdings viel. Musik hören… ich habe ein Kofferradio und einen Haufen CDs in der Zelle. Tagsüber bleibt die offen.
Beunruhige dich also nicht, so schlimm ist es nicht. Natürlich ist es draußen schöner, aber ich hatte viel Zeit nachzudenken.“
 
Beide schwiegen. Eigentlich war alles gesagt.
Max wusste, Felix würde Wort halten und Konstantin besuchen. Er hatte getan, was er konnte.
 
Felix zeigte ihm vom Fenster aus noch den Innenhof, den einige Gefangene mit Pflanzen sehr schön gestaltet hatten. Es sah fast so aus wie der Hof im Altenheim.
 
Als Max erschöpft nach Hause kam, setzte er sich an den winzigen Tisch in seinem Zimmer, nahm einen Briefblock und begann seine Liste.
 
Heim oder Zelle.
Was sprach für das Heim?
Die Spalte blieb leer.
Für die Zelle sprach einiges.
Wenn er Glück hatte, jüngere Leute, mit denen er reden konnte.
Was würde es ihm schon ausmachen, wenn „schwere Jungs“ dabei waren? Nichts!
Er wurde ernst genommen – vorerst jedenfalls. Später? Naja, das würde er vielleicht so oder so nicht mehr mitbekommen.
Platzmäßig war kaum ein Unterschied.
Irene würde ihn sicher besuchen kommen – da oder dort.
 
Er brauchte einen Grund, in die Zelle zu kommen und nicht ins Heim. Und zwar bald, solange er noch zurechnungsfähig war.
Einen richtig guten Grund; kein Ladendiebstahl oder so.
Der beste Grund wäre … MORD!
 
Max ging seine Liste zum wiederholten Mal durch.
Es blieb dabei: nur ein Name stand auf seiner zweiten Liste. Nur ein Mensch verdiente es, von ihm „berücksichtigt“ zu werden. LARS!
 
Wann? Sehr bald! Wie? Darüber wollte er schlafen.
‚Ich darf nur nicht zu lange warten‘ lächelte er grimmig, damit ich nicht vergesse, was ich vorhabe.
 
Er schlief gut in dieser Nacht.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.03.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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