>Auszug aus einem Buch, das irgendwann geschrieben werden wird<
…Dann sagte ich ihr, dass ich eigentlich noch kurz in den kleinen Tabakladen dort drüben
müsste, bat sie um ein wenig Geduld.
Nach ein paar Metern drehte ich mich um und winkte ihr zu. Sie drohte mir scherzhaft, lä-
chelte dabei und ich lächelte auch und winkte nochmals, wollte schnell wieder bei ihr sein
und war in Gedanken schon in dem kleinen Tabakladen.
Urplötzlich kam der Wagen auf mich zu. Ich hörte das Bremsen, die blockierenden Reifen
auf dem Asphalt, spürte einen furchtbaren, dumpfen Schlag und wurde durch die Luft ge-
schleudert. Glas splitterte und in einer scheinbar verlangsamten Bewegung sah ich, wie sich
der Wagen halb drehte, von mir fortbewegte. Ich fiel hart auf den Strassenasphalt und ver-
lor das Bewusstsein.
Irgendwann war da dieser rhythmische Druck auf meiner Brust, der mich störte, realisierte
langsam, dass meine Jacke geöffnet und mein Hemd aufgerissen war. Eine Stimme befragte
mich, aber meine Lippen formten nur lautlose Worte und es schien, als wäre meine Zunge,
mein Mund vereist.
Mein Körper fühlte keinerlei Schmerzen, aber mir war kalt, sehr kalt. Ich wusste jetzt wieder,
dass ich auf dem Asphalt lag, zu keiner Bewegung fähig. Sonderbar, es beunruhigte mich
nicht. Mich verwirrten nur die umherstehenden Menschen. Ich wollte so nicht gesehen wer-
den. So hilflos.
Auf einmal sah ich sie, ihre vor Schreck weit geöffneten Augen, ihre ungläubigen Blicke, sah
noch, wie sie ihre Hand vor den Mund presste und dann ihre Hände vor ihr Gesicht hielt.
Jemand hatte eine Decke genommen, schirmte mich damit vor neugierigen Blicken ab.
Vorübergehend fiel ich in einen Halbschlaf, dachte, ich wäre zu Hause, läge in meinem Bett
und das ganze wäre eine Täuschung, ich selbst ein unbeteiligter, abseits stehender Beob-
achter eines entsetzlichen Traumes.
Ich hoffte nur, sie würden mich liegen, mich in Ruhe lassen.
Unter meinem Kopf lag jetzt ein weiches Kissen und der Geruch des schmutzigen Asphalts
wurde schwächer. Ich erkannte rotgekleidete Sanitäter, sah aus meinem Blickwinkel nur ei-
nen Teil ihres Handelns, ihrer Bemühungen, die ich in der Benommenheit kaum begriff.
Eine unbestimmte Angst war nun in mir, so bedrohlich, dass sie mein Denken beengte und
ständig nur gleiche Fragen zuließ.
Wer war ich vor meiner Geburt, was würde aus mir werden, würde mich erwarten?
Warum kämpft jedes noch so kleine Lebewesen um sein Leben und wehrt sich gegen das
Sterben? Es musste mehr geben, als nur diese Angst vor dem Tod.
Ich dachte nicht an den Wert des Lebens in diesen kurzen Momenten der gleichbleibenden,
flüchtigen Selbstbefragung, denn ich wollte leben, mich nicht ohne Gegenwehr einer größer
werdenden Müdigkeit überlassen.
Ich wusste von der Unendlichkeit des Kreises, wusste, dass sich Parallelen im Unendlichen
schneiden. Aber sonst? „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Diese einfache Erkenntnis aus der
Antike, sie war noch immer gültig, sie war noch immer wahr für verschwendete, für meine
Sanitäter hatten eine wärmende Decke über mich gelegt, aber Kälte verspürte ich schon
längst nicht mehr.
Die rote Kleidung der Helfer, das waren jetzt tanzende, rote Flecke.
Vor meinen Augen wurde es schwarz.
Es deutete sich an und die Ahnung, dass ich verlieren würde, vergrößerte die Angst, ermög-
lichte auf einmal Wünsche und Phantasien, gegen meine Angst.
-1-
Würden mich gütige Engel in unbeschreiblichem Licht empfangen, oder wären sie nur gnä-
dige Trugbilder in der Agonie?
Nichts würde sein, wer war ich denn schon.
Und dennoch wünschte ich mir eine Macht, eine Allmacht mit Kräften, die sich jenseits mei-
ner begrenzten Vorstellungen befanden, einer Welt, in der ich nicht mehr verletzbar, in der
ich glücklich sein durfte.
Es kam schneller als erwartet. Ich war innerlich vorbereitet und doch nicht vorbereitet. Zu-
sehends fiel ich in einen willenlosen Zustand und nicht die Bilder des vorherigen Lebens in
schneller Folge zogen an mir vorüber, wiesen auf Endgültigkeit hin, es war die alles auslö-
schende Leere in mir.
Augenblicklich wurden sie so unwichtig, die Dinge meines Lebens.
Ein Blick in die Ewigkeit, Liebe ist das Licht? Nein, keine Wiedergeburt.
Meine Gedanken wurden weniger, verloren sich, meine Erinnerungen verblassten und die
Angst war nicht länger mein Feind. Ein dunkles Tuch senkte sich über mich und die Augen
erblindeten.
Und wenn auch meine Augen nichts mehr zu sehen vermochten, so sah ich mich doch nun
selbst in einer tiefen, unendlichen Schwärze.
Ich war allein. Um mich herum war es still geworden.
Ganz still.
Ich hatte meinen Körper verlassen.
Hildesheim, März 2012
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.03.2012.
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