Manfred Bieschke-Behm

Meine Straße und das versteckte Osterei




Mein Name ist Herr Schneider-Kranzglut. Ich bin einer der Mieter aus der Kleinkreuzfeldstraße und wohne im Haus Nr. 16 in der dritten Etage. Meine Wohnung hat einen Balkon. Eigentlich passiert nicht viel in meiner Straße. Es gibt zwei lang gestreckte Häuserzeilen, vor denen sich Hecken befinden. Dann folgen Bürgersteige und dazwischen befindet sich die befahrbare Straße. Ja, und das ist seit Wochen das Problem. Die Fahrbahndecke der Straße ist zu zweidrittel aufgerissen, weil notwendige Kabelerneuerungen durchgeführt werden. Wir Mieter hofften, dass die Arbeiten zu Ostern beendet sein würden, aber das war ein Irrtum. Und nun werden wir damit leben müssen auch zu Ostern in einer unaufgeräumten Straße leben zu müssen. Besonders problematisch ist, dass sich die Baustelle sich um die Ecke hin zur Brückenallee erstreckt und der Zebrastreifen deshalb nicht nutzbar ist. Eigentlich ist der Zebrastreifen gar kein Zebrastreifen mehr, denn, mehr als die Hälfte der Streifen ist wegen der Erdarbeiten verschwunden und der Rest zum Teil mit Bauutensilien vollgestellt. Es ist jetzt schwierig gefahrlos die Straße zu überqueren. Neulich wollte ein Notarztwagen in unsere Straße einfahren. Nur durch vorsichtiges Manövrieren gelang es ihm, endlich zum Einsatzort zu kommen.
Das, und vieles mehr kann ich von meinem Balkon aus beobachten. Gerne beobachte ich das Treiben auf der Straße. Auch vorgestern stand ich auf meinem Balkon und machte eine Beobachtung, die mich irritierte. Zunächst schien alles, wie schon tausendmal beobachtet. Das ältere Ehepaar aus dem Haus Nr.7 ging langsam, entgegengesetzt zur Baustelle, die Straße entlang. Der Mann, der sich nur mithilfe seines Stockes so einigermaßen vorwärts bewegen kann, ließ es zu, dass sich seine Frau bei ihm einhackt. Und so ging das alte Ehepaar gemächlichen Schrittes in Richtung Heilstraße, das ist die Querstraße auf der anderen Seite von der Brückenallee. Plötzlich bleiben Herr und Frau Thierfeldt stehen und ich konnte beobachten, wie der Mann mit seinem Stock im Gebüsch herumstocherte. Als Frau Weinhaupt, die junge Mutter aus Hausnummer 21 mit ihrem Kinderwagen vorbei fuhr, hielt der alte Mann in seinen Aktivitäten inne. Er wollte nicht, dass Frau Weinhaupt seine Handlungen eventuell hinterfragen würde. Gleich, nachdem Frau Weinhaupt mit ihrem Kinderwagen an dem Ehepaar Thierfeldt vorbei gefahren war, passierte es, dass Frau Thierfeldt ihrem Mann zum Gebüsch hin folgte, sich bückte, etwas aus ihrem Einkaufsbeutel nahm, den entnommenen Gegenstand ablegte und anschließend schnell wieder ihre gewohnte Haltung einnahm. Auch Herr Thierfeldt beendete seine für mich fremde Tätigkeit und benahm sich wieder so, wie ich es vom gewohnt war. Was haben diese Handlungen bei der Hecke vor Hausnummer 21 zu bedeuten, frage ich mich und fand keine Antwort.
 
 
Während ich so über meine Frage nachdachte, trat mein Nachbar, Herr Wölki auf seinen Balkon. Unsere Balkone grenzen aneinander, sodass es vorkommt, das jeder auf seinem Balkon steht, wir miteinander reden, gemeinsam beobachten und mitunter auch eine Flasche Bier trinken. Ich erzählte Herrn Wölki von meinen ungewöhnlichen Beobachtungen und erfuhr dabei, dass auch er so seine Beobachtungen gemacht hätte. Er erklärte mir, dass er mir seine Beobachtungen gerne mitteilen würde und ich hoffte, dass er sogleich damit anfangen würde. Aber nein, zunächst erzählte er mir lauter Dinge, die mich im Moment nicht so richtig interessierten. Als es mir zu viel wurde,      erinnerte ich Herrn Wölki daran, dass er mir seine Beobachtungen mitteilen wollte. "Was für Beobachtungen?" fragte Herr Wölki mich verdutzt. "Na die Beobachtungen, die Sie auf der Straße gemacht haben", erinnerte ich Herrn Wölki. Endlich kam er auf den Punkt. Er teilte mir mit, dass er gestern so gegen Mittag beobachtet hatte, wie der kleine Junge aus Nr.17, der eigentlich zum Spielplatz wollte, unseren Streifenpolizisten Herr Steinweich, der gerade dabei war nach Recht und Ordnung zu sehen, aufgeregt ansprach. "Und", fragte ich Herrn Wölki, "worüber haben sie sich unterhalten? Herr Wölki erklärte mir, dass er, aufgrund der Entfernung, natürlich nicht mitbekommen konnte, worüber sich die Zwei unterhalten hatten. Aber merkwürdig war, dass der Junge zusammen mit dem Polizisten, noch während sie miteinander sprachen, schnellen Schrittes in Richtung der Hecke vor dem Haus mit der Nummer 21 liefen. Das ist ja genau die Stelle, an der das alte Ehepaar gestern besonders aktiv war, dachte ich mir, sprach den Gedanken aber nicht aus. "Ja und dann?" fragte ich aufgeregt. "Was passierte dann?" "Ja und dann", sagte mein Nachbar, "dann zeigte der kleine Junge dem Polizisten ganz aufgeregt unter der Hecke ein Nest, in dem sich eine Katze mit ihren drei Jungen befand und zusätzlich ein bunt bemaltes Osterei. Ich schaute Herrn Wölki ungläubig an und sagte: "Ein Osterei in einem Katzennest?" "Ja, wenn ich es Ihnen doch sage", antwortete Herr Wölki etwas ungehalten. "Können Sie mir erklären, wie ein Osterei in ein Katzennest kommt?" wollte Herr Wölki von mir wissen. Ich reagierte mit "Keine Ahnung". "Und ist noch etwas passiert?" wollte ich wissen. "Ja, es ist noch was passiert!" "Ja, was denn?" "Der Polizist nahm das Osterei, kontrollierte es und überließ es anschließend dem kleinen Jungen. Der kleine Junge bedankte sich und lief beglückt mit dem Osterei zum Spielplatz, während sich der Polizist an seiner linke Schläfe kratze, wodurch seine Mütze eine Schieflage bekam. Er fand die Gesamtsituation schon ein bisschen merkwürdig.
Heute Vormittag nun traf ich den alten Mann mit seinem Stock allein ohne seine Ehefrau. "Na heute so alleine unterwegs Herrn Thierfeldt?" "Ja", antwortet der alte Mann mit dem Stock. "Meine Frau ist ein paar Besorgungen zu machen. Wissen Sie, wir haben die Tage ein Nest mit Katze und ihren drei Jungen unter den Büschen entdeckt und da kam mir und meiner Frau die Idee, zusätzlich in das Nest ein Osterei zu legen. Es ist doch kurz vor Ostern und Ostern wird doch gerne nach Ostereiern gesucht. Und wie meine Frau und ich beglückt feststellen konnten, wurde das Ei gefunden und   mitgenommen. Gott-sei-dank nahm der Ostereifinder keines der Jungkatzen mit denn diese brauchen ja noch ihre Mutter. Ja, und weil das Osterei entdeckt und mitgenommen wurde, ist meine Frau dabei ein neues Osterei zu besorgen. Wir werden dieses wieder in das Katzennest legen und hoffen, dass es auch wieder entdeckt wird. Zusätzlich werden wir ein selbst gebasteltes Hinweisschild aufstellen. Auf dem Schild steht: ACHTUNG: In diesem Jahr legt nicht der Osterhase die Eier, sondern die Katze.

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